Efeu - Die Kulturrundschau

Die Kämpfe nahen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.02.2017. Nichts einzuwenden haben die Kritiker gegen den Goldenen Bären für Ildikó Edyenis "On Body and Soul". Und selbst etwas lauwarm resümieren sie eine Berlinale, die im Guten wie im Schlechten wenig Grund zur Aufregung bot. Schlichtweg umwerfend findet der Tagesspiegel György Ligetis von den Berliner Philharmonikern aufgeführte Oper "Le Grand Macabre". Am Wochenende hatte außerdem Ersan Mondtags "Ödipus und Antigone" am Maxim-Gorki-Theater Premiere: Die Berliner Zeitung sah ein erschlafftes Bürgertum seiner Abschaffung entgegentrippeln.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.02.2017 finden Sie hier

Film


Ein Bär für die bezauberndsten Hirsche des Festivals: Ildikó Edyenis "On Body and Soul"

Die Berlinale ist zu Ende, die Filmkritiker ziehen auf selten einmütige Weise Bilanz: Man habe schon bessere Jahrgänge erlebt, sich aber auch schon mehr geärgert. Alle können sich gut arrangieren mit dem Silbernen Bär für die beste Regie an Aki Kaurismäki (für "Die andere Seite der Hoffnung") und den Goldenen Bären für "On Body and Soul" von Ildikó Edyeni (hier alle Preisträger im Überblick), mit der sich Hanns-Georg Rodek für die Welt unterhalten hat. Mit diesem Film wurde ein "zauberhaftes und bizarres Werk" ausgezeichnet, schreibt Susanne Ostwald in der NZZ, die den Jahrgang insgesamt allerdings "mäßig" fand. Die Empathie befinde sich dabei auf dem Vormarsch, schreibt sie in einem allgemeineren Fazit: "Die Berlinale, einst Kampfplatz heftiger politischer Debatten, wird plötzlich zur Wohlfühlzone." Diese Ausgabe des Festivals "bot viel Altbewährtes und wenig Aufregendes", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. Mit den Entscheidungen für Ildikó Enyedi und Aki Kaurismäki kann auch David Steiniz von der SZ gut leben, auch wenn für ihn außer Frage steht, dass "der Wettbewerb streckenweise eine sehr uninspirierte Veranstaltung war". Auch taz-Kritiker Tim Caspar Boehme findet die Juryentscheidungen "in der überwiegenden Mehrheit nachvollziehbar". Wenke Husmann von ZeitOnline sah im Wettbewerb "kein Meisterwerk, nirgends." "Aus einem unterdurchschnittlichen Wettbewerb [hat man] das Beste herausgesiebt", meint dazu Dominik Kamalzadeh im Standard. Dort würdigt Bert Rebhandl Georg Friedrich, der von der Jury als bester Schauspieler ausgezeichnet wurde. Überhaupt fand Rebhandl den Abend der Preisverleihung "seltsam stimmig", wie er im FAZ-Blog schreibt. Sehr zufrieden ist Fabian Tietke in der taz damit, dass die Jury Kim Min-hee aus Hong Sang-Soos "On the Beach at Night Alone" als beste Schauspielerin ausgezeichnet hat. Auf Artechock bilanziert Dunja Bialas das Forum, das in diesem Jahr für ihren Geschmack zu sehr "auf Nummer sicher gesetzt" habe. Ihr Kollege Rüdiger Suchsland wünscht sich unterdessen mehr Anarchie im deutschen Kino. Hier unsere Berichterstattung im Berlinale-Blog.

Diese allseits attestierte Lauheit empfindet Hanns-Georg Rodek von der Welt allerdings als symptomatisch für einen sich abzeichnenden Trend: Das Festival habe seinen Glanz verloren und wirke neben den Konkurrenten Cannes und Venedig zusehends ratlos. Wichtige Filme habe man in den letzten Jahren übersehen, die spannendsten Filme habe es in diesem Jahr in den Nebensektionen gegeben, sprich: "Der Berlinale-Wettbewerb ist kein Aushängeschild mehr. Man versteht die Auswahlpolitik immer weniger." Doch "andererseits kann man nur zeigen, was im Angebot ist. Alle großen Festivals lieben Autorenfilme, doch diese Spezies wird gerade in ihrer Existenz bedroht. ... Solange es genug Anspruchsvolles gab, konnte der Kuchen zwischen Cannes, Venedig, Toronto, Sundance und Berlin aufgeteilt werden. Doch dieses Jahr zeigte sich in Berlin die Verknappung zum ersten Mal in ihrer vollen Wirkung."
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Musik

In Berlin haben die Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle und mit tatkräftiger Unterstützung des Rundfunkchors György Ligetis Oper "Le Grand Macabre" aufgeführt. "Umwerfend" und "grandios" fand Tagesspiegel-Kritikerin Christiane Tewinkel den Abend und weiß trotz aller Weltuntergangsstimmung, die Ligeti verströmt, gar nicht, wen sie mehr mit Lob überhäufen soll - die Sangesleistungen, das Orchester? Peter Sellars' Inszenierung in der Philharnomie konnte FAZ-Kritikerin Eleonore Büning unterdessen nur wenig abgewinnen. Dafür stimmte die musikalische Leistung versöhnlich: "Chor und Orchester musizierten so punktgenau und lustvoll, sie tauchten die bitteren Pillen in so geisterhaft-luxuriös durch den Raum schwebende Sphärenklangflächen und galoppierende Crescendi, