9punkt - Die Debattenrundschau

Im karmischen Geschehen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.11.2021. Während Alexander Lukaschenko an der Grenze zu Polen düstere Bilder produziert, verschärft er die Repression nach innen, berichtet die FAZ - immer drakonischer werden die Strafen. Martin Pollack appelliert im Standard an die EU, die Flüchtlinge aufzunehmen. Auf Twitter boostert  Irmgard Griss' emphatisches Plädoyer für die Vernunft die Widerstandskraft der Geimpften. Die Katholiken waren gar nicht so Nazi, wie Kurt Flasch behauptet, schreibt Hans Maier in der SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.11.2021 finden Sie hier

Europa

Die Bilder von der belarussisch-polnischen Grenze schaffen Alexander Lukaschenko die erwünschte Ablenkung, schreibt Felix Ackermann in der FAZ. Unterdessen verschärft er die Repression nach innen noch, wertet Bilder von Demos mit Gesichtserkennungssoftware aus und verhängt drakonische Strafen: "Jetzt werden vermehrt Einzelurteile in Höhe von fünf oder zwölf Jahren Haft etwa wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung oder wegen Landesverrats gefällt. So wurde der anarchistische Aktivist Mikola Dziadok am 10. November zu fünf Jahren Haft verurteilt, nachdem er in Untersuchungshaft systematisch gefoltert worden war."

Den Flüchtlingen werden von belarussischen Beamten Drahtscheren in die Hand gegeben, und dann wird ihnen gesagt, sich selbst einen Weg zu bahnen, schreibt  Anne Applebaum in einer Atlantic-Reportage: "An diesem Punkt haben sie keinen Ausweg mehr. Sie dürfen nicht zu den offiziellen Grenzkontrollstellen gehen, um Asyl zu beantragen, obwohl einige danach verlangen. Sie dürfen nicht nach Minsk zurückkehren, selbst wenn sie darum betteln, nach Hause zurückkehren zu dürfen. Die belarussischen Grenzbeamten halten ihnen Pistolen ins Gesicht, schlagen sie und sagen ihnen, dass sie keine andere Wahl haben. Und so machen sie sich zu Fuß auf den Weg nach Westen."

Lukaschenkos Erpressungsmanöver würde nicht funktionieren, glaubt Moritz Baumstieger in der SZ, wenn die EU-Mitgliedsstaaten sich endlich auf eine gemeinsame Einwanderungspolitik einigen könnten, "die humanitären Notlagen genauso gerecht wird wie der zu erwartenden Überalterung Europas. Mit klaren Zielen, klaren Regeln, klarem Prozedere. Dass der Klimawandel in sehr naher Zukunft viel mehr Menschen an Europas Grenzen führen wird, als es Lukaschenkos Air Belavia je vermag, wäre allein schon ein ziemlich guter Grund. Ein anderer ist: Noch erbärmlicher als ein Diktator, der immer wieder denselben Erpressungstrick hervorkramt, ist eigentlich nur der, der sich immer wieder mit derselben Masche vorführen lässt." Warum Baumstieger glaubt, die Abgelehnten würden nicht dennoch kommen, sagt er nicht.

Im Standard appelliert der Schriftsteller Martin Pollack an die EU, die Flüchtlinge an der belarussischen-polnischen Grenze aufzunehmen und zitiert die Filmemacherin Agnieszka Holland: "Wenn wir akzeptieren, was an den EU-Außengrenzen passiert, so die polnische Filmemacherin, dann erklären wir uns 'in der Folge damit einverstanden, dass Menschen, die vor dem Tod, dem Hunger, vor Kriegen ums Wasser flüchten, massenhaft getötet werden. Getötet von uns. Von den europäischen Regierungen. (...) Es stellt sich die Frage, welchen Platz wir als Zivilisation, als Menschheit, als Europäer einnehmen, wenn es dazu kommt.'"

