Efeu - Die Kulturrundschau

Kunst UND Kompetenz

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.03.2018. Die SZ reist nach Rumänien, dem Gastland der Leipziger Buchmesse. In der nachtkritik erklärten die Dortmunder Theatermachern Kay Voges und Alexander Kerlin, wie sie in einer neuen Akademie Theater und digitales Knowhow zusammenführen wollen. Die NZZ spaziert gut gelaunt durch das frisch renovierte Zürcher Museum für Gestaltung. LensCulture stellt den Fotografen Eddo Hartmann vor, der gerade für seine Fotos aus Nordkorea ausgezeichnet wurde. Die taz hört kapitalistische Feedbackschleifen in den Memories of Cindy.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.03.2018 finden Sie hier

Kunst


Der Fotograf Eddo Hartmann in Nordkorea

Viel Bewegungsspielraum hatte der niederländische Fotograf Eddo Hartmann nicht während seiner vier offiziellen Besuche in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang, schreibt Jim Casper auf LensCulture, aber das Ergebnis ist preiswürdig: "Auch wenn seine Projekte beschränkt waren durch Regierungszensoren und 'Führer', die ihn überall hin begleiteten - und oft durch seinen Sucher guckten, bevor sie ihm erlaubten, ein Bild zu machen - entwickelte Hartmann eine Strategie, die es ihm erlaubte, verschiedene detaillierte Ansichten von Fassaden und 'Inszenierungen' des öffentlichen Lebens einzufangen. Die Bilder zeigen im Ergebnis die Befangenheit und Isolation, die man in Straßen, Parks und Gebäuden fühlt, die hundertprozentig von einem autoritären Regime kontrolliert werden. Hartmann ermutigt den Betrachter seiner großformatigen Stadtaufnahmen und Innenarchitekturen dazu, alle Details in den Bildern Aufmerksamkeit zu schenken - jede Kleinigkeit zu sehen, aber auch zu bemerken, was nicht zu sehen ist."

Weitere Artikel: F.W. Bernstein zum Achtzigsten gratulieren Eckhard Henscheid in der taz, Gregor Dotzauer im Tagesspiegel und Andreas Platthaus in der FAZ.

Besprochen werden eine Ausstellung in der Liebermann-Villa am Wannsee zur Geschichte des Reformgartens (Tagesspiegel), Eduardo Paolozzis Ausstellung "Lots of Pictures - Lots of Fun" in der Berlinischen Galerie (taz) und eine Ausstellung des Malers Bernhard Kretzschmar in der Dresdner Städtischen Galerie (FAZ).
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Stichwörter: Hartmann, Eddo, Nordkorea

Literatur

Tim Neshitov ist für die SZ nach Rumänien gereist, das Gastland der kommenden Leipziger Buchmesse. Die Literatur dort beginnt erst zögerlich sich mit der Geschichte des Antisemitismus zu befassen, stellt er fest, als er den Schriftsteller Catalin Mihuleac besucht: Der hat vor vier Jahren mit seinem Roman "Oxenberg & Bernstein" ein längst vergessenes Pogrom wieder in Erinnerung geholt - bislang habe man in Rumänien schlicht Hitler für alle toten Juden verantwortlich gemacht. Mihuleac, schreibt Neshitov, "ist ein Unruhiger. Einer, der tigert, der seine Küche längst aufgegeben hat und kaum noch Sport macht. Ein Schriftsteller, der auf den Durchbruch wartet. ... Ein Herr vom Geheimdienst habe ihn im Café angesprochen, noch während er am Buch schrieb (die Vorschau des Verlags war schon raus): Ob er denn wirklich über ein so heikles Thema schreiben möchte? Ganz freundlich, Hand auf die Schulter." Über die rumänische Literatur im Spiegel politischer Debatten des Landes hat außerdem Jörg Plath ein Feature für den Deutschlandfunk Kultur erstellt.

"Ein Autor, der nicht spricht, findet nicht statt", schreibt Hauke Hückstädt, Leiter des Literaturhauses Frankfurt, im literarischen Wochenendessay der FAZ. Denn es hat sich inzwischen ein Publikum herausgebildet, das auf Tuchfühlung mit Literaten geht - ob nun bei Lesungen oder online. Dieses kritische Publikum entwickelt längst Ansprüche: "Gebt euch Mühe, seid zugewandt! Autoren unterschätzen ihre öffentliche Rolle. Das ist ein eingeschliffener Diminutiv. Sie tun als Tour-Lesende, was getan werden muss. Sie tun es oft 'ganz okay', seltener exzellent, meistens so gut sie es gerade können oder dürfen. Aber genau so spielt das Fürstentum Liechtenstein auf europäischer Ebene Fußball. ... Die Erwartungen an Autoren und ihr Werk sind künftig in keiner Weise mehr abgekoppelt von denen an ihre öffentliche Performanz."

