9punkt - Die Debattenrundschau

Umgeben von unwirklichen Bildern

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.07.2017. Nicht mal mehr Fotos lassen sich verschicken: China hat schärfste Internetzensur eingerichtet um zu verhindern, dass Bilder von Liu Xiaobo kursieren, heißt es bei Quartz.com. Die FAZ ruft auf, sich mit der Kunst seiner Frau, Liu Xia, auseinanderzusetzen. Scharf protestiert die katalanische Filmemacherin Isabel Coixet in El Pais gegen die Kaperung der katalanischen Öffentlichkeit durch die Separatisten. In der Zeit streiten Herta Müller und Włodzimierz Borodziej über den Rechtspopulismus in Osteuropa.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.07.2017 finden Sie hier

Politik

Liu Xiaobo ist tot. Aber er lässt sich nicht totschweigen. Dieses Foto des Dissidenten Mo Zhixu, auf das Tieri Briet in einem Blogbeitrag hinweist, zeigt das Gegenüber des offiziellen Fotos mit den paar trauernden Angehörigen Lius an seinem Sarg: eine ganze Kompanie von Geheimdienstleuten, die die Zeremonie überwachen.


Die ohnehin scharfe Internetzensur hat sich in China in den letzten Tagen nochmals verschärft - so sehr, dass es am Ende kaum mehr möglich war, Fotos per Handy zu versenden, schreibt Zehping Huang bei Quartz.com: "Eines der symbolischsten Bilder aus Lius letzten Tagen zeigt ihn Arm in Arm mit seiner Frau Liu Xia im Krankenhaus. Das Foto zirkulierte weithin über Twitter, als die Menschen um Liu trauerten, und China möchte sicherstellen, dass seine Bürger es nicht sehen."


Liu Xia, die Witwe Liu Xiaobos, ist verschwunden. Niemand kann sie erreichen, auch gute Freunde nicht, berichtet Mark Siemons in der FAZ. Seit Jahren unter Hausarrest, verbreitet die chinesische Regierung ihr Bild nur zu Propagandazwecken. Das sollte man nicht einfach so hinnehmen, meint Siemons: "Damit sie selbst wieder sichtbar wird, muss man sich mit ihrer Kunst befassen, vor allem mit den Gedichten und Fotografien. In vielen erscheint die klaustrophobische Situation in ihrer Wohnung als Spiegel von etwas Innerem. 'Ich bin umgeben von unwirklichen Bildern', heißt es in einem Gedicht, das in der 2015 in den Vereinigten Staaten erschienenen Anthologie 'Empty Chairs' steht: 'Sonderbare Schatten sind überall / Und überall sind Fallen / Ich bin nicht länger der Besitzer dieses Raums / Ich bin geplündert worden.'"
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Europa

Nachdem der ehemalige antifranquistische Protestsänger Lluis Llach, eine Art katalanischer Konstantin Wecker, mittlerweile jedoch Abgeordneter der Separatistengruppierung Junts pel Sí, vor kurzem den katalanischen Beamten öffentlich unverhohlen mit Bestrafung gedroht hatte, sollten sie sich dem für den 1. Oktober 2017 geplanten Unabhängigkeitsreferendum widersetzen - "sie sollten sich das gut überlegen… viele von ihnen werden leiden" -, hat nun die bekannte katalanische Filmemacherin Isabel Coixet in der spanischen Tageszeitung El Pais kritisch zu dem Vorhaben Stellung bezogen: "Schon seit langem pflegt und fördert man hier in Katalonien die Verachtung anderer Gebiete des spanischen Staates. Es ist ein bisschen, als wären wir wieder Kinder auf dem Schulhof: Der da ist doof, und der da drüben ist ein Faulenzer. Statt zu diskutieren, wie das Leben der Bürger verbessert werden könnte, ist die Rede von einem mythischen versprochenen Land, das unweigerlich nur durch die 'Loslösung' von Spanien zu erlangen sein soll, wovon wir acht Millionen Katalanen, glaubt man den Separatisten, seit unserer frühesten Kindheit träumen... Wer die Unabhängigkeit nicht für die beste aller Ideen hält, wird sofort als Faschist, von der Zentralregierung gekauft und mit ähnlich hübschen Formulierungen abqualifiziert... Ein einseitig ausgerufenes Referendum ohne Mindestteilnahmequote und nachvollziehbare Kontrolle, bei dem die Hälfte plus ein Prozent genügen soll, um die Unabhängigkeit zu erklären? Nein, danke."

