9punkt - Die Debattenrundschau

Mangel an stillem Einverständnis

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.03.2018. In Interview mit der NZZ denkt Peter Sloterdijk über den Einbruch des Fremden in unsere Gesellschaften nach. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk erinnern Aleida und Jan Assmann daran, dass Deutschland kein christlicher, sondern ein säkularer Staat ist. Nachdem die Reparationszahlungen für britische Sklavenhändler 2015 abbezahlt wurden, könnte man jetzt vielleicht über Entschädigungen für die ehemaligen Sklaven nachdenken, meint Kris Manjapra im Guardian. In der taz erklärt der Bewegungsforscher Simon Teune, warum Friedensmärsche heute so aus der Mode gekommen sind. China will am Wochenende alle Verbindungen zum freien Internet kappen, berichtet die SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.03.2018 finden Sie hier

Ideen

AfD und Linke sind im Grunde zwei große #metoo-Bewegungen, die Menschen versammeln, die mit der modernen Drift nicht zurecht kommen, meint Peter Sloterdijk in einem sehr langen Interview mit der NZZ: "Das Driften erfasst jetzt auch den Menschen im hintersten Winkel - es sucht ihn heim, auch wenn er sich selber nicht bewegt. Dieser Winkel gleicht im Übrigen sehr der 'rechten Ecke', in die man heute so gern Leute stellt, die durch einen Mangel an stillem Einverständnis in den beschleunigten Wandel auffallen. Diese Ecke bleibt harmlos, solange ihr Bewohner gesteht, er sei zu langsam für diese Welt. Sie wird giftig, wenn die Langsamkeit sich aggressiv aufstellt. Inzwischen ist ein Teil der Ecke von Rückwärtsstürmern bevölkert. Denen muss man die Grenze zeigen."

In einem langen Gespräch Aleida und Jan Assmanns mit dem Deutschlandfunk Kultur (Teil 1, Teil 2) geht es um die Rechte, 1968 und um Identitätsfragen, wie zuletzt die Frage, ob der Islam zu Deutschland "gehört", oder "wie Jan Assmann sagt: 'Diese unsägliche Rede vom Islam, der zu Deutschland gehört oder nicht. Was gehört zu Deutschland? Ist das ein Immunsystem, das Fremdkörper abstößt?' Das sollte es in Assmanns Augen nicht sein, denn: 'Für mich wäre es ein Schreckensbild, die Vorstellung, in einem christlichen Staat zu wohnen, wo Nichtchristen Bürger zweiter Klasse sind. Das wollen wir hier nicht. Und ich meine überhaupt, dass die Rolle einer Staatsreligion der Religion am schlechtesten bekommt. Das sollte es eigentlich nicht geben. Deutschland sollte ein Land sein, in dem die Frage, ob der Islam dazugehört, gar kein Thema ist. Selbstverständlich, das ist ein säkularer Staat, der alle möglichen Religionen beheimatet.'"

In der Jungle World schreibt Stephan Grigat den Nachruf auf den Theoretiker und Kritiker des linken Antisemitismus Moishe Postone: "Joachim Bruhn hat Postones Thesen zum Nationalsozialismus vor dem Hintergrund der Jahrzehnte vorherrschenden marxistisch-leninistischen Verharmlosung des Antisemitismus zu Recht als 'Revolutionierung der materialistischen Betrachtung des Antisemitismus' bezeichnet. Seine von den Grundkategorien in Marx' 'Kapital' ausgehende Dechiffrierung des modernen Antisemitismus als Hass auf das Abstrakte, seine deutliche Unterscheidung von Antisemitismus und Rassismus und seine Analyse der nationalsozialistischen Vernichtungspraxis als Bruch mit der kapitalistischen Verwertungslogik und Herrschaftsrationalität haben ebenso Maßstäbe gesetzt wie seine Kritik an der deutschen Linken und einem sich progressiv wähnenden fetischistischen Antikapitalismus."

Wenn die Briten über den Sklavenhandel und die Sklaverei reden, dann kommen sie ganz schnell auf die Abolitionisten, auf deren Druck hin der Sklavenhandel abgeschafft wurde. Es wird langsam Zeit, hinter diese Schönfärberei der Geschichte zu gucken, meint Kris Manjapra im Guardian, und über Reparationszahlungen nachzudenken. Ein ungeschickter Tweet des Schatzamtes hat die Briten nämlich kürzlich daran erinnert, dass sie tatsächlich bis 2015 Reparationszahlungen geleistet haben - an die Sklavenhändler und ihre Nachkommen, nicht an die ehemaligen Sklaven. Der Tweet sagt viel aus über das Geschichtsverständnis der Briten: "The revelation came on 9 February, in the form of a tweet by HM Treasury: 'Here's today's surprising #FridayFact. Millions of you have helped end the slave trade through your taxes. Did you know? In 1833, Britain used £20 million, 40% of its national budget, to buy freedom for all slaves in the Empire. The amount of money borrowed for the Slavery Abolition Act was so large that it wasn't paid off until 2015. Which means that living British citizens helped pay to end the slave trade.'"