Neulich fiel der Europarat mit einer Werbekampagne für das Kopftuch auf, einer der Werbesprüche: "Bringt Freude, akzeptiert den Hidschab" (unser Resümee). Der Europarat hat die Werbung nach Protesten der französischen Regierung zurückgezogen. Jean-Loup Adenor und Hadrien Brachet  haben für Marianne nach den Urhebern der Kampagne recherchiert und sind auf die Organisation "FEMYSO" gestoßen, das "Forum of European Muslim Youth and Student Organizations", das den Muslimbrüdern nahezustehen scheint: "Es ist kein Zufall, dass FEMYSO seine Büros in Brüssel eingerichtet hat. Im September 2003 war FEMYSO Mitorganisator einer Veranstaltung im Europäischen Parlament zum interreligiösen Dialog. Ein Beweis dafür, dass die Zusammenarbeit bis heute anhält: Am 17. November wird die EU-Kommissarin für Gleichstellung, Helena Dalli, eine Delegation des Vereins empfangen."
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Ideen

In der Welt unterhält sich Marie-Luise Goldmann mit der mit der Philosophin Svenja Flaßpöhler über deren neues Buch "Sensibel" sich mit modernen Empfindlichkeiten auseinandersetzt. Ihr geht es darum, "Sensibilität und Widerstandskraft miteinander ringen  zu  lassen,  um  zu  einer dritten Position zu finden", sagt Flaßpöhler und verweist auf den Begriff der Resilienz: "Immunität heißt, man vermeidet immer schon das negative Ereignis. Das tritt gar nicht erst ein. Das ist die Logik der Safe Spaces. Oder auch von totalitären Systemen. Man richtet die Gesellschaft so aus, dass gar nichts mehr passiert. Das Prinzip der Resilienz dagegen ist ein, wenn man so will, demokratisches Prinzip, das mit Krisen, Zumutungen und Schmerzen rechnet. Resilienz nimmt diese Unvermeidbarkeit auf und versucht, daraus eine Stärke zu entwickeln." Und sie erinnert daran, dass Empathie durchaus auch paternalistische Züge haben kann: "Ach, das ist so ein schwacher Mensch, ich muss diese Person schützen. Das ist aber oft eine Art von Kleinmachen und Festschreiben in der Opferperson. Mitgefühl ist noch lange keine Moral."

Auf Zeit online denkt die britische Philosophin Onora O'Neill über Rechte und Pflichten nach. Letzeres scheint aus der Mode gekommen: Sie fragt, warum "die Menschenrechte allein nicht genug sind. Ein wenig verwundert stelle ich fest, dass ich nach Jahrzehnten philosophischen Schreibens noch einmal ein Denken beleben möchte, dem es auch um Pflichten geht. Wir brauchen mehr als eine Theorie der Gerechtigkeit. Natürlich meine ich das nicht, weil ich von Rechten nichts hielte, sondern aus drei anderen Gründen: erstens, weil Menschenrechte eines Gegenparts bedürfen, der die Pflicht hat, sie zu garantieren; zweitens, weil sie nicht jeweils bedingungslos gelten, sondern oft in Konflikt zueinander stehen, daher der Abwägung und eines praktischen Urteils bedürfen; und drittens, weil sie oft aus Gründen eingeschränkt werden, die gar nicht menschenrechtlicher Art sind, wenn etwa das Recht auf Schutz der Privatsphäre seine Grenzen darin findet, dass öffentliche Güter wie Sicherheit und Gesundheit gewahrt werden müssen. Mehr Rechte zu fordern hilft da nicht weiter."

In der NZZ denkt Kaspar Villiger über Rechte und Pflichten an einem konkreten Beispiel nach: Corona. "Es stellen sich berechtigte Fragen: Darf aus ethisch-moralischen Gründen von den Menschen erwartet werden, dass sie sich freiwillig impfen lassen, weil sie sonst nicht nur sich selbst, sondern auch den Mitmenschen, dem Gesundheitswesen und der Wirtschaft schaden? Dürfte oder sollte der Staat angesichts des statistisch nachgewiesenen Nutzens der Impfung und deren relativer Harmlosigkeit sogar eine Impfpflicht einführen? Oder geht der Staat schon mit der milden Form der Zertifikatspflicht zu weit? ... Das Vertrackte bei diesen Fragen ist die Erfahrung, dass es keine Freiheit ohne Regeln gibt."

