Efeu - Die Kulturrundschau

Impulse industrieller Niedlichkeit

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15.03.2019. Die Welt erkundet den Post-Cyberfeminismus in einer Bakterienschale. Die NZZ badet in Farben. Die SZ würde lieber keinen Lorbeerkranz auf dem Haupt des antisemitischen Schriftstellers Kornél Döbrentei sehen. Der Antisemitismus Theodor Fontanes war kaum weniger ausgeprägt, wenn auch widersprüchlicher, notiert die Welt. Hannelore Schlaffer beklagt in der Stuttgarter Zeitung das Genuschel auf deutschen Bühnen. Pitchfork liegt der japanischen Bubblegumpop-Band Chai zu Füßen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.03.2019 finden Sie hier

Kunst

Mary Maggic, Housewives Making Drugs, 2017, video still. Courtesy the artist


Ob wir den "Cyberfeminismus" wirklich brauchen, dem derzeit eine Ausstellung im Zürcher Migros Museum für Gegenwartskunst gewidmet ist, wagt Hans-Joachim Müller in der Welt nicht abschließend zu beantworten. Zumal die meisten Künstlerinnen sehr jung sind: "Post-Internet. Und die zutreffende Beschreibung will da nicht immer so recht gelingen. Anicka Yi zum Beispiel. Ihre Forschungsansätze im Bereich Genetik und Biotechnologie, die zu 'hybriden Symbiosen' führen, sind ganz sicher bemerkenswert. Aus Hautabstrichen von exakt hundert Frauen hat sie sich ein 'kollektives Bakterium' züchten lassen, das sich im Inneren bunter Quarantäne-Zelte vermehren soll. Ob es das tut, lässt sich so ohne bakteriologischen Fachnachweis nicht überprüfen. Der Blick in die Schüsseln mit farbkräftigen Brühen ist nur eingeschränkt möglich. Und so genau will man es ja auch nicht wissen. Aber es ist sehr bunt."

Roman Signer, Kugel mit blauer Farbe, 2012 Shanghai Biennale


In der NZZ denkt Angelika Affentranger-Kirchrath anlässlich der Ausstellung "of Color" im Zürcher Helmhaus über Farben-Sehen und Farben-Wahrnehmen nach: "Auf Anregung der Künstlerin Lynne Kouassi wurde die Farbe des Bodens, der hier die Besucher seit 2004 mit seinem irisierenden Weiß blendet, durch eine dezente Lilatönung ersetzt. ... Die Räume wirken wie neu, und entsprechend schärfen sie die Sinne für die Umgebung. So rücken etwa die pinkfarbenen Säulen im Treppenhaus wieder in unser Blickfeld. ... Als Cat Tuong Nguyen sie 2015 pink anmalte, verstand er seine Aktion nicht als dekorative Geste. Aus Vietnam stammend, spielte er mit der Leuchtfarbe auf die Kriegszeit in seiner Heimat an. Damals markierten die Amerikaner gewisse Punkte auf der Landkarte als 'pink ville', in der Annahme, dass es sich dabei um Brutstätten der Vietcong handeln könnte. Spätestens hier zeigt sich, dass Farbe nicht einfach sich selber bedeutet, dass man behutsam mit ihr umgehen und sie bewusst einsetzen und deuten muss."

Besprochen werden außerdem eine Retrospektive der türkischen Künstlerin Nil Yalter im Kölner Museum Ludwig (taz), eine Ausstellung des 1992 verstorbenen amerikanischen Künstlers David Wojnarowicz in den Berliner Kunst-Werken (Tagesspiegel) und eine Ausstellung von Druckgrafiken der amerikanischen Künstlerin Kiki Smith in Münchens Graphischer Sammlung (FAZ).
Archiv: Kunst

Film

Das Äußere als Ereignis: Nicole Kidman in "Destroyer"

