Efeu - Die Kulturrundschau

Zerkratzt und bearbeitet

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.10.2021. Die KritikerInnen strahlen vor Glück in Pink und Schwarz nach der Eröffnung von Münchens neuem Volkstheater. Wunderschön ist es geworden, versichern sie. Allerdings müssen sie jetzt auch fürchten, dass die Meinung über die Liebe gesiegt hat. In der FR wirft die indigene Autorin Joanna García Cherán einen kritischen Blick auf Frida Kahlos Umgang mit der Tehuana-Kultur. Die SZ versinkt bei den Donaueschinger Musiktagen in einer unendlichen Symphonie. In der FAZ erinnert sich Ilija Trojanow daran, wie er lernte, Tsitsi Dangarembga zu übersetzen. ZeitOnline und Jungle World begeben sich mit Todd Haynes in das queere Universum von The Velvet Underground.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.10.2021 finden Sie hier

Bühne

Am Hofe des Lotterkönigs: Charistiopher Marlows "Edward II." Foto: Arno Declair/Volkstheater

Vollkommen euphorisiert kommt SZ-Christine Dössel aus dem neuen Münchner Volkstheater, das mit einer Inszenierung von Christopher Marlowes Königsdrama "Edward II." am Wochenende eröffnet wurde: "Um überregional gleich noch ein bisschen mehr Neid zu triggern: Es ist architektonisch ein Darling, technisch auf dem ausgefeiltesten Stand und in seinem Da- und Sosein einfach wunderschön." Und auch Christian Stückls Inszenierung findet sie sehenswert: "Stückl gibt seiner empathischen Inszenierung einen offensiven Anstrich in der Signalfarbe Pink. Das Licht, die Schminke, sämtliche Kostüme, egal ob Uniform, Blouson, Tüllkleid oder Smoking, alles ist im selben schrillen Farbton gehalten, der assoziativ das Schwul-Lesbisch-Transsexuelle transportiert: Shocking Pink. Eine Welt in Schwarz und Purpurrosa." Zufrieden ist auch Teresa Grenzmann in der FAZ, ihrer Ansicht nach kann die "als Ansage gelesen werden: aufzufallen, anzuecken, Menschlichkeit sprechen und Persönlichkeit wirken zu lassen. Dabei im durchweg jungen Ensemble und unter frischer Regie die Lust am Spiel wach und die Gegenwart in Schach zu halten." taz-Kritikerin Johanna Schmeller weiß auch zu schätzen, dass das Volkstheater seinen alten Standort in der Innenstadt aufgegeben hat: "Umso spannender bleibt aber, wie das Theater das Schlachthofviertel in den kommenden Jahren bespielen wird: Die Nobelnachbarschaft und das gesetzte Publikum der Altstadt, das in Premieren gesellschaftliche Verpflichtungen sieht, hat es gegen einen jungen, alternativen, politisch und künstlerisch interessanten Resonanzraum getauscht, der vieles erwarten lässt."

Klar, wer hier die Cheerleaderin ist: Bonn Parks und Ben Roesslers "Gymnasium" © Arno Declair/Volkstheater

Noch toller findet Sabine Leucht in der Nachtkritik allerdings die zweite Premiere des Volkstheaters: Bonn Parks und Ben Roesslers Highschool-Oper "Gymnasium", in der sich eine Vulkanforscherin gegen das postfaktische Zeitalter und die Entleerung der Hirne stemmt: "Weit weg von den anderen sitzt sie kurz unter dem Gipfel des Pappmaché-Vulkans, der im Zentrum von Jana Wassongs herrlich trashiger Bühne Qualm und Glitzerkonfetti spuckt. Sie kaut Stullen und trauert verlorenen Gewissheiten hinterher: 'Alles, was ich gelernt habe, stimmt nicht mehr. Früher, da war Liebe und Zuneigung immer alles, egal was kam, und jetzt, da ist Meinung alles. Ich glaube, Meinung hat die Liebe zu einem Duell herausgefordert, und die Meinung hat gewonnen."

Besprochen werden außerdem Kate Prince' Hip-Hop-Tanzshow "Message in a Bottle" zur Musik von Sting in Zürich (NZZ), Tim Plegges Tanzstück "Memento" am Hessischen Staatsballett (FR) und Stephan Müllers Inszenierung des "Bockerer" im Theater in der Josefstadt in Wien (Standard).
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Musik

Mitreißend findet SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck die Idee der Donauerschinger Musiktage beim Open-Air-Spektakel "Donau / Rauschen" die Musiker ins Freie und in die Straßen diffundieren zu lassen und die ganze Stadt zu beschallen: "Was für eine Wohltat, zusammen mit solchen Menschen Musik zu hören! Auch wenn der Parcours irrsinnig ist, wenn die Überfülle herrscht, kaum Zeit zum Hallenwechsel oder einem profanen schnellen Imbiss bleibt. Wohl der Hörerin, die ein E-Bike hat. Aber auch ihr schwirrt bald der Schädel, sie fühlt sich versunken in einer unendlichen Symphonie mit unendlich vielen Sätzen, die von begeisternden Gesprächen garniert wird."

