9punkt - Die Debattenrundschau

Das Gegenteil einer Ideologie

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.07.2017. Deniz Yücel schickt der Welt einen ziemlich frechen Brief aus dem Gefängnis: Die deutsche Wirtschaft wird sich nicht amüsieren. Und die Berliner Zeitung schickt der Stiftung Preußischer Kulturbesitz einen sehr unfreundlichen Geburtstagsgruß zum Sechzigsten. L'Express fährt eine sehr scharfe Attacke gegen Le Monde diplomatique, die ein Dossier ihres Hasses auf Bernard-Henri Lévy online gestellt hat. Identitätspolitik ist eine Erfindung der Reaktion, die in die Linke eingewandert ist, schreibt Kenan Malik in seinem Blog.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.07.2017 finden Sie hier

Europa

Deniz Yücel schickt der Welt heute einen Brief aus dem Gefängnis und stellt ein paar ungemütliche Fragen an die deutsche Wirtschaft, die sich um kurzzeitige türkische Drohgebärden wenig Sorgen gemacht zu haben scheint. Und er macht darauf aufmerksam, "dass sich Staatspräsident Tayyip Erdogan neulich vor einem Verein für Außenhandel damit rühmte, dass die Regierung den Ausnahmezustand dazu nutze, Streiks und Arbeitsniederlegungen zu unterbinden - obwohl gemäß der türkischen Verfassung Notstandsdekrete nur im Zusammenhang mit jenen Dingen verkündet werden dürfen, die zur Ausrufung des Ausnahmezustands geführt haben. Gerne würde man von der deutschen Wirtschaft wissen, ob sie diese Erklärung des türkischen Staatspräsidenten als einladend oder als abschreckend empfindet - und was die Bundesregierung dazu sagt."

Polens Staatspräsident Andrzej Duda hat sein Veto gegen die geplante und heftig umstrittene Justizreform der PiS-Regierung eingelegt. Sie wollte mit der Reform die Justiz weitgehend unter ihre Kontrolle bringen. In der NZZ findet Ivo Mijnssen Dudas Veto mutig und überraschend, "weil Duda bisher nicht als unabhängige Figur in Erscheinung getreten ist. Stattdessen betätigte er sich als Erfüllungsgehilfe der Regierung und seines politischen Ziehvaters Jaroslaw Kaczynski. Er trug mit seiner Weigerung, Urteile des Verfassungsgerichts gesetzeskonform zu veröffentlichen, sogar maßgeblich zur Knebelung der Justiz bei. Dieses Mal entschied er anders: Er warnte in klaren Worten und in Anspielung an die kommunistische Vergangenheit des Landes vor der Einmischung von Ministern in die Arbeit der Richter und einer Spaltung zwischen Gesellschaft und Staat." (Die SZ hat den Vorgängen in Polen eine Seite 3 gewidmet, Zeit online meldet, dass die polnische Regierung an ihrem Vorhaben festhält.)

Nein, Ungarn möchte die EU nicht verlassen, sagt Viktor Orbans Presseminister Zoltan Kovacs im Interview mit  Steffen Dobbert in Zeit online, der ihn ziemlich direkt befragt: "Wir glauben, nach fünfzig Jahren Kommunismus gehören wir zur EU. Deshalb macht Ihre Frage keinen Sinn." Und warum Ungarn dann keine Flüchtlinge aufnimmt? "Weil wir nicht an Migration glauben. Migration ist keine Lösung und nicht gut. Und wir haben das Recht, das zu glauben."
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Kulturpolitik

"Unflexible, allzu hierarchische Strukturen, zu wenig Gesprächskultur, veraltete methodische Ansätze" - nach Bénédicte Savoy findet auch Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung recht harte Worte für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Und das zum 60. Geburtstag! "So gelang es nicht, um 1980 das absehbare Desaster der Museumsneubauten am Kulturforum zu stoppen. Während in Paris am Centre Pompidou gearbeitet wurde, entstand in West-Berlin das bunkerartige Kunstgewerbemuseum. Nach dem Mauerfall wurde stur die seit 1966 geplante Neue Gemäldegalerie am Kulturforum durchgesetzt, nach 2001 der Radikal-Umbau des Pergamonmuseums für das Museum Islamischer Kunst, anstatt alle Sammlungen islamisch geprägter Kulturen genauso wie die ostasiatischen Kulturen im neuen Humboldt-Forum zu vereinigen. Immer gab es Kritiker, immer wurden sie ignoriert im Namen des Sachzwangs bereits beschlossener Pläne."
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Medien

