9punkt - Die Debattenrundschau

Zur Illustration der Erbsünde

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.06.2017. Der Tagesspiegel veröffentlicht das Plädoyer des türkischen Autors Ahmet Altan, dem wegen angeblicher Beteiligung am Putschversuch eine lebenslange Haftstrafe droht.  Netzpolitik entschwärzt die geheimen Abschnitte im Abschlussbericht des Geheimdienstausschusses, den Constanze Kurz für die FAZ sehr kritisch liest. Seymour Hersh sieht in der Welt nicht Baschar al-Assad als Schuldigen des Giftgasangriffs von Chan Scheichun. Bellingcat antwortet mit einer Gegenrecherche. Laut Telepolis macht sich die Bundesregierung Sorgen über "Islamkritik".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.06.2017 finden Sie hier

Europa

In der Türkei steht der Journalist und Schriftsteller Ahmet Altan vor Gericht. Ihm, seinem Bruder Mehmet und der Journalistin und Ex-Politikerin Nazli Ilicak droht  wegen angeblicher Beteiligung am Putschversuch im Juli 2016 eine lebenslange Haftstrafe. Der Tagesspiegel hat sein Plädoyer übersetzt, das eine offene Kritik an der Instrumentalisierung der Justiz durch die Regierung ist: "Der Staatsanwalt kommt immer zu demselben Schluss: 'Kritik an Erdogan bedeutet Mittäterschaft beim Putsch.' Dazu sage ich: 'Nein!' Die Kritik an einem Politiker ist keine Teilnahme an einem Staatsstreich. Erdogan ist ein Politiker, der in den vergangenen fünf Jahren viel zu viele Fehler gemacht hat. Natürlich wird er dafür kritisiert. Das Ergebnis seiner Politik ist, dass das Land vor unseren Augen kollabiert. Was sollen wir kritisieren, wenn wir das nicht kritisieren dürfen?"

In der taz erzählt Ali Celikkan die Geschichte der deutschen Journalisten Mesale Tolu, die in der Türkei ebenfalls inhaftiert ist. Im Interview mit der FAS erzählt der türkische Schriftsteller Barbaros Altuğ von der jungen türkischen Generation, in der viele am liebsten emigrieren würden: Die Exilanten von 1980 "wussten, dass der Moment der Rückkehr kommen wird. Diesmal zieht man fort, um sich woanders ein ganz neues Leben aufzubauen."

Über einen nicht weniger absurden Prozess auf der Krim berichtet Simone Brunner auf Zeit online: Es geht um das Verfahren gegen den Krimtataren Achtem Tschijgos, der nicht mal vor Gericht auftreten darf, sondern per Videoanruf aus dem Gefängnis zugeschaltet wird. Die Anklage lautet auf "Aufruf zu Massenunruhen": "Das Verfahren führt ins Herz der Ereignisse rund um die Krim: Die 'Causa 26. Februar', jener Tag vor mehr als drei Jahren, als sich in Simferopol Tausende Krimtataren und prorussische Aktivisten im Zentrum von Simferopol gegenüberstanden. Wenige Tage nach dem Maidan, der Revolution in Kiew. Bei Zusammenstößen zwischen den beiden Gruppen sollen zwei Personen gestorben sein. Doch während weitere fünf Krimtataren in der Causa verfolgt werden, bleiben die Teilnehmer der prorussischen Demonstration unbehelligt. Einer von ihnen, Sergej Aksjonow, ist heute sogar Premier der Halbinsel."
Archiv: Europa

Überwachung

Gut, dass es Netzpolitik gibt. Heute meldet Andre Meister: "Nach drei Jahren Geheimdienst-Untersuchungsausschuss gibt es jetzt eine offizielle Version des Abschlussdokuments. Darin sind weite Textteile geschwärzt - aber nur oberflächlich. Wir konnten die meisten Schwärzungen rückgängig machen und veröffentlichen eine ungeschwärzte Version des Dokuments." Netzpolitik veröffentlicht das Dokument, das der Souverän nicht lesen können sollte, als html-Dokument und ind pdf-Form, außerdem als pdf-Dokument mit kenntlich gemachten ehemaligen Schwärzungen.