In Karyn Kusamas Cop-Thriller "Destroyer" haben die Filmkritiker nur Augen für Nicole Kidman, die sich hier mal nicht als marmorne Schönheit, sondern als traumatisierte Polizistin auf Rachefeldzug und also völlig runtergerockt präsentiert. Der Film "ist wie besessen vom zerschundenen Körper seiner Protagonistin", schreibt Michael Kienzl auf critic.de, "und er macht es sich zur Aufgabe, dem Trauma nachzuspüren, das diesen Verfallsprozess in Gang gesetzt hat." In der FR kontextualisiert Daniel Kothenschulte Kidmans Auftreten mit den mutmaßlichen Botox-Exzessen der Schauspielerin in den letzten Jahren: Das Projekt des vorliegenden Films ist die Zertrümmerung der "Ikone Nicole Kidman. Mit einem zerfurchten Gesicht ist sie auch in der ersten Großaufnahme kaum mehr zu erkennen. Aber ist es nicht noch schwieriger, gegen eine solche Maske anzuspielen als mit möglicherweise gelähmten Gesichtsnerven zu agieren?"

Weitere Artikel: Medienredakteur Christian Meier erklärt in der Welt, wie RTL sich mit neuen Serienproduktionen gegenüber Netflix und Amazon wappnen will. Besprochen werden Marcus H. Rosenmüllers Biopic "Trautman" (SZ, Tagesspiegel, Berliner Zeitung), Heinrich Breloers heute auf Arte ausgestrahlter "Brecht"-Zweiteiler (Zeit), Muayad Alayans "Der Fall Sarah und Saleem" (Tagesspiegel), Malgorzata Szumowskas "Die Maske" (Tagesspiegel, mehr dazu hier), Xavier Giannolis "Die Erscheinung" (Standard) und der neue Asterix-Animationsfilm (Welt).
Archiv: Film

Literatur

Dass Viktor Orbán soeben Kornél Döbrentei mit dem Lorbeerkranz der Republik Ungarn würdigen ließ, hält Wilhelm Droste in der SZ für eine "wahrscheinlich ganz bewusst kalkulierte politische Provokation": Seit seiner antisemitischen Rede im Jahr 2004 gilt der Lyriker vielen im literarischen Ungarn als "rotes Tuch, für eine Minderheit ist er ein christlich nationaler Märtyrer im Kampf gegen den kosmopolitisch verseuchten Weltgeist. Die Mehrheit der Preisträger wird ihren Lorbeerkranz nun ratlos und unglücklich anschauen. Er verbindet sie jetzt erneut mit einem, den sie meiden. In Ungarn schwinden Tag für Tag die letzten Refugien, die von einer geltungssüchtigen Politik bislang verschont geblieben sind."

In einem langen Text in der Welt über Theodor Fontane im Lichte der Politik seiner Zeit kommt Wolf Lepenies auch auf den widersprüchlichen, sicch "im Alltag erschreckend beiläufig" manifestierenden Antisemitismus des in diesem Jahr gefeierten Schriftstellers zu sprechen. "Wann immer er von einer Mittags- oder Abendgesellschaft berichtet, hebt Fontane hervor, wie unsympathisch ihm die anwesenden Juden waren - und fügt hinzu, dass ihn der christliche Rest der Gesellschaft noch mehr anwiderte. ... Er klagt, Berlin sei eine Judenstadt - und dankt Gott dafür, 'dem Berliner Judentum in die Hände gefallen zu sein'. Er behauptet, der germanische Geist sei dem jüdischen überlegen - und zieht die 'feinen Juden' jedem Germanen vor."

Weitere Artikel: Roman Bucheli amüsiert sich in der NZZ über die Forschungswut der Celan-Exegeten, die unbedingt herausfinden wollen, wer das "Hannele" ist, dem der Dichter 1951 einige (jüngst aufgetauchte) Briefe geschrieben hat. Paul Jandl denkt in der NZZ über die Herausforderungen nach, die sich dem Literaturarchiv in Marbach stellen, das künftig auch Computerspiele sammeln will.

