Efeu - Die Kulturrundschau

Die Spiegelneuronen machen Party

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.11.2014. Jonathan Franzen feiert in der Welt den direkten Vorfahr der Blogger von heute, Karl Kraus. ZeitOnline lässt sich von dem Schriftsteller Roman Ehrlich auf- und erregen. Die Welt rätselt über die Bilder Peter Doigs. In der FAZ macht der Musikwissenschaftler Martin Geck kurzen Prozess mit allen Spekulationen, Johann Sebastian Bachs Werk könnte zum Teil von seiner Frau Anna Magdalena geschrieben worden sein. Fassbinders "Warum läuft Herr R. Amok" springt dem Zuschauer auch im Theater an die Gurgel, notiert die Kritik.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.11.2014 finden Sie hier

Kunst


Peter Doig, 100 Years Ago (Carrera), 2005-2007, Centre Pompidou, Musée national d"art moderne / Centre de création industrielle, Paris © Peter Doig.

Hans-Joachim Müller (Welt) versucht sich in der Basler Fondation Beyeler das Werk Peter Doigs zu erschließen und sucht nach einem verbindenden Element in den Gemälden. Es gibt zeitlose Sujets wie Kanus, okay. "Aber eine Topografie wird aus all dem nicht. ... Er versuche, sagt Peter Doig, etwas zu schaffen, das fraglich erscheint, etwas das schwierig, wenn nicht sogar unmöglich in Worte zu fassen ist. Gegenständliche Malerei, die mit sinnlicher List ihre Erzählbarkeit hintertreibt. Mann im Kajak, daraus könnte ja schon eine Geschichte werden. Und dass der Mann ein wenig althippiemäßig aussieht und hinter ihm im Meer die Trinidad-Insel auftaucht, das deutet zumindest auf Zeit, Ort und Handlung. Aber dann bleibt man doch an der für die christliche Seefahrt unpraktischen Überlänge des Bootes hängen und an dem Sonnenuntergangs-Rot, mit dem es angestrichen ist und das an ihm herunterläuft, so als ob es in der Hitze geschmolzen sei."

Voll wonnigem Grusel begibt sich Ingeborg Ruthe (Berliner Zeitung) in Gregor Schneiders klaustrophobische Raumskulpturen, die in der Berliner Galerie Konrad Fischer zu sehen sind: "Das Irre an dem Konzeptkunst-Geschehen ist, dass eigentlich nichts passiert. Der Betrachter wird, fast wie im Hitchcock-Film "Fenster zum Hof", zum Versuchsobjekt, mit den eigenen Phantasmen und Ängsten umzugehen."

Weiteres: Für die taz besucht Waltraud Schwab die Künstlerin Rita Preuss. Kia Vahland (SZ) unterzieht Jacopo da Pontormos Bild "Mariä Heimsuchung" einer eingehenden Betrachtung. Besprochen wird die Ausstellung über das alte Westberlin im Ephraim-Palais (NZZ)
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Literatur

In diesen Tagen erscheint das "Kraus-Projekt" von Jonathan Franzen auf Deutsch - ohne Franzens Übersetzung der Texte von Karl Kraus, aber mit Franzens ausufernde Fußnoten, die auch Diskussionen mit Daniel Kehlmann und dem Kraus-Forscher Paul Reitter beinhalten. Darin geht es auch um die Medienkritik von Kraus, der die Verbindung der Zeitungen mit Technologie und Kapital heftig verurteilt hatte. Franzen findet das heute - dank Google, Amazon oder Facebook - immer noch hochaktuell. Aber generell gegen das Internet sei er nicht, erklärt er im Interview mit der Welt: "Während ich am "Kraus-Projekt" arbeitete, war ich mir bewusst, dass seine Form der des Online-Diskurses ähnelt, zumal zu vielen der Fußnoten ja das (via Internet geführte!) Dreiergespräch zwischen mir und Daniel und Paul gehört; ich hatte die leise Hoffnung, dass sorgfältige Leser schon merken würden, dass das Buch das Internet selbst dann affirmiert, wenn es das Netz eigentlich angreift. Aber der Hauptgrund für die Anmerkungen ist, dass Kraus selbst der große Anmerker war, der großartige frühe postmoderne Meister des Zitats und der Glosse, der direkte Vorfahr der Blogger von heute."