Außerdem: An der Spitze des Atlanta Symphony Orchestra könnte sich die Dirigentin Nathalie Stutzmann "höchstes Renommee" erarbeiten, schreibt Helmut Mauró in der SZ. Wolfgang Herles berichtet im Freitag von der Verleihung des Opus-Klassik-Preises.

Besprochen werden Gisbert zu Knyphausens neues Album mit Schubert-Aufnahmen (FR), Gerry Raffertys postumes Album "Rest in Blue" (Welt), das neue Album von Black Dice (Jungle World), ein Konzert von Apparat (Tagesspiegel) und Anz' EP "All Hours" (Pitchfork). Wir hören rein:

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Stichwörter: Donaueschinger Musiktage

Literatur

Am Sonntag erhält die Schriftstellerin Tsitsi Dangarembga den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Ihr Kollege Ilija Trojanow erinnert sich in der FAZ daran, wie er um 1990 nicht nur ihren Roman "Nervous Conditions", sondern auch Chenjerai Hoves "Bones" und damit zwei Bücher, "die exemplarisch waren für die zwei Hauptrichtungen der afrikanischen Literaturen", ins Deutsche übertrug. Während Hoves Sprache "sich am korrekten britischen Idiom rächt", repräsentiere Dangarembga "eine andere, weiter verbreitete Richtung: das Vertrauen auf die Mittel des bürgerlichen europäischen Romans samt seinen aufklärerischen Prinzipien und dem Fokus auf individuelle Schicksale. ... Als Roman steht 'Der Preis der Freiheit', wie der erste deutsche Titel lautete, durchaus in der Tradition von Jane Austen und anderen englischen Erzählerinnen. Seine Stärke liegt in der präzisen und feinfühligen Beobachtungskunst, sein Erfolg verdankt sich nicht zuletzt der Möglichkeit, sich mit der Hauptfigur zu identifizieren, selbst wenn man aus einem ganz anderen Land stammt und sogar (Wunder über Wunder) ein anderes Geschlecht hat."

Zehn Jahre Erfahrungsanhäufung, ein Medizinstudium und ein Praktikum im Botanischen Garten brauchte Julia Franck, um ihr neues Buch "Welten auseinander" zu vollenden, erzählt die Schriftstellerin im FR-Gespräch. Unter anderem setzt sie sich in dem Buch mit dem Erinnern anhand von Dokumenten auseinander: "Da sind die Tagebücher meines Vaters, auch meine eigenen. Als ich die wieder las, entdeckte ich Dinge, die ich so gar nicht in Erinnerung hatte." Auch geht es "um meine Großmutter und ihre Stasi-Verbindungen, über die sie nicht sprechen wollte. Ich musste diese Akten lesen, um zu erfahren, in welcher Weise und in welchem Zeitraum sie mit denen zusammengearbeitet hat."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel spricht Antje Rávik Strubel über ihren Roman "Blaue Frau", dem Freitag-Rezensent Michael Hametner erhebliche Chancen beim Deutschen Buchpreis ausrechnet. Für das Comicblog des Standard spricht Karin Krichmayr mit der Autorin und Zeichnerin Liv Strömquist. In der "Buchbesuch"-Reihe des Dlf Kultur findet sich die Schriftstellerin Felicitas Hoppe zum Plausch in der Küche von Wiebke Porombka ein. Hinter der spanischen Thrillerautorin Carmen Mola steckt in Wahrheit ein Dreiergespann von TV-Autoren, berichtet Karin Janker in der SZ aus Madrid. Paul Jandl meldet in der NZZ jüngste Vergehen und Ordnungsverstößte von Michel Houellebecq und Peter Handke. In der Welt berichtet Daniel Friedrich Sturm von der Ankunft von Thomas Manns Flügel im Thomas-Mann-Haus in Los Angeles. Der Schriftsteller Marcel Beyer sucht für die FAS in Sibiren nach dem deutschen Verhältnis zum Schnee.

Besprochen werden unter anderem Nicole Seiferts "Frauen Literatur" (Standard), Norbert Gstreins "Der zweite Jakob" (online nachgereicht von der FAZ), Elif Shafaks "Das Flüstern der Feigenbäume" (NZZ), Edgar Selges "Hast du uns endlich gefunden" (Tagesspiegel), Svealena Kutschkes "Gewittertiere" (Freitag), Dave Eggers' "Every (taz) und neue Hörbücher, darunter Werner Herzogs von ihm selbst gelesener Roman "Das Dämmern der Welt" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Norbert Hummelt über Arne Rautenbergs "das neue gedicht":

"ich mailte einem arrivierten
mein neuestes gedicht
er schrieb zurück
..."
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Design