Constanze Kurz liest diesen Bericht für die FAZ sehr kritisch: "Snowdens Enthüllungen hätten hierzulande Anlass sein können, über die Transformation unserer digitalen Kommunikation in ein geheimdienstliches Datenreservoir neu nachzudenken. Neben den Überwachungsfragen ist es dringend nötig, die Angriffe der Staatshacker zu beleuchten. Angesichts der digitalen Waffenschränke der Geheimdienste, deren Türen halb offen stehen, müsste man endlich ehrlich über die Sicherheit unserer Geräte und Netze sprechen. Doch das ist nicht in Sicht."

In Britannien werden derzeit 30 Millionen Haushalte mit intelligenten Zählern für den Strom- und Gasverbrauch ausgestattet. In Frankreich, wo dasselbe geschieht, hat sich bereits eine Protestbewegung entwickelt, die befürchtet, die Zähler seien der jüngste Angriff auf die Privatsphäre der Bürger, erklärt Patrick Collinson im Guardian: "Lawyer Arnaud Durand claims smart meters pose health and privacy issues. He calls them a 'Trojan horse' that could harvest vast amounts of data about our activities. Even rudimentary information has commercial value. 'For example, a telemarketing company will know if it's a good moment to call your house.' In Britain, privacy campaigners share their fears. Guy Herbert of NO2ID says: 'Smart meters are presented as an environmental and power-saving initiative. But it's a highly surveillant model. It can tell how many showers you have had, when you are cooking, when you are in and out of the home.'"

In Mexiko wurden die Smartphones von Journalisten und Aktivisten ausspioniert, berichtet Matthias Rüb auf faz.net. Die Regierung weist jede Verantwortung von sich, aber überzeugend sei das nicht: Nach Ansicht des kanadischen Forschungsinstitut Citizen Lab "handelte es sich dabei um das Spähprogramm Pegasus, das von dem israelischen Cyberunternehmen NSO entwickelt wurde und vertrieben wird. NSO versichert, seine Produkte nur an Regierungen und staatliche Institutionen zur Bekämpfung von terroristischen Organisationen und von Verbrecherkartellen zu verkaufen. Es kann als gesichert gelten, dass verschiedene mexikanische Bundesbehörden zum Kundenkreis von NSO gehören und über das Spähprogramm Pegasus verfügen".
Archiv: Überwachung

Ideen

In der NZZ denkt Klaus Bartels über Mitmenschlichkeit nach wie sie in der Antike definiert wurde. Und Rene Scheu gratuliert Peter Sloterdijk zum Siebzigsten. In der SZ gratuliert Johan Schloemann. In der FAZ schreibt Christian Geyer. Online zugänglich jetzt Slavoj Zizeks Geburtstagsartikel in der Zeit.
Archiv: Ideen

Politik

Als große Sensation präsentiert Stefan Aust in der Welt am Sonntag einen Artikel des bekannten Investigativ-Reporters Seymour Hersh über Donald Trumps Gegenschlag gegen den Giftgasangriff  von Chan Scheichun in Syrien, den Hersh aber anders als die meisten Medien nicht Baschar al-Assad, sondern den Rebellen zuschreibt. Im englischen Original ist der Artikel hier zu lesen. Amerikanische Sicherheitsoffiziere hätten versucht, Donald Trump von der Idee abzubringen, dass Baschar al-Assad der Täter sei. "Aber zum Missfallen der meisten wichtigen Berater in seinem nationalen Sicherheitsteam, konnte Trump trotz intensiven Briefings nicht von seiner Meinung abgebracht werden. In einer Reihe von Gesprächen erfuhr ich von der totalen Entfremdung zwischen dem Präsidenten und vielen seiner Militärberater und Geheimdienstleute und Offizieren vor Ort, die eine ganz andere Meinung über den syrischen Angriff auf Chan Scheichun hatten."

Sehr skeptisch und ausführlich gegenprüfend reagiert auf bellingcat.com Eliot Higgins, der darauf hinweist, dass Hersh bereits 2013 in zwei Artikeln der LRB den syrischen Diktator von den Giftgasangriffen freizusprechen suchte (unsere Resümees hier und hier): "Diese Behauptung zerfiel nach gründlicher Überprüfung (hier Higgins' damaliger Artikel, d.Red.), ließ einen Großteil des Beweismaterials zu den Angriffen, die Komplikationen bei Produktion und Transport von Sarin und klar bewiesene Fakten außer Acht. In Hershs neuestem Artikel wiederholt sich dieses Muster."