Ohne allzuviel Interesse bei der westlichen Öffentlichkeit auszulösen, haben prorussische Separatisten einen Staat namens "Kleinrussland" ausgerufen, konstatiert Richard Herzinger in der Welt, der Wladimir Putin als Ursprung dieser Aktivitäten ansieht: "Mittlerweile bauen seine Statthalter im Donbass ihre pseudostaatlichen Parallelstrukturen weiter aus. Diese aber sind offen verbrecherisch. Soeben wurde publik, dass die Machthaber in Donezk und Luhansk Gulag-ähnliche Arbeitslager unterhalten."

Ist der Rechtspopulismus in Osteuropa eine Folge der Diktatur? Über diese Frage sind in der Zeit der polnische Historiker Włodzimierz Borodziej und die deutsch-rumänische Schriftstellerin Herta Müller geteilter Meinung. "Der Ostblock ist doch bereits vor 28 Jah­ren zusammengebrochen. Die Ausländerfeindlichkeit muss ganz andere Gründe haben", glaubt Borodziej. Ihn überrascht vor allem, dass die deutliche Verbesserung der Lebensverhältnisse in Osteuropa die Demokratie nicht stabilisiert hat. Herta Müller überrascht das hingegen gar nicht. "Fremdenfeindlichkeit im Osten ist doch ein Kontinuum, die wurde aus dem Sozialismus mitgeschleppt." In Rumänien, erzählt sie, gab es kaum Ausländer, nur ein paar reiche arabische Studenten, die heftig beneidet wurden. "Man sprach von ihnen wie über Wilde, die Krankheiten einschleppen. Die Einstellung war: Die nehmen uns noch das wenige, was wir haben. Ich wurde oft verhört. Die Geheimdienstler haben Anschuldigungen erfunden. Es wurde behauptet, ich prostituierte mich mit acht arabischen Studenten, die mich mit Kosmetika und Strumpfhosen bezahlten. Prostitution war ohnehin verboten. Also hätten auch acht Rumänen gereicht, um mich ins Gefängnis zu stecken. Aber es mussten Araber sein, das gab den verklemmten Funktionären den besonderen Kick. In diesem Rassismus waren sich Bevölkerung und Staat einig."
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Ideen

Rechts, links, mitte - sind doch alles alte Hüte, winkt Jens Bisky in der SZ ab, "Verfassungsschutzfolklore", die den Überwachungsstaat stärken soll. Dass es gerade die Beteiligten selbst sind, die auf diesen Etiketten bestehen, erwähnt er nicht. In der Zeit nimmt Thomas Assheuer erstaunt zur Kenntnis, wieviel Verständnis linke Gewalt in den letzten Tagen ernten konnte und hält fest: "Gewalt in demokratischen Verhältnissen immer nur eins: einen ­ Mangel an Fantasie."
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Stichwörter: Überwachungsstaat

Medien

Nicht nur die SZ (unser Resümee), auch andere Zeitungen waren in letzter Zeit voll mit gut bezahlten Glamouranzeigen und Beilagen für die Türkei, berichtet Silke Burmester in der taz und kommentiert nicht sehr freundlich: "Die Absicht der ehrwürdigen Verlage, mit dem Dreck der Despoten Geld zu machen und ihren Lesern Märchen aus dem Morgenland zuzumuten, dürfte bei vielen nicht gut ankommen. Bei der Zeit war zudem der Zeitpunkt ein überraschender. Die Werbung lag eine Woche vor dem Interview mit Präsident Erdogan bei. Ein Umstand mit Geschmäckle."

Etwas wolkig liest sich ein bei Spiegel online veröffentlichtes manifestartiges Papier der Plattform Vocer, das eine Veränderung der Öffentlichkeit nach dem Modell der Energiewende propagiert. Nebenbei wird festgestellt: "Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, gibt es kein Geschäftsmodell für nachhaltigen Journalismus. Deshalb sollten Medienmacher offen sein für neue Geldquellen und aktiv danach suchen - bei den Öffentlich-Rechtlichen, bei staatlichen Stellen, bei Philanthropen und selbst bei Google und Facebook. Ja, diese Form der Finanzierung kann die redaktionelle Unabhängigkeit gefährden, aber wenn man ehrlich ist, gibt es uneingeschränkte redaktionelle Unabhängigkeit schon lange nicht mehr (wenn es sie denn überhaupt jemals gab). "