Weitere Artikel: Verleger Jo Lendle fällt im Freitext-Blog auf ZeitOnline aufs Vergnüglichste aus allen Wolken, als er im Magazin der Bahn ein grotesk machohaftes Interview mit dem Schauspieler Henning Baum liest: "What. The. Baum. Henning, altes Haus, alter Schwede, alter Mann." Der hiesige Literaturbetrieb fremdelt noch mit der drängenden Frage des Klimawandels, lautet Martin Zähringers Befund in der NZZ: Autoren wie Kim Stanley Robinson, die sich seit Jahren mit den klimatischen Umwälzungen befassen, versanden hierzulande im Science-Fiction-Getto - im anglo-amerikanischen Sprachraum ist indessen längst die Rede von "Climate-Fiction". Für die Literarische Welt besucht Richard Kämmerlings die Schweizer Schriftstellerin Noëlle Revaz. In der NZZ schreibt der Schriftsteller Alain Claude Sulzer über die Bilder in seiner Wohnung. In der taz gratuliert Martin Reichert der Schriftstellerin Gudrun Pausewang zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Miriam Mandelkows Neuübersetzung von James Baldwins Debütroman "Von dieser Welt" (Welt), Dave Zeltsermans Thriller "Small Crimes" (Tagesspiegel), der Briefwechsel zwischen Joseph Breitbach und Jean Schlumberger (Literarische Welt), Lucy Frickes "Töchter" (taz), Michel Ruges "Große Freiheit Mitte" (Literarische Welt), Anne Hartmanns "Ich kam, ich sah, ich werde schreiben. Lion Feuchtwanger in Moskau 1937" (Tagesspiegel), Peter Bognannis "Mein Leben oder Ein Haufen unvollkommener Momente" (Tagesspiegel), Pia Tafdrups Lyrikband "Tarkowskis Pferde" (Tagesspiegel) und Jörg Magenaus "Bestseller. Bücher die wir liebten - und was sie über uns verraten" (ZeitOnline).
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Design



NZZ-Kritikerin Antje Stahl spaziert gut gelaunt durch das frisch renovierte Museum für Gestaltung in Zürich: "Das furchtbare Zwischengeschoss ist verschwunden, sogar das einstige Farbkonzept hat sich wieder durchgesetzt. Die Eröffnungsausstellung nutzt das alles herrlich schamlos aus: Wolkenblüten aus japanischem Washi-Papier hängen von der Hallendecke, mitten im Raum stehen minimalistische Holzbäume, deren schlanke Äste einem zuwinken, dahinter scheinen hölzerne Hüte vietnamesischer Reisbauern in der Luft zu schweben. Man fühlt sich wie in einem kinetischen Freilufttheater der Moderne. Es zwitschern sogar Vögel."
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Bühne

Das Theater Dortmund plant eine Akademie für Theater und Digitalität. Hier sollen Bühnenmitarbeiter mit Fortbildungen "fit" gemacht werden fürs digitale Zeitalter, erklären im Gespräch mit Esther Slevogt von der nachtkritik die Initiatoren der neuen Akademie, der Dortmunder Intendant Kay Voges und der Dramaturg Alexander Kerlin. Außerdem gibt es ein Forschungsprogramm zum Thema und irgendwann soll auch ein technisch-künstlerischer Masterstudiengang angeboten werden. Kerlin: "Ich glaube, dass man die Technologie nicht nur aus der geisteswissenschaftlichen Perspektive verhandeln oder reflexhaft kritisieren sollte, sondern sie zu sich heranholen muss. Gerade wir Dramaturgen, die meist relativ wenig technisches Wissen haben, können von einem angewandten Verständnis der Technologie aus neu Denken lernen und andere künstlerische Impulse geben. Im Diskurs über Technologie im Theater nimmt man gerne eine strikte Trennung vor: hier die Technikverliebten, dort die Totalskeptiker. Aber das ist nicht haltbar. Die Auseinandersetzung kann erst beginnen, wenn man keine dieser Haltungen akzeptiert bzw. die beiden Haltungen als produktiven Konflikt versteht." Voges: "Aus der Synthese kann dann vielleicht Kunst UND Kompetenz entstehen."

Besprochen werden Christopher Hamptons Adaption von "All about Eve" an den Wiener Kammerspielen ("Herbert Föttingers Inszenierung befriedigt dank imposanter Pelzkreationen aus den Werkstätten der Josefstadt (Kostüme: Birgit Hutter) Hollywoodfantasien", versichert Margarete Affenzeller im Standard), Heinrich Marschners Oper "Hans Heiling" am Aalto-Theater Essen (nmz), Saskia Hölblings Choreografie "things" im Wiener Semperdepot (Standard), Choreografien beim Berliner Tanzfestival "Dance on" (Berliner Zeitung), Auftritte von Maria Campos und Guy Nader mit ihrer Company bei der Heidelberger Tanzbiennale (FR) und Sam Shepards "Fool for Love" in den Frankfurter Landungsbrücken (FR).
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Film