Insa Wilke porträtiert auf ZeitOnline den 1983 geborenen Schriftsteller Roman Ehrlich, dessen Fertigkeiten als Erzähler sie "exzellent" findet: "Seine Sätze sind Störfaktoren, raffinierte Täuschungsmanöver. Das beginnt schon mit ihrer Länge, die einen dazu verführt, das Eigentliche, der deutschen Grammatik gemäß, am Satzende zu erwarten. Es ereignet sich aber bereits auf dem Weg dahin, im Nebensächlichen, sodass man nach einer Weile die Lektüre dem Text anpasst, zu aufregend ist, was da fortwährend mitklingt, für Literatur-Liebhaber zu erregend auch, was Ehrlich auf dem Grat zwischen Ernst und Gelächter im Unbestimmten schwingen lässt."

Weitere Artikel: In der Literarischen Welt fragt Marko Martin anhand neuer Biografien, wie subversiv der Marquis de Sade denn nun wirklich war. Zum 70. Geburtstag von Botho Strauß am 2. Dezember schreiben Dirk Knipphals in der taz und Thomas Oberender in der SZ. Alexander Menden schreibt in der SZ den Nachruf auf die Krimiautorin P.D. James.

Besprochen werden unter anderem eine Batman-Anthologie (Tagesspiegel), Judith Vanistendaels Comic "Als David seine Stimme verlor" (taz), Christa Wolfs "Moskauer Tagebücher" (taz), ein Bildband mit William Blakes Zeichnungen zu Dantes "Göttlicher Komödie" (Welt), Szilárd Borbélys großartiger Roman "Die Mittellosen" (Welt), Klaus Harpprechts Erinnerungsband "Schräges Licht" (Welt) und Egon Schwarz" "Wien und die Juden" (FAZ).
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Film

Gunda Bartels unterhält sich im Tagesspiegel mit dem Schauspieler Max Riemelt, der gerade in Indien für Netflix vor der Kamera stand. Dietmar Dath (FAZ) gratuliert Joel Coen zum 60. Geburtstag.

Besprochen werden Ralf Huettners "Der Koch" (Tagesspiegel) und Nadav Schirmans Dokumentarfilm "The Green Prince" (FR).
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Musik

Nur sehr wenig bis ganz und gar nichts hält der Musikwissenschaftler Martin Geck in der FAZ von der im Dokumentarfilm "Written by Mrs. Bach" spekulativ stark gemachten These, dass tatsächlich Anna Magdalena Bach zahlreiche von Johann Sebastian Bachs Werken komponiert habe: "Fähig oder nicht - Anna Magdalena Bach scheidet auf Grund des Quellenbefundes mit einer so hohen Wahrscheinlichkeit aus, dass sich jede weitere Spekulation erledigt hat." Der MDR zeigt den Film am 01. Dezember.

Schweren Herzens räumt Billy Corgan, Sänger der Smashing Pumpkins, im Gespräch für die Berliner Zeitung mit Katja Schwemmers ein, dass Rockmusik den "Krieg" mit dem Pop definitiv verloren hat: "Auch wenn solche Kriege nur symbolisch sind, waren es mal Kriege von Idealen: Meine Musik ist besser als deine. Meine Bands sind besser als deine. Heute ist in Amerika alles gleichgeschaltet, es herrscht eine Ghetto-Wertvorstellung."

Weitere Artikel: In der taz diskutiert Detlef Diederichsen philologische Aspekte von Bob Dylans eben veröffentlichten "Basement Tapes - Complete". Für die SZ porträtiert Reinhard J. Brembeck die Sopranistin Diana Damrau, deren "unwiderstehlich vulkanisches Lachen" ihn ganz dahinschmelzen lässt.