Wi beginnt und wo endet Theater, fragt der Philosoph Otfried Höffe in einem NZZ-Essay. Nicht auf der Bühne, das steht für ihn fest. "Im Nachspiel kehren wir ins Theater zurück. Das Vorspiel kann man an einem beliebigen Tag der Zeitung entnehmen. Zum Beispiel Anfang November: An der Klimakonferenz in Glasgow machen Demonstranten auf ihre Anliegen aufmerksam, mit phantasievollen Aktionen und Gewändern. Ist das Theater? Oder ist eher der ganze Klimagipfel Theater, da die Anreise Tausender von Delegierten den CO2-Ausstoss kräftig befördern wird und das Ergebnis einmal mehr beschämend mager sein dürfte?"
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Geschichte

Dem Philosophen Kurt Flasch geht es in seinem neuen Buch "Katholische Wegbereiter des Nationalsozialismus" um eine Gruppe hochrangiger Theologen in Münster, die eine intensive Nähe zu den Nazis suchte und später in der Bundesrepublik natürlich ungestört Karriere machen konnte. Er sichtet für das Buch bisher fast unbekannte Quellen. Hier eine Leseprobe als pdf-Dokument. Im Feuilleton-Aufmacher der SZ widerspricht der ehemalige Präsident des Zentralrats der Katholiken und bayerische Kultusminister Hans Maier: Katholische Nazis gab es natürlich, aber Wegbereiter? So würde Maier sie keinesfalls nennen: "Denn die 'Brückenbauer' haben im deutschen Katholizismus allenfalls ein kurzes Rumoren, nicht aber eine dauerhafte Bewegung ausgelöst. Die Gruppe stürzte mit der Entmachtung des Reichsvizekanzlers 1934 in die Bedeutungslosigkeit ab. Ihre Publikationen blieben vereinzelt und nahezu wirkungslos. Richtig und bleibend angemessen urteilten dagegen andere Katholiken, die Flasch auch nennt: Alois Dempf, Dietrich von Hildebrand, Gustav Gundlach, Waldemar Gurian."
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Kulturpolitik

"Es ist bizarr, dass der Bereich, der den Alltag der Bürger am meisten berührt, nicht in einem eigenen Ministerium abgebildet wird", schreibt FAZ-Redakteur Niklas Maak in einem flammenden Appell für ein eigenes Bauministerium, das nicht als fünftes Rad an einem andern Ministerium hängt. Einer der Gründe dafür ist der Klimawandel, denn das Bauen erzeugt sieben Prozent der Klimagase. Auch deshalb will Maak vor der geplanten massiven Bautätigkeit der Ampel-Koalition ein Moratorium und einen Neustart: "Ein Bauministerium müsste für einen wirklichen Neuanfang nicht nur den Verordnungsdschungel lichten. Es müsste auch eine internationale Bauausstellung durchführen, in der die Bürger sehen können, wie man zusammenleben würde, wenn man nicht mehr jeden Tag um neun ins Büro oder um sieben in die Fabrik fahren muss. Eine solche Bauausstellung würde auch den zahlreichen gerade jüngeren Büros, die im verkorksten deutschen Wettbewerbssystem oft schon an den Zulassungsbedingungen scheitern, die Möglichkeit geben, ihre Ideen für einen besseren Städtebau umzusetzen."
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Politik

Der Glasgower Klimagipfel ist zu Ende gegangen.Viele sind vom Abschlusspapier enttäuscht. Susanne Schwarz will in der taz aber nicht schwarzmalen: "Glasgow hat einen Abschlussbeschluss vorgelegt, der erstmals den Finger in die Wunde legt: Die fast 200 Regierungen erklären, dass die Kohlenutzung heruntergefahren werden muss und dass ineffiziente Subventionen in fossile Energieträger auslaufen müssen. Die Formulierungen sind zwar das Ergebnis von Verwässerung. Dennoch: Es ist ein Fortschritt, wenn eine Weltklimakonferenz anerkennt, dass das Problem bei den fossilen Energien liegt, auch wenn diese Erkenntnis eine Selbstverständlichkeit ist."