In der Nacht von Sonntag auf Montag werden in Los Angeles die Oscars verliehen. Diesmal steht die Gala ganz im Zeichen von #MeToo und dem damit einhergehenden Strukturwandel Hollywoos. Erste Konsequenz: "Erstmals seit 1990 befindet sich keine Weinstein-Produktion unter den Nominierten", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. Und weiter: "Noch nie waren unter den besten Filmen so viele Geschichten vertreten, die aus einer weiblichen Perspektive erzählt werden. ... Im Jahr nach dem Überraschungserfolg von 'Moonlight' hat sich in Hollywood tatsächlich etwas getan." Was Hanns-Georg Rodek in der Welt verblüffenderweise anders sieht: "Die Anstrengungen der Filmindustrie zu einer Reinigung haben erst begonnen, und die wichtigste Veranstaltung des Jahres muss neben einem Mea Culpa auch eine neue Haltung dokumentieren. Sieht man sich die Nominierungslisten an, sticht kein Film heraus, der sich für ein Statement anbieten würde. ... Die Filme werden kommen, mit der industrieüblichen ein- bis zweijährigen Verzögerung, aber in diesem Jahr ist selbst in den Nebenkategorien nichts zu entdecken, wofür eine beschämte Industrie im Reuemodus stimmen könnte."

Chancen ausrechnen darf sich Regisseurin und Schauspielerin Greta Gerwig, deren Film "Lady Bird" in zahlreichen wichtigen Kategorien nominiert ist und mit der sich David Steinitz in der SZ unter anderem über Tolstoi-Zitate unterhalten hat, sowie die Kamerafrau Rachel Morrison, die für ihre Arbeit am Netflix-Drama "Mudbound" als erste Frau überhaupt für die beste Kamera nominiert ist - "ein Meilenstein für Frauen im Film", schreibt Pamela Hutchinson in einem Artikel, den der Freitag vom Guardian übernommen hat. Auf ZeitOnline stellt Christian Spiller Bryan Fogels Doping-Dokumentarfilm "Icarus" vor, der für einen Oscar nominiert ist.

Weiteres: Für die FR hat Arno Widmann eine Berliner Veranstaltung zu Ehren des Drehbuchautors Wolfgang Kohlhaase besucht. Und Klaus Lemke lädt auch weiter munter seine raren, kaum greifbaren Filme aus den 70ern auf Youtube hoch: Jetzt hat er seinen Liebesfilm "Sylvie" mit dem Fotomodell Sylvie Winter ins Netz gestellt:


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Musik

Die NZZ hat den Blues: Christoph Wagner erklärt unter Rückgriff auf eine neue Studie, dass die Wurzeln des Blues nicht im Klischeebild des durch die USA reisenden schwarzen Hobos mit der Gitarre liegen, sondern in den Vaudeville-Theatern um 1900, zu deren Shows das afro-amerikanische Publikum zahlreich erschien: "Neben Stimmenimitatoren, Bauchrednern, Akrobaten und exzentrischen Tänzern traten auch sogenannte 'coon shouters' auf." Deren "Nummern bestanden aus ein paar Klavierstücken, die mit Witzen, Parodien und Sketchen zusammengebunden wurden. Gespickt mit deftigen sexuellen Andeutungen war etwa Butler 'String Beans' Mays Act für die weißen Presseleute in den größeren Städten eine Zielscheibe der Kritik: String Beans wurde als zu vulgär und nicht 'sauber' genug gebrandmarkt, was wohl der Grund war, warum ihn das schwarze Vaudeville-Publikum geradezu vergötterte." Ueli Bernays rollt außerdem die Debatten unter anderem darüber auf, ob Weiße tatsächlich Blues spielen können. Und Stefan Hentz spürt dem Blues-Einfluss auf den heutigen Jazz nach.

Bei dem Konzept-Album "Memories of Cindy" des House-Produzenzten Palmbomen handelt es sich um eine "wirklich tolle hauntologische Angelegenheit", versichert Steffen Greiner in der taz: Der Künstler orientiert sich dabei an Sound und Bildwelten des Massenmedien-Schrotts der 90er: Entsprechend "liegt die Ästhetik dieses Jahrzehnts wie ein dichter Schleier" über der Musik, aber es gehe "auch um die Wiederentdeckung von verdrängten Aspekten dieser Vergangenheit. ... Palmbomen sucht in den Gespenstern des Materials die Spuren, die der Glaube an eine lebenswerte Zukunft kurz vor deren Aufkündigung in nie endende kapitalistische Feedbackschleifen noch hineingebrannt hat." Hier ein mit Fake-Werbspots durchsetztes, schauderhaft schönes Video, das dieses Konzept bebildert:



Weitere Artikel: Frederik Hanssen spricht im Tagesspiegel mit Intendant Ole Baekhoej über ein Jahr Pierre-Boulez-Saal in Berlin. Andreas Fanizadeh schreibt in der taz zum Tod des Trikont-Records-Betreibers Achim Bergmann. Wolfgang Sandner trauert in der FAZ um den Dirigenten Jesús López Cobos.

Besprochen werden ein Schubert- und Strauß-Abend der Berliner Philharmoniker (Tagesspiegel), Joan Baez' Abschiedsalbum "Whistle Down the Wind" (FR) und Nikolaus Harnoncourts Memoiren "Wir sich eine Entdeckergemeinschaft" (FAZ). Und zum Wochenende öffnet Thomas Meinecke im Logbuch Suhrkamp wieder die Pforten seiner "Clip//Schule ohne Worte."
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