Besprochen werden unter anderem Saša Stanišićs "Herkunft" (Zeit), Isabelle Lehns "Frühlingserwachen" (Freitag), Gunther Geltingers "Benzin" (FR) und Albrecht Selges "Fliegen" (SZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Im Interview mit monopol spricht der belgische Choreograf Damien Jalet über seine Stücke, Schwerkraft, Rituale und die Pariser Anschläge im November 2015, die er knapp überlebte: "Ich hatte zuvor an einem Stück 'Les Médusés' gearbeitet und ein Buch von Pascal Quignard gelesen: 'Sexualität und Schrecken'. Er spricht viel über Medusa. Etre médusé bedeutet auf Französisch verhext sein. Deshalb wählte ich den Titel. Ich stand zwei Meter neben dem Schützen und blickte auf seine Kalaschnikow. Ich fühlte mich in diesem Moment wie eingefroren. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ich hatte für einen Moment die Intuition, den Bann zu brechen. Wegzurennen. Es musste aber in den nächsten Sekunden passieren. Weil der Kerl schon so viele Leute vor mir getötet hat. Ich war der Nächste. Intuition hat mich gerettet. Ich löste mich von der Starre. Es war ein Wendepunkt in meinem Leben. Das Thema meines nächsten Stückes war: Wenn du dich nicht bewegst, stirbst du."

In der Stuttgarter Zeitung beklagt Hannelore Schlaffer die schlechte Artikulation auf deutschen Bühnen. Das liege oft auch an der neuen Bühnensprache, die "nämlich ist absolut untheatralisch und will auch so sein. Wie anders wäre es zu erklären, dass ein Regisseur nicht einschreitet, wenn Grillparzers Jamben gehetzt genuschelt werden? Verse zu sprechen, ist eben nicht mehr üblich, die saloppe Artikulation soll sie wie Prosa klingen lassen. Warum aber werden selbst Prosatexte moderner Dramen nicht deutlich artikuliert?"

Weitere Artikel: Helmut Ploebst unterhält sich für den Standard mit dem Tänzer Mikhail Baryshnikov, der in Wien Gedichte von Joseph Brodsky interpretiert, über Brodsky, Heimat und russische Kultur. Ulrich Ameling war für den Tagesspiegel dabei, als das Berliner Staatsballett sein neues Programm präsentierte. Die Berliner Staatsoper präsentierte ihre Saisonvorschau dagegen nicht wie gewohnt vor der Presse, sondern nur im Internet, meldet Frederik Hanssen. Jan Brachmann hört für die FAZ neue Opern von Donnacha Dennehy, Micha Hamel, John Adams und György Kurtág  beim Opera Forward Festival in Amsterdam.

Besprochen werden die von Claus Peymann und Leander Haußmann (der vom schwer erkrankten Peymann übernahm) inszenierte Ionesco-Farce "Die Stühle" am Wiener Akademietheater (hier werde "aus einem Abend, an dem alle Register der Schauspielkunst gezogen werden, ein kleiner Triumph des Peymann'schen Poesie-, Fantasie- und Theatertheaters", freut sich Stephan Hilpold im Standard, "So durchsäkularisiert und ausgenüchtert, wie diese Inszenierung daherkommt, gibt es keinen Platz für ein wundersames Zeichen", klagt Simon Strauss in der FAZ, SZ), Anne Jelena Schultes Stück "Hotel der Immigranten" mit dem Kollektiv Capriconnection in Zürich (nachtkritik), die von Wolfgang Mitterer ergänzte Humperdinck-Kinderoper "Schneewittchen" an der Staatsoper Unter den Linden Berlin (nmz), Brigitte Fassbaenders Inszenierung der Strauss-Oper "Frau ohne Schatten" in Kiel (nmz) und der Dokumentarfilm "Lampenfieber" über Proben im Friedrichstadt-Palast (Berliner Zeitung).
Archiv: Bühne