Bernhard Pötter benennt in seinem taz-Bericht die Bremser: "Fast wäre die Erklärung sogar historisch geworden. Denn bis zum Schluss stand in ihr die Erklärung, die Staaten sollten sich anstrengen, Kohlekraft ebenso auslaufen zu lassen wie ineffiziente Subventionen für fossile Brennstoffe. Fast. Denn in der allerletzten Minute legten China, Indien und Iran ihr Veto ein, obwohl die meisten Länder diesen Schritt vehement gefordert hatten."

Bahnt sich in Äthiopien, im Konflikt der Zentralregierung mit den Tigrayern, ein Genozid an? taz-Redakteur Dominic Johnson findet die Frage berechtigt, denn "um das Schlimmste zu verhindern, darf man nicht warten, bis es eintritt". Als eine der Parallelen benennt er "das Denkmuster, wonach sich doch bloß eine Bevölkerungsmehrheit gegen eine auf Alleinherrschaft strebende Minderheit feudaler Sklavenhalter wehre, es also um Demokratie gehe. Im straff organisierten Ruanda rief der Staat alle jungen Hutu zur Verteidigung des Vaterlandes auf, zur Jagd auf Spione und Verräter in der Nachbarschaft. Im nicht minder straff organisierten Äthiopien wurden zuletzt alle Bürger zur Registrierung ihrer Waffen und zur Selbstverteidigung ihrer Wohnviertel aufgerufen; im Bundestaat Amhara, der an Tigray grenzt, werden Jugendliche in Milizen mit Stöcken und Macheten ausgestattet."
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Gesellschaft

Wir sind alle mehr von Rudolf Steiner beeinflusst, als wir glauben mögen, schreibt Tobias Rapp in einem Spiegel-Essay, und viel Impfskepsis kommt auch aus den zivilisationsfeindlichen Diskursen der Anthroposophie: "Rudolf Steiner glaubte nämlich, dass Krankheiten ihren Sinn im karmischen Geschehen haben. Fieber könnte etwa Kindern helfen, sich in ihrem Körper einzurichten. Wer in früheren Leben, Dinge falsch gemacht habe, müsse sie unter Umständen durch Krankheit wieder ausgleichen - und wer sich impfe, der werde taub für die karmische Botschaft. Daher rührt die Impfskepsis der anthroposophischen Kreise - ihres harten Kerns zumindest. Und wenn sich das verrückt anhört: Das ist es auch."

Dieses Video ist dagegen der Beweis, dass auch Vernunft "viral gehen" kann:


Edo Reents kann es in der FAZ nicht fassen, wie Deutschland die Coronakrise und das Impfen managt: "Als es den Stoff gab, zerbrach man sich, als hätte es darum gleich ein großes Gedränge gegeben, monatelang den Kopf darüber, wer ihn zuerst bekommen sollte, und wehe, jemand drängelte sich vor, scherte aus der schafsgeduldigen Warteschlange aus und kündigte die gesellschaftliche Solidarität auf. Das dürfen nur die Impfverweigerer, deren Befindlichkeiten den gleichen Respekt genießen wie die Leiden der Kranken."

Christian Stöcker kommt in einer Spiegel-online-Kolumne auf eine Umfrage zurück, wonach die Hälfte der Impfgegner AfD und weitere 15 Prozent die "Basis" wählen würden (mehr zu dieser Umfrage hier): "Zwei Drittel der ungeimpften Wählerinnen und Wähler haben ihre Stimmen Parteien gegeben, die die liberale deutsche Demokratie ablehnen. Wir haben es mit Leuten zu tun, die jedes Vertrauen in diesen Staat und seine Institutionen verloren haben. Sicher fehlen in der Umfrage einige, Nichtwähler und Leute ohne deutsche Staatsbürgerschaft zum Beispiel. Aber die Botschaft ist trotzdem erschreckend klar."

Weiteres: In der NZZ staunt Lucien Scherrer, wie leicht man sich heutzutage als Opfer von Verschwörungstheorien inszenieren kann.
Archiv: Gesellschaft