Weiteres: In der NZZ denkt Philipp Hübl über geschlechtergerechte Sprache nach.
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Gesellschaft

Sonja Zekri unterhält sich für die SZ mit dem israelischen Politologe David Ranan, der gerade ein Buch mit dem Titel "Muslimischer Antisemitismus" herausgebracht hat, jedoch bezweifelt, dass es tatsächlich einen nennenswerten Antisemitismus unter Muslimen gibt: "'Christlicher Judenhass basierte nicht auf einem realen Problem', sagt Ranan: 'Dagegen haben die Muslime im Nahen Osten einen realen, nicht gelösten territorialen Konflikt mit den Juden, seit die zionistische Bewegung Erfolg hatte.'"

In der taz erklärt der Bewegungsforscher Simon Teune, warum Friedensmärsche heute so aus der Mode gekommen sind: "Wenn man genauer hinschaut, kommt man schnell in die Bredouille, sich in komplizierten Konflikten positionieren zu müssen. Die erste Generation, die die Ostermärsche organisierte, hatte selbst noch Kriegserfahrung, da war die Parole 'Nie wieder Krieg!'. In den 1980er Jahren stand im Kalten Krieg nicht weniger als die Auslöschung der Menschheit auf der Tagesordnung. Da war es leichter, Stellung zu beziehen. Heute ist die Konfliktlage viel diffuser. Wenn man zum Beispiel sagt: 'Kein Krieg gegen Russland', läuft man Gefahr, die russische Außenpolitik reinzuwaschen."

Außerdem: Die SZ meldet, dass das Filmstudio Bavaria nach der Durchsicht von 200 Akten keinerlei Belege für sexuelle Übergriffe des Regisseurs Dieter Wedel gefunden hat. Und Jan Feddersen erklärt in der taz, warum die Kulturkritik an Viagra ungerecht ist: "Die Vermutung, Viagra sei eine Lifestyledroge, ist pure Unterstellung: Die Angst der Männer vor Impotenz, die Freude über die körperliche Fähigkeit, Erregung auch plastisch zu dokumentieren, gehört zum identitären Kern der Selbstvorstellung von dem, was ein Mann ist. Und nicht nur, welchem Lebensstil er frönt." In einem zweiten taz-Artikel nimmt Feddersen das Verhältnis der Linken zu Homosexuellen aufs Korn: "Es wird Zeit, dass sich die deutsche Linke mal überlegt, weshalb sie en gros und en detail Homos zwar irgendwie okay fand, aber doch eher nicht so sehr wertschätzte."
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Politik

In der Berliner Zeitung hält Arno Widmann das von einigen SPD-Politikern vorgeschlagene solidarische Grundeinkommen für eine Mogelpackung, mit der sich die SPD aus der Verantwortung für Hartz IV stehlen wolle: "Trickserei ist, von 'solidarischem Grundeinkommen' zu reden, wenn man damit meint, Langzeitarbeitslose sollten in staatlich finanzierte Arbeitsplätze überführt werden. Mit Grundeinkommen hat das nichts zu tun. Es handelt sich um eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Das wären 1,7 Millionen Dauerjobs für arbeitslose Hartz-IV-Empfänger. Parole: Arbeitslose in den Staatsdienst."

Immerhin besser als Ein-Euro-Jobs wäre ein solches Grundeinkommen, meint dagegen der Ökonom Jürgen Schupp im Interview mit Zeit online. Und es könnte Langzeitarbeitslose wieder ins Arbeitsleben eingliedern: "Ich verstehe vor allem die Befürchtung, dass es durch das solidarische Grundeinkommen zu Lohndumping kommen könnte. Darum ist es wichtig, als nächsten Schritt rasch eine Positivliste an Jobangeboten zu erstellen und sich mit Gewerkschaften und Arbeitgebern darauf zu verständigen. Für welche Tätigkeiten gibt es keinen Arbeitsmarkt? Für welche funktioniert er nicht verlässlich, weil zu wenig gezahlt wird? Wenn wir die haben, sind wir einen Schritt weiter."

