Im Kino

Donut mit rosaroter Glasur

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Sebastian Markt
06.07.2016. Sean Bakers "Tangerine" präsentiert queere Lebensentwürfe, denen die Tatsache, dass sie nicht ganz aufgehen, nichts von ihrer Strahlkraft nimmt. Jon M. Chu erkundet in "Jem and the Holograms" eine im Guten wie im grandios Schrottigen reizgesättigte Welt, durch die sich vier junge Frauen schlagen.


Eine knallgelbe Fläche bildet den Hintergrund, vor dem die Titel von "Tangerine" ("Tangerine L. A." im deutschen Verleihtitel) aufblenden und verschwinden. Man erkennt, auf den zweiten Blick, Kratzer und ein Loch in einer ranzigen Oberfläche. Auf dem Soundtrack klingen ein paar Takte von Toyland an, jenem Lied aus der Jahrhundertwende-Operette "Babes in Toyland", das Doris Day einst für ein Weihnachtsalbum eingesungen hat. (Das Lied wird in Gänze in einer fast transzendenten Szene des Films wiederkehren.) Zwei Paare - schwarzer - Hände schieben sich ins Bild, ein Donut mit rosaroter Glasur und runden Streuseln wird ausgepackt. "Merry Christmas Eve Bitch!" sagt eine Stimme mit Nachdruck aus dem Off. Ein unwiderstehlicher, hypnotischer Sog geht von den ersten Momenten in Sean Bakers jüngstem Film aus, von seinen schillernden Figuren, grellen Dialogen, leuchtenden Bildern, von seinem pulsierenden Soundtrack. Ein Sog, der im Verlauf des einen langen 24. Dezembers, den die Handlung umschreibt, nicht nachlassen wird.

Die beiden Frauen, die an dem Tisch sitzen, sind die Hauptfiguren, Alexandra und Sin-dee a.k.a. Sin-dee-rella, zwei schwarze Transgender-Sexarbeiterinnen in West Hollywood, einem Viertel von einer lebendigen Heruntergekommenheit zwischen Beverly Hills und Hollywood. Sin-dee wurde gerade, am Morgen des Weihnachtsabends, aus einer mehrwöchigen Haft entlassen. Ihrer Freundin Alexandra rutscht beim Wiedersehensplausch heraus, dass Chester, Sin-Dees Zuhälter, mit dem diese sich in einer Beziehung wähnt, in ihrer Abwesenheit etwas mit einer anderen hatte, und stiftet damit Sin-dees Mission für diesen langen Tag: Chester (einmal mehr ein großer Auftritt in einer Nebenrolle für den Larry-Clark- und David-Simon-erfahrenen James Ransone) und besagte Frau finden und konfrontieren. Alexandra wiederum fiebert einem abendlichen Gesangs-Auftritt in einem kleinen Club entgegen, für den sie an das ganze Viertel, Freund*innen und Freier Flyer verteilt. Die beiden bilden als kongeniales Duo mit messerscharfen Stand-up Qualitäten das energetische Epizentrum des Films. Gespielt werden sie von Kitana Kiki Rodriguez und Mya Taylor, zwei Schauspielamateurinnen, die Baker in einem LGBTI-Treffpunkt in West Hollywood kennengelernt hat und deren reale Erfahrungen eine wichtige Grundierung des Drehbuchs wurden. Die dritte zentrale Figur ist Razmik (Karren Karagulian), Immigrant aus Armenien, der seine Familie als Taxifahrer durchbringt, vor der er andere Leidenschaften geheim hält. Brüchige Figuren alle zusammen, deren Wege sich im Laufe des Tages immer wieder kreuzen, bis sie an seinem Ende in dem Donutladen in einem klimaktischen Finale kollidieren. Figuren, auf deren Brüche der Film seine Scheinwerfer richtet, nicht um sie zu kaschieren oder auszustellen, sondern um sie zu würdigen.



"Tangerine" wurde mit einem iPhone gedreht, unter Zuhilfenahme eines anamorphotischen Adapters in voller Breitwandpracht. Vom Smartphone könnte man sagen, dass es in der gegenwärtigen Mediengebrauchskultur gerade wegen seiner Ubiquität als Mittel filmischer Technik nahezu unsichtbar geworden ist. Dem Film dient das weder als Schlüsselloch in einen peripheren sozialen Mikrokosmos (eine Welt von Transgenderprostituierten, Zuhältern, Drogendealern und Hustlern), noch als formaler Gestaltungsüberschuss eines erzählerisch fokussierten Independentfilms. Den Assoziationsraum des Intimen, Veristischen und Voyeuristischen, den die iPhone-Bilder eröffnen, leugnet er weder, noch weidet er ihn aus. "Tangerine" erzählt von vermeintlich kleinen Leben und will dabei unverhohlen großes Kino sein. Seine formalen Entscheidungen, die leuchtend orangegetönten (und vielleicht Titelgebenden) Bilder, die aus einem Smartphone kommen, aber im Kino zuhause sind; die meist von treibenden Trap-Tracks, aber auch mal von Beethoven unterlegten Bewegungs- und Montagesequenzen; der oft von harten Schnitte zusammengehaltene dramaturgische Reigen wechselnder umherschweifender Protagonist*innen: All das wird im Licht der Figuren, von denen er erzählt, sinnfällig. Drei oder vier (queere) Lebensentwürfe, denen die Tatsache, dass keiner von ihnen ganz wird aufgehen dürfen, nichts von ihrer Strahlkraft nimmt.

Eingefaltet in das Skelett eines multiperspektivischen Nachbarschaftsroadmovies entfalten sich die melodramatischen und kathartischen Momente immer wieder in kleinen, präzise ge- und zugleich lustvoll überzeichneten Miniaturen. Wenn ein hastig in der Autowaschanlage vollzogener transaktioneller Geschlechtsverkehr als eine Orgie aus Farben, Bewegungen und Geräuschen erscheint, und dabei von Begehren kündet, die über das Transaktionelle weit hinausweisen. Oder wenn Alexandra im Laufe des Tages in einen handfesten Streit mit einem Freier gerät, eine Streifenpolizistin eingreift und einen Vorschlag zur vermeintlichen Güte unterbreitet: Weil Weihnachten ist, soll man doch einfach getrennter Wege gehen, was immerhin besser wäre als seine Familie anrufen zu müssen, damit sie einem aus dem Arrest abhole. Während der Freier in betretener Scham schweigt, schnaubt Alexandra nur verächtlich: "Familiy..." Oder wenn, nachdem die Frauen schon eine Odyssee hinter sich haben, Alexandra endlich ihren Song singen kann und dabei über sich hinauswächst, Sin-dee für einen Augenblick von transgressiver Zärtlichkeit, von ihrer Rage suspendiert scheint, und für einen Moment sogar noch mit der mittlerweile nicht mehr in bester Verfassung befindlichen Nebenbuhlerin eine Art schicksalsteilende Schwesternschaft möglich scheint.

"Tangerine" nimmt die immer wieder in Widersprüche einlaufenden Sehnsüchte seiner Figuren nach Unabhängigkeit und Zugehörigkeit, nach Familie und Freiheit, nach Besinnung und Rausch, nach Zärtlichkeit und Wut, so ernst, wie er sich gleichzeitg eines Urteils darüber enthält, wie ihnen wohl ihre Einlösung bekommen möge. Die Intimität, die in dem Blick des Films darauf liegt, ist keine der Scham entwundene, sondern eine, die er unter Einsatz aller Mittel zelebriert: exaltiert und mitunter ekstatisch.

Sebastian Markt


Tangerine - USA 2015 - Regie: Sean Baker - Darsteller: Kitana Kiki Rodriguez, Mya Taylor, Karren Karagulian, Mickey O'Hagan, James Ransone, Alla Tumanian - Laufzeit: 88 Minuten.

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Jem ist ein Teeniemädchen, das Popsongs über das Leben einsamer Teeniemädchen schreibt, obwohl sie selbst alles andere als einsam ist, schon weil sie ihn einem in jeder Hinsicht vollgestellten, fast -gemüllten Film unterwegs ist. Aber auch diegetisch: Sie lebt mit ihrer Mutter, einer leiblichen und zwei adoptierten Schwestern unter einem Dach, und sogar wenn sie sich ihre selbstgeschriebenen Popsongs über das Leben einsamer Teeniemädchen selbst vorsingt, wird sie garantiert von einer der anderen belauscht. Außerdem läuft garantiert, wie auch überall sonst im Film, eine Webcam mit. Das Video landet hinterher ebenso garantiert im Internet, wird X-tausendmal geshared, geliked und aufgerufen, kaum einen Tag später steht eine Agentin mit unterschriftsreifem Plattenvertrag auf der Matte. Gesignt wird nicht nur die Sängerin, sondern die ganze Schwesternbande; gemeinsam sind sie "Jem and the Holograms", die neue Teeniepop-Socialmedia-Sensation.

"Jem and the Holograms" ist als einer von sehr wenigen Mainstreamfilmen der letzten Jahre fast durchweg weiblich dominiert. Der Vater ist verstorben und funkt lediglich ab und zu (als, tja, Hologramm) in die Handlung hinein, Ryan Guzman bleibt in einer Nebenrolle reines eye candy. Wie stellt sich der Film einen Frauenhaushalt vor? Am Anfang hängen die vier Mädels in einem verkramten Wohnzimmer ab. Alle tragen leicht barock anmutende Flohmarkt-, bzw Trashboutiquenoutfits und bunte, extravagante Frisuren. Sie beginnen, sich über irgendeine Kleinigkeit zu streiten, bewerfen sich bald gegenseitig mit Kleidern… und gerade, als die Sache zu eskalieren beginnt, betritt die Mutter die Wohnung, weißt die Teenies zurecht: "Hit a C-Note!" Nach kurzem Widerstand gehorchen die Angesprochenen: Alle vier summen ein hohes C, im Anschluss singen sie im Kanon eine süßliche Melodie, vertragen sich dabei sofort wieder und verschwinden bald in ihrer Garage, wo sie sich noch extravagantere Perücken aufsetzen, zu Musikinstrumenten greifen und aber mal so richtig losrocken.