Gestern hat der Prozess gegen die türkische Zeitung Cumhuriyet begonnen. Ali Çelikkan schildert in der taz, wie schmerzhaft sich das für die Journalisten anfühlt - vor allem wegen mangelnder Solidarität: "Die Staatsanwaltschaft behauptet, die Berichterstattung habe sich zugunsten von Gülen-Bewegung und PKK verändert. Regierungsnahe Medien stützen diese Anschuldigungen durch ihre Berichterstattung. Noch trauriger ist, dass einige (Ex-) Mitarbeitende als Zeugen der Anklage ausgesagt haben. Offensichtlich hatten sie Interesse daran, die frei gewordenen Stellen zu besetzen. Die Regierung hatte sich interne Machtkämpfe zunutze gemacht, um unsere Zeitung von innen zu zerlegen."

"Ein wirklich beachtlicher Vorgang", findet Stefan Niggemeier und ist sich tatsächlich mal mit Henryk Broder in der Welt (hier) einig: Der Spiegel hat das Buch "Finis Germania" des Historikers Rolf Peter Sieferle, dem Geschichtsrevisionismus und und Antisemitismus vorgeworfen wird, schlicht und einfach von der Bestseller-Liste gestrichen. Dabei hatte es diese Platzierung nur dem Spiegel-Redakteur Johannes Saltzwedel verdanken, der es auf die Sachbuchbestenliste des NDR manipuliert und damit überhaupt erst in die Diskussion gebrachte hatte. Niggemeier: "Hätte der Spiegel das Buch wenigstens transparent entfernt, wäre ihm Kritik aus der rechten Ecke gewiss gewesen, doch zumindest hätte er sich in vielen anderen Ecken Glaubwürdigkeit bewahrt. So aber untergräbt er diese nicht nur selbst, sondern gießt auch weiteres Öl ins 'Lügenpresse'-Feuer - und verschafft dem Buch einmal mehr Aufmerksamkeit."
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Ideen

Ursprünglich ist Identitätspolitik eine Erfindung der reaktionären Rechten, die auf die universalen Ideale der Aufklärung mit ihrem Partikularismus antworteten, schreibt Kenan Malik in seinem Blog. Aber nach dem Krieg wanderten die Denkfiguren des Kulturalismus in die Linke ein. Besonders prägend sei hier der Kampf der amerikanischen Schwarzen gewesen: "Eingequetscht zwischen einer intensiv rassistischen Gesellschaft auf der einen Seite und einer Linken, denen ihre Bürde so gut wie gleichgültig war, auf der andern Seite, ließen viele schwarze Aktivisten von integrierten Bürgerrechtsorganisationen ab und gründeten eigene schwarze Gruppen. Damit bildeten sie ein Schema für viele andere Gruppen, von Frauen über Native Americans und Muslime bis hin zu Schwulen, die sozialen Wandel durch die Linse ihrer eigenen Kulturen, Ziele und Ideale betrachteten."

In der NZZ wischt der in Zürich Philosophie lehrende Dominique Kuenzle in einem etwas sperrigen Text Kritik an den Gender Studies vom Tisch: Sie seien erstens nicht unwissenschaftlich und zweitens "in vielen Hinsichten das Gegenteil einer Ideologie".

Eine sehr scharfe Attacke fährt Philippe Val, in L'Express gegen die Zeitschrift Le Monde diplomatique, die das Sommerloch überbrücken will, in dem sie sämtliche ihrer Artikel gegen Bernard-Henri Lévy online stellte - ein Monument des Hasses, der schon seit Jahrzehnten dauert. Val erkennt darin ein "rotbraunes" Nachzittern des Hitler-Stalin Paktes: Das erste rote Tuch sei, dass Lévy Jude ist. Und "das zweite rote Tuch: Bernard-Henri Lévy ist ein vermögender Bourgeois. Und hier verbinden sich die Beleidigungen der ausgemachten Antisemiten mit jenen der linken Antizionisten. BHL ist die perfekte Verkörperung dessen, was die beiden großen Ideologien des 20. Jahrhunderts am meisten hassten. Und ohne Unterlass erneuert sich der monströse Pakt der beiden Mörder in immer neuen Formen und wird immer von neuem mit Unterschriften beider Seiten besiegelt. Es geht nicht darum Bernard-Henri Lévy zu kritisieren. Es geht darum, ihn zu vernichten. Es handelt sich nicht um demokratische Debatte, sondern um eine Säuberung." BHL hat selbst auf das Dossier von Le Monde diplo geantwortet - auf englisch bei Project Syndicate.
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Religion