Das "Senftenberger Ei", ein Sessel mit einklappbarer Lehne. Entwurf: Peter Ghyczy, 1968 VEB Synthesewerk Schwarzheide
Sehr verdienstvoll findet FAZ-Kritiker Stefan Locke die Schau "Deutsches Design 1949-1989: Zwei Länder, eine Geschichte", die nach ihrem ersten Aufschlag im Vitra Design Museum in Weil am Rhein (unser Resümee) nun im Lipsiusbau in Dresden zu sehen ist: Sehr zu danken ist ihr, "dass Namen wie Margarete Jahny, Rudolf Horn, Karl Clauss Dietel oder Lutz Rudolph, die unter Kennern längst Bestandteil der Designgeschichte sind, nun auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt werden. Man mag kaum glauben, dass dafür dreißig Jahre ins Land gehen mussten, aber tatsächlich ist das die erste Gesamtschau deutschen Designs aus der Zeit der Teilung. Sie zeigt auf vielfältige und wohlkomponierte Weise die Verflechtungen, Spiegelungen und Brüche deutsch-deutscher Formgebung und ist damit schon mal einen großen Schritt weiter als andere Museen hierzulande, die auch in ihren Publikationen noch heute so tun, als habe es gutes Design nur im Westen gegeben."
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Film

Stets zweigeteilt: "The Velvet Underground" operiert auf der Bildebene (AppleTV+)

Mit seinem schlicht nach der Band benannten, auf AppleTV+ gezeigten Dokumentarfilm über The Velvet Underground verlässt der Autorenfilmer Todd Haynes die ausgetrampelten Pfade der öden Musikdoku. Die Kritiker danken es ihm von Herzen: "Auf beglückende Weise" rückt Haynes den Fokus "auf die damals unerhörten Spielweisen, Klänge und Songs, die sich aus dem Zusammentreffen der scheinbar so unterschiedlichen Charaktere John Cale und Lou Reed ergaben", lobt Jens Balzer auf ZeitOnline. Haynes orientiert sich eher an den Experimentalfilmen eines Jonas Mekas, erfahren wir: "Die Bildfläche ist durchgehend geteilt, neben den ruhig gefilmten sprechenden Köpfen sind Konzertaufnahmen zu sehen, aber auch allerlei Material aus der zeitgenössischen Kino- und Performance-Avantgarde, etwa von Filmemachern wie Jack Smith. Es flimmert und wackelt, die Bilder sind zerkratzt und bearbeitet."

Dass es noch ein paar gängige "Talking Heads" aus der Tonspur ins On des Filmbildes geschafft haben, findet Dierk Saathoff in der Jungle World hingegen schade, wie er es auch bedauerlich findet, dass der Film die Band von der Gegenwart ziemlich abkapselt: Haynes "erzählt historisch über die Band, er hat wohl auch keine andere Möglichkeit, sie als etwas Vergangenes und Abgeschlossenes zu behandeln. Wieso das aber so ist, also die Frage danach, wieso eine so radikale Band wie The Velvet Underground, deren Universum von Schwulen und Transsexuellen, von Outlaws und anderen Ausgestoßenen, von verzweifelt Liebenden und Traurigen bevölkert ist, kein Vorbild mehr für Menschen von heute abzugeben vermag - diese Frage wenigstens zu stellen, bleibt der Film schuldig."

Außerdem: Jüngste Netflix-Fantasyserien wie "Ragnarök" oder "Sweet Tooth" zeigen, dass der wahre Horror "in der patriarchalen, heteronormativen Familie und im kapitalistisch-industriellen Wirtschaftssystem" stecke, donnert Christine Lötscher in der Geschichte der Gegenwart.

Besprochen werden die Netflix-Erfolgsserie "Squid Game" (Freitag, Tagesspiegel), die auf AppleTV+ gezeigte Fußballserie "Ted Lasso" (NZZ), Christophe Honorés "Zimmer 212" (SZ, mehr dazu hier) und der Horrorfilm "Halloween Kills" mit Jamie Lee Curtis (SZ).
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Kunst

Im FR-Interview mit Sandra Danicke beklagt die mexikanisch-indigene Autorin Joanna García Cherán, wie unkritisch Frida Kahlos Aneignung indigener Kultur im Kunstbetrieb aufgenommen wird. Aber völlig verdammen will García Cherán die Künstlerin immerhin nicht: "Kahlo hatte nur eine oberflächliche Beziehung zu indigenen Kulturen und sagte einmal in einem Interview für Excélsior: 'Ich war nie in Tehuantepec ... und ich habe auch keine Verbindung zu dieser Stadt, aber von allen mexikanischen Kleidern ist es das, das mir am besten gefällt, und deshalb trage ich es.' Nichtsdestotrotz hat sie eine Karriere mit indigenen Kulturen gemacht. Die Faszination für Tehuana-Kleidung wurde insbesondere von den künstlerischen, kosmopolitischen Avantgardekreisen in Mexiko-Stadt gefördert. Die Aneignung war ein Beispiel dafür, wie die Erhabenheit indigener Kulturen sowohl Mestizen als auch weißen Stadtbewohnern schmackhaft gemacht werden konnte."

Besprochen werden die Ausstellung zu Georges Braque als Erfinder des Kubismus im K20 in Düsseldorf (SZ) und die Schau über Poussin und den Tanz in der National Gallery in London (FAZ).
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