Architektur

Geschirrteile des Porzellanservice Form 639. Foto: Geolina 163 / Wikipedia


Wer wissen will, wie weitreichend das Bauhaus Gestaltung im Alltag beeinflusst hat, dem empfiehlt Alexander Menden in der SZ wärmstens die Ausstellung "Mut. Die Provinz und das Bauhaus" im Fagus-Werk Alsfeld: "Gropius' Karosserie-Entwürfe für die Frankfurter Adlerwerke aus den späten Zwanzigerjahren sind hier ebenso zu sehen wie das Firmenlogo, das er gleich mit umgestaltete. Während Frankfurt wohl kaum als echte Provinz durchgeht, sind die zeitlosen Designs Wilhelm Wagenfelds für die Firma Fürstenberg ein Paradebeispiel für das Zusammenwirken des Bauhauses mit einem regionalen Mittelstandsunternehmen. Wagenfelds 'Service 639' von 1934 wird bis heute in der südniedersächsischen Porzellanmanufaktur produziert. Und im unweit gelegenen Lauenförde stellt die Firma Tecta ihre Bauhaus-Reeditionen her."

Fortschritte in der Werkstofftechnik sind schön und gut, denkt sich Oliver Herwig in der NZZ. Aber sie haben ihren Preis: "Wer hier keinen Überblick behält, schaut am Ende der Pipeline, in der Recyclinganlage, buchstäblich in die Röhre. Und wer nicht sortenrein trennen kann, hat ein Problem nicht nur mit der Umwelt, sondern auch mit einer Wirtschaft, die zunehmend auf Kreislaufprozesse setzt. Von so viel Aufbruch blieb die Bauindustrie lange unberührt. Nach wie vor wurde recht rustikal gebaut, Stein auf Stein, Dachlatte auf Dachlatte. Das ist vorbei: Material gibt es nicht mehr im Singular. Es herrscht Vielfalt, dank Wärmedämmverbundsystemen und immer neuen Hybriden, die nicht mehr verschraubt und gedübelt, verschweisst und genagelt werden, sondern dauerhaft verklebt. Da entstehen Verbindungen, die man nur schwer trennen kann und die womöglich irgendwann geschreddert auf der Sondermülldeponie landen."
Archiv: Architektur

Musik

Ziemlich beeindruckt ist Pitchfork-Kritikerin Sophie Kemp von der fast schon aggressiv guten Laune der japanischen Bubblegumpop-Band Chai, die auf ihrem neuen Album "Punk" Hedonismus und feministisches Empowerment aufs Euphorischste zusammenrühren: "Die vergnüglich vollgestopften 30 Minuten des Albums lassen kaum Raum, um Luft zu schnappen. 'Great Job' etwa erinnert an einen 'Dance Dance Revolution'-Song, wie man ihn in den am grellsten beleuchteten Vorort-Videospiel-Hallen hören würde. Triumphale Töne einer Kasino-Spielmaschine blitzen auf, die Synthesizer imitieren den Klang von Autohupen, während der Gesang die Innereien des Stücks umsummt wie ein Schwarm Bienen, der ein Gewächshaus bestäubt. 'Fashionista' arbeitet sich wie ein Presslufthammer durch neon-leuchtende Gitarrenspuren, während das Stück ziemlich ernst auf die kapitalistischen Impulse industrieller Niedlichkeit zu sprechen kommt." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Der Freitag hat Miguel Szymanskis Porträt des Celli-Restaurators Thibaut Dumas aus dem letzten Herbst online nachgereicht. Dieter Bohlens Modern-Talking-Comeback treibt den Standard-Glossisten Christian Schachinger schier in die Verzweiflung.

Besprochen werden das neue Album "Trust in the Lifeforce of the Deep Mystery" des Londoner Jazztrios The Comet Is Coming (taz), das neue Matmos-Album (taz), das neue Solange-Album (Standard), eine Aufführung von Beethovens Streichquartett in a-moll durch das Belcea-Quartett (SZ), der von Frank Schäfer herausgebrachte Band "Hear 'Em All. Heavy Metal für die eiserne Insel" (NZZ), Anouar Brahems Konzert im Pierre-Boulez-Saal (Tagesspiegel), John Mayalls Auftritt in Berlin (Tagesspiegel) und ein Konzert des Pianisten Jewgenij Kissin in Wien (Standard).
Archiv: Musik