Weitere Gegenrecherchen zu Hershs Syrien-Theorien gab es in vox.com (hier) und in der Los Angeles Review of Books (hier)

In der NZZ beschreibt der kolumbianische Autor Hector Abad, wie die Länder Lateinamerikas auf Donald Trump reagieren. Rechte wie linke Regierungen kommen ganz gut mit ihm aus, meint er: "In mancher Hinsicht ähnelt Trump einem Peronisten wie Kirchner oder einem Politiker wie Ortega, der seine ganze Familie in der Regierung beschäftigt und private und staatliche Geschäfte vermischt. Die Sympathie, die Maduro und die Chaves-Anhänger Führergestalten wie Putin oder Erdogan entgegenbringen, präsentiert ihnen den unvorhersehbaren Trump in gar nicht so schlechtem Licht ... Am problematischsten ist es für die gemäßigten Länder, die versuchen, wirtschaftliche und politische Modelle zu verfolgen, die den freien Handel und die Demokratie respektieren."

Außerdem: Joseph Croitoru schreibt in der FAZ über die Zerstörung der Al-Nuri-Moschee durch den IS in Mossul.
Archiv: Politik

Gesellschaft

Elke Halefeldt liest für Telepolis den Aktionsplan "Aktionsplan gegen Rassismus" (NAP), den die Bundesregierung unter Federführung von Familienministerin Katarina Barley (SPD) am 14. Juni vorstellte (hier als pdf-Dokument). Hier findet auch der Begriff der "Islamophobie" oder Islamfeindlichkeit Eingang. "Die Schlüsselbegriffe, überwiegend der Rechtsradikalismus-Forschung entliehen, sind sicherlich im jeweiligen Einzelfall konkretisierungsbedürftig... Nur: Welche Einstellungen und Handlungen belegen diese Feindlichkeit ganz konkret? Zum Teil, behauptet der NAP gar, 'erfolgt Islam- und Muslimfeindlichkeit über eine Umwegkommunikation der sogenannten 'Islamkritik', die häufig mit dem Eintreten für Meinungsfreiheit ... legitimiert wird'. Es gibt nach dieser Lesart also echte und unechte Kritik."

Im Freitag empört sich Antisemitismusforscher Wolfgang Benz über den Dokumentarfilm "Auserwählt und ausgegrenzt", der den Antisemitismus gewissermaßen nur zum Vorwand nehme, Muslime zu diskriminieren: "Populisten und verantwortungslose Demagogen versuchen der Welt einzureden, alle Gläubigen einer Religion, des Islam, seien aus dem einen Grund suspekt - weil sie Muslime sind. Und der Iran sei ein für alle Mal der Schurkenstaat. Intoleranz wird propagiert, weil man sich schützen müsse, weil die Religion des Islam aggressiv sei und eigentlich keine Religion, sondern eine politische Bewegung, die seit Jahrhunderten gegen 'den Westen' agiere und Europa, das christliche Abendland, zu dominieren drohe. Dass die Hysterie, die sich 'Islamkritik' nennt, auch Publizisten wie Politiker ergriffen hat, sich politisch gar als Partei formiert, gehört zu den alarmierenden Entwicklungen unserer Tage."

Große Sorgen machte sich Patrick Bahners am Freitag im politischen Teil der FAZ (und jetzt online) nach der Ausstrahlung des Films "Auserwählt und ausgegrenzt"! in der ARD um das "A-Wort" in der deutschen Öffentlichkeit: "Um Israel und Palästina tobt auch in Deutschland ein Meinungskampf. Es gibt die Kirchentagsaktivisten, denen zur Illustration der Erbsünde nur Juden einfallen. Und es gibt die Lobbyisten Israels. Wer mit diesem Begriff Leute beschreibt, welche die Verteidigung der israelischen Politik zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben, zieht sich aber den Vorwurf des Antisemitismus zu." Interessant liest sich zu Bahners' Artikel der Kommentar des Perlentaucher-Lesers abhs.

Gabriele Goettle erzählt in ihrer monatlichen großen taz-Reportage die Geschichte der Grafikdesignerin Katja Clos, die im wunderschönen Kreuzberger Max-Taut-Haus arbeitet - und nun als eines der vielen Opfer Kreuzberger Gentrification ausziehen soll.
Archiv: Gesellschaft