Besprochen werden das neue Album von TV On The Radio (ZeitOnline), ein Konzert der Beatsteaks (Tagesspiegel), das neue Album von AC/DC (Welt), ein Konzert von Diana Tishchenko (Tagesspiegel), ein Konzert von Ben Howard (Berliner Zeitung), Rüdiger Eschs Buch "Electri_City" (Tagesspiegel) und Jan Müller-Wielands in München uraufgeführtes Oratorium "Egmonts Freiheit" (Deutschlandfunk, SZ).
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Bühne


Walter Hess, Anna Maria Sturm, Edmund Telgenkämper, Çiğdem Teke in Fassbinders "Warum läuft Herr R. Amok?" Regie: Susanne Kennedy. Foto: JU/Ostkreuz

Gesammeltes Durchatmen der Kritiker nach der Uraufführung von Fassbinders "Warum läuft Herr R. Amok" an den Münchner Kammerspielen: Die Bühnenbearbeitung von Susanne Kennedy macht aus dem Film ein "Zombie-Zeitlupentheater", bei dem die Dialoge der dauermaskierten Schauspieler vom Band kommen und das Sounddesign "die Idee des Authentischen ins Absurde" befördern, erzählt K. Erik Franzen in der FR: Am Ende "springt einem die Inszenierung an die eigene Gurgel. Die Spiegelneuronen machen Party: Man ist Opfer und Täter zugleich. ... Es ist, als ob erst aus der größtmöglichen Distanz heraus die Zuschauer sich selbst erkennen können."

Ähnlich lautet Christine Dössels Befund in der SZ. Sie findet sich hier in einer experimentellen Anordung zwischen Theater, Installation und bildender Kunst wieder: "Der Blick auf den Menschen ist in diesem Forschungslabor gnadenlos. Alles ist übergroß, jede Geste, jede Pause, jeder Blick. Die Zeit wird gedehnt, jedes Geräusch verstärkt. Die Reizbarkeit, die dabei entsteht und durch die zähe Monotonie der Szenenabfolge auch mal in Langeweile umschlägt, ist Teil des Experiments. Es ist gelungen."

Ziemlich dreist findet es Gerhard Stadelmaier (FAZ), das Christopher Hamptons im Wiener Theater in der Josefstadt Stück "Eine dunkle Begierde" über Sigmund Freud, C.G. Jung und Sabina Spielrein als "Uraufführung" lanciert wird: Immerhin gibt es bereits einen Roman, ein Theaterstück und einen Film. Daniel Kehlmanns Neuübersetzung unterscheide sich lediglich in Nuancen von der älteren Übersetzung, meint er. "Der Zuschauer wird zum Fenstergucker in historische Schlaf- und Klinikzimmer, Analytiker-Praxen und Schreckensberichte hinein, in denen Aktenfunde und Briefstellen aufgesagt werden. ... All dies ergibt einen wissenschaftsgeschichtlich ausgeschmückten Boulevard-Bilderbogen. Beziehungssketche. Kein Drama." Aber Tantiemen.

Weitere Artikel: Eleonore Büning gehen beim Besuch der vom Sultan von Oman finanzierten, von Christina Scheppelmann geleiteten Oper in Maskat förmlich die Augen über vor all der aufgehäuften Pracht. Dafür wird andernorts geknausert, beobachtet sie, etwa bei den Dekolletés der Schauspielerinnen: "Zentimeter um Zentimeter wachsen die eingelegten Brusttücher." Intendant Cristiano Chiarot ist es gelungen, die sinkenden Subventionen für Venedigs Opernhaus La Fenice durch steigende Einnahmen auszugleichen, berichtet Jörg Bremer in der FAZ.

Besprochen werden außerdem das von Constanza Macras choreografierte, an der Berliner Schaubühne aufgeführte Stück "The Past" (Berliner Zeitung), Michael Thalheimers Pariser Inszenierung von Heiner Müllers Stück "Der Auftrag" (Welt) und Horvaths "Kasimir und Karoline" am Theater Basel (NZZ).
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