Jens Schröder präsentiert bei Meedia die neuesten IVW-Zahlen. Die FAZ liegt noch bei einer Auflage von 206.000 aus Abo und Einzelverkauf, die SZ bei 299.000. Die Bild, die mal eine Auflage von fünf Millionen hatte, liegt bei 1.600.000.
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Religion

Ab und zu liest man mal einen Protest gegen die Bevorzugung der Kirchen in Deutschland - meist ohne das ein Hund hinter dem Ofen hervorgelockt wird. Heute schreibt der Rechtsanwalt Thomas Heinrichs in der taz: "Nicht nur im Arbeitsrecht haben Konfessionsfreie erhebliche Nachteile. Immer noch gibt es vielerorts in Deutschland ein Quasimonopol der Kirchen bei Kindergärten, Krankenhäusern und Sozialeinrichtungen, so dass Konfessionsfreie in kirchliche Sozial- und Erziehungseinrichtungen gehen müssen.  Nach wie vor werden Staatsakte mit religiösen Ritualen begangen, während ein stets größer werdender Teil der Bevölkerung dazu keinen Bezug mehr hat. Kirchenvertreter sitzen in den Rundfunkräten und Kirchen haben Sendezeiten in den öffentlichen Medien. Immer noch werden die Kirchen in hohem Maße staatlich subventioniert, indem zum Beispiel in vielen Bundesländern die Gehälter der Bischöfe vom Staat bezahlt werden. Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen."
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Gesellschaft

Warum muss eigentlich erst das American Jewish Committee kommen, um eine Umfrage unter Berliner Lehrern und Lehrerinnen durchzuführen, wie es mit Antisemitismus und zunehmendem religiösen Druck an den Schulen steht? Gemeinsam mit dem Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg hat es 27 LehrerInnen an 21 Berliner Schulen in acht Bezirken befragt. Nicht nur über Antisemitismus kam einiges zutage, berichtet Anna Klöpper in der taz: "So berichten die befragten Lehrer von einem 'steigenden Druck auf Schüler durch Mitschüler, auch innerhalb der Schule streng religiöse Verhaltensweisen zu befolgen'. Im Hintergrund stünden dabei häufig konservative Moscheevereine, die die Kinder und Jugendlichen beeinflussten. Insbesondere Mädchen würden von diesen 'Moralwächtern' unter Druck gesetzt: LehrerInnen berichten über Schülerinnen, die infolge eines zunehmenden Gruppendrucks in der Klasse plötzlich ein Kopftuch trugen. 'Westlich' gekleidete Mädchen würden als 'Schlampe' und 'Hure' beschimpft."

Timo Lehmann hat sich in der SZ mit der "selbsternannten 'Polittunte'" Patsy l'Amour laLove über Sprechverbote und Ehe für alle unterhalten. Der selbsternannte Journalist gibt dabei den Verteidiger queerer Theorien, die Patsy l'Amour laLove vehement ablehnt. Warum etwa sollen nicht auch Heterosexuelle über Homosexualität sprechen dürfen? "Niemand kann hundertprozentig nachvollziehen, was in dem Kopf des anderen vorgeht oder was ein anderer gefühlt hat während einer Erfahrung. Aber wenn wir glauben, Heterosexuelle können die Situation von Homosexuellen überhaupt nicht nachvollziehen, dann müssten wir das mit dem Sprechen auch ganz sein lassen. Dann muss man das zu Ende denken, und niemand könnte den anderen verstehen."

Was bringt es, in einem Land wie dem Iran aufzutreten? Unterstützt man damit das Regime, oder eher einzelne Mutige? Christine Lemke-Matwey begleitet für die Zeit Riccardo Muti, der dort im Rahmen der Initiative "Roads of Friendship" mit iranischen und italienischen Musikern Verdi dirigiert. Doch, meint sie, es kommt auch gutes dabei heraus. Beim Konzert platzt ihr dann aber doch der Kragen: "Dieses Programm, das nur Männer-Arien und Männer-Duette kennt, um das Gesangsverbot für Frauen zu umgehen, ist eine Frechheit. Weil es ins Bild bannt, was sein soll, und nicht, was sein könnte. Bei Verdi springt einem das Umstürzlerische, das Utopische förmlich aus jeder Note entgegen. Dieses Programm aber gehorcht der Staatsräson: Der Mann stehe vorne und führe, die Frau sitze massenweise dahinter und diene! An ­ Verdi, an so überlebensgroßen Frauengestalten wie Gilda, Violetta, Aida oder Desdemona ist das der größtmögliche Verrat."
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