In diesem Sinne ist die erste Szene wie der Rest des Films: Ein Triumph der Ästhetik über alle Wahrscheinlichkeiten. Wobei man leider ab und an schon dazu sagen muss: Nicht jede Ästhethik hat solchen Triumph verdient. Dass bei den musikalischen Bemühungen der was Optik, Marketing und Bühnenshow angeht so vielseitigen Band doch immer nur dieselben schrecklich kraftlosen, nicht einmal besonders eingängigen Teeniepoptunes mit steriler Gitarren und Synthie-Percussionunterfütterung herauskommen, ist das größte und vielleicht einzig echte Problem dieses ansonsten auf sympathische Art beknackten Films.



Eines Films, der zwar weitgehend sinnfrei zusammenkonstruiert ist und der stilistisch alles andere als kohärent wirkt; der sich zwar bei seinen Versuchen, sich an eine jugendliche Zielgruppe heranzuwanzen, die er mit gutem Recht eher in Social-Media-Sphären als im Kino vermutet, in einem fort lächerlich macht, weil er der irrigen Annahme ist, reine Gebrauchstechnologien wie Facebook oder Twitter seien Attraktionen eigenen Rechts; der außerdem nur zum Beispiel auf die ganz besonders dämliche Idee kommt, einen Roboter auftauchen zu lassen, dessen Name zwar "Synergy" ausgesprochen, aber "51N3RG.Y" ausgeschrieben wird - vermutlich, weil die Drehbuchautoren der Meinung sind, dass es per se hip ist, Buchstaben durch Zahlen zu ersetzen, egal wie bescheuert das Ergebnis schriftbildlich ausschaut; der aber bei alldem einen lebendigeren Eindruck macht als die meisten anderen neuen Filme, die ich in diesem Jahr gesehen habe.

Lebendigkeit hat nichts mit Realismus zu tun, und schon gar nichts mit Fragen des guten Geschmacks. Oft ist im Kino der krude, grellbunt glitzernde, potentiell genmanipulierte, schwerwiegend schönheitschirurgisch bearbeitete (Molly Ringwald!) Plastikmainstream um einiges lebendiger als der organische Ganzheit behauptende, sich aber in der Tat luftdicht gegen - audiovisuelle, ideologische, soziale - Verunreinigungen verschließende Autorenfilm. Die äußerst lebendige Filmographie von Jon M. Chu, des Regisseurs von "Jem and the Holograms", entfaltet sich zum Beispiel in einem Kraftfeld zwischen Justin Bieber (für den er gleich zwei Konzertfilme inszenierte), stereoskopischen Tanzfilmen im exaltiertesten Mtv-Look (die "Step Up"-Serie) und Plastikspielzeug ("G.I. Joe: Retaliation"). Im Idealfall entsteht dabei ein naives, hochgradig artifizielles Spektakelkino, dessen ästhetischen Prämissen eine wunderschöne Szene seines wahrscheinlich besten Films "Step Up 3D" auf den Punkt bringt: Zwei Teenies blasen ihr giftig blubberndes Zuckergetränk durch Strohhalme über dem Gebläse eines Lüftungsschachts aus - und erfreuen sich anschließend selbst am Anblick der bonbonbunten Blasen, die gen Himmel aufsteigen.

"Jem and the Holograms" (der seinerseits auf einer Zeichentrickserie der 1980er basiert) erreicht solche Höhen nur selten. Am ehesten noch in einer Szene am Santa Monica Pier, in dem ein neonfarben leuchtendes Riesenrad den Pazifischen Ozean in ein synthetisch flirrendes Lichtermeer verwandelt. Wichtiger sind diesmal die Energien, die nebenbei freigesetzt werden: wie die Hauptfiguren (abgesehen von einer angestrengt überdrehten Juliette Lewis als Agentin ist die Besetzung durchweg grandios) sich gegenseitig triezen und trösten, wie sie mal komplett unkontrolliert durchs Bild hüpfen, mal gemeinsam gebannt auf einen Laptopbildschirm starren, sich andauernd neue, lustige Kleider anziehen. In erster Linie ist "Jem and the Holograms" ein Film über vier junge Frauen, die jede Menge Spaß dabei haben, sich durch eine zwar weitgehend sinnentleerte, aber dafür im Guten wie im grandios Schrottigen reizgesättigte Welt zu bewegen.

Lukas Foerster


Jem and the Holograms - USA 2015 - Regie: Jon M. Chu - Darsteller: Aubrey Peeples, Stefanie Scott, Aurora Perrineau, Hayley Kiyoko, Molly Ringwald, Juliette Lewis, Ryan Guzman - Laufzeit: 118 Minuten.

"Jem and the Holograms" hat noch keinen deutschen Starttermin.