Seyran Ates ist nach der Gründung ihrer Ibn-Ruschd-Goethe-Moschee in Berlin wieder stärker Bedrohungen ausgesetzt, die sie im Gespräch mit Nadja Pastega vom Tages-Anzeiger beschreibt: "Kurz nach der Eröffnung der Moschee haben mich auf der Straße drei muslimische Männer auf der Straße erkannt und angegriffen. Der eine sagte: 'Du bist doch die von dieser liberalen Moschee, wo die Perversen beten, Frauen mit Männern zusammen, Lesben und Schwule, ihr perversen Schweine. Du stirbst bald!' Am selben Tag bekam ich abends einen Anruf, dass ich sterben werde. In den ­sozialen Medien gibt es Hunderte von Einträgen mit Beschimpfungen. Ich habe so viele Morddrohungen erhalten, dass das Landeskriminalamt zu der Einschätzung gelangt ist, mich rund um die Uhr beschützen zu müssen."

So sehr Isolde Charim die Ibn-Ruschd-Moschee in Berlin begrüßt - es stellen sich ihr in ihrer taz-Kolumne grundsätzliche Fragen über die Vernunftfähigkeit von Religion: "Es kann liberale und konservativere Gemeinden geben, offenere oder geschlossenere Communities. Und das macht einen großen Unterschied. Aber eine in ihrem Inneren aufgeklärte, vernünftige, tolerante Religion? In ihren Praktiken ebenso wie in ihren Glaubensinhalten? Es steht zu befürchten, dass der Glutkern aller drei großen monotheistischen Religionen weder Vernunft noch Toleranz ist. Es steht zu befürchten, dass jede Religion in ihrem Innersten nur bedingt reformierbar ist. Religion ist kein Vehikel der Moderne, der Toleranz, der Liberalität."
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Gesellschaft

Im Tagesspiegel ist Caroline Fetscher erstaunt über den laxen Umgang deutscher Behörden mit dem Antisemitismus an Schulen, den eine vom American Jewish Committee (AJC) in Auftrag gegebene Umfrage gerade wieder bestätigt hat. "Unterricht zu Themen wie dem Nahostkonflikt sei an Schulen nahezu unmöglich, hatten die vom AJC befragten Lehrer angegeben. Dem vom AJC initiierten Programm 'Demokratie stärken - aktiv gegen Antisemitismus und Salafismus' hat Berlins Schulsenatorin zugesichert, es würden noch ein paar Schulen darin aufgenommen. Warum nicht alle Schulen, bundesweit? Und warum nicht sofort? Öffentlich-rechtliche Sender könnten in Kooperation mit privaten wie Printmedien einen Themenmonat zum Antisemitismus schaffen, vielleicht sogar einmal ohne relativierende 'Israelkritik' im Beiboot."

Die Ehe für alle kann nur ein erster Schritt sein, meint Jost Müller-Neuhof im Tagesspiegel. Jetzt müssten Eizellspende und Leihmutterschaft legalisiert werden und überhaupt das ganze Konzept von Ehe und Elternschaft auf den Prüfstand. Doch, warnt er, "die öffentliche Emphase und die Mehrheiten, die es für die Homo-Ehe gab, wird es für die Regelung solcher Themen kaum geben. Die rechtliche Ordnung der Familie hat sich noch nicht, wie bei der Ehe, in einer Weise verselbstständigt, dass sie konsequent Gleichstellungsansprüchen unterworfen werden könnte. Hier gilt sie noch etwas, die 'natürliche' Ordnung mit den kleineren oder größeren Ungerechtigkeiten, die sie mit sich bringt. Die Aufweitung der klassischen Ehe muss deshalb auch nicht als zivilisatorischer Fortschritt gefeiert, sondern kann - wertungsfrei - als Wandel begriffen werden."
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