Die Schriftstellerin Nora Bossong fährt nach Kenia, bezahlt einem "Vermittler" vor Ort 500 Euro und wird dafür durch das Flüchtlingslager Dadaab geführt. Zwei Polizisten zum Schutz sind im Preis inbegriffen, ebenso Interviews mit verschiedenen Flüchtlingen, erzählt sie in der FAZ: "Abdi führt mich herum, die beiden bewaffneten Polizisten folgen uns. In Wellblechbuden hängt Fleisch in der Sonne, und Mobilfunkgeräte liegen zum Verkauf aus. Das sind die Bilder, die aus westlicher Sicht so gut zu Afrika passen, an denen sich nicht nur Abdi bereichert, sondern die auch vom Westen gewünscht, wiederholt und also eingekauft werden ... So wird das Narrativ bedient, das Afrika auch ein halbes Jahrhundert nach der Dekolonisierung in einer adoleszenten Abhängigkeit zeichnet". Bossong bedient dieses Narrativ zwar auch, aber sie fühlt sich angemessen schlecht dabei garniert es mit einer Forderung: "Es wäre an der Zeit, dass auch der Westen die von ihm mitverursachte globale Transformation erkennt, die hinter Orten wie Dadaab und seinen Superlativen steckt."
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Geschichte

Willi Winkler hat für die SZ "Dokumente aus einem bisher unbekannten Gehlen-Nachlass" eingesehen, die belegen, dass der BND unter Reinhard Gehlen ehemalige Wehrmachtsoffiziere ins heutige Institut für Zeitgeschichte einschleuste. Dort sollte eigentlich der Nationalsozialismus aufgearbeitet werden: "Ohne Fachleute aus genau dieser Zeit ging es aber offenbar nicht, weshalb das Institut nicht ohne Grund als 'Institut zur Förderung des Nationalsozialismus' geschmäht wurde, wie ein Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz 1951 notierte. Zwischen ihm und der Organisation Gehlen herrschte in den ersten Jahren ein reger Personalaustausch, der hier zum ersten Mal dokumentiert werden kann."
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Religion

"Der Schriftsteller Martin Mosebach glorifiziert in seinem neuen Buch den Märtyrertod", annonciert die taz in der Unterzeile einen Artikel des Theologen Konstantin Sacher, der Mosebachs Buch über die Kopten, "Die 21 - Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer", kritisiert. Im Text liest sich das dann etwas anders: "Zwar kann man Mosebach zugutehalten, dass er vor der Verklärung von Selbstmordattentätern haltmacht. Doch auch wenn er immer wieder die Friedlichkeit seiner Kopten betont: Religiöser Fundamentalismus ist niemals ganz friedlich."
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Internet

An diesem Wochenende will die chinesische Regierung alle Verbindungen Chinas zum freien Internet kappen, berichtet Christoph Giesen in der SZ. Auch Virtual Private Networks (kurz VPN-Tunnel) sollen nur noch erlaubt sein, wenn sie über einen staatlichen Anbieter laufen. Damit erhalten die Chinesen Zugriff auch auf die Daten von in China arbeitenden ausländischen Firmen: "VPN wird es also weiterhin geben, mit enormer Rechenpower und Software soll es aber möglich sein, jede einzelne Internet-Verbindung im Reich zu checken und eine VPN-Verbindung sofort zu kappen. Die chinesischen Behörden werden jederzeit Zugriff auf die Daten haben. 'Vordergründig geht es darum, dass niemand aus China mehr Google oder Facebook erreichen kann', sagt Sandro Gaycken, Direktor des Berliner Digital Society Institute, der auch die Bundesregierung in Fragen der Cybersicherheit berät. 'Der durchaus gewünschte Nebeneffekt ist aber ein Zugriff auf sensible Unternehmensdaten. Das ist Wirtschaftsspionage.'"

Flankierend stellt Kai Strittmatter in der SZ eine amerikanische Studie vor, wonach sich viele chinesische Studenten inzwischen für Informationen von außerhalb nicht mehr interessieren, selbst wenn diese für sie erreichbar werden: "Die Zensur, heißt das, funktioniert nicht bloß, weil das Regime den Zugang zu freier Information schwierig macht - 'sondern weil sie eine Umgebung schafft, in der die Bürger überhaupt nicht auf die Idee kommen, nach solchen Informationen zu verlangen', wie die Autoren der Studie schreiben. Ebenso bemerkenswert: In dem Moment, in dem die Studenten mit der Nase darauf gestoßen werden, dass sich außerhalb der Mauer etwas Spannendes und Wertvolles verborgen hält, steigt das Interesse rapide."
Archiv: Internet
Stichwörter: China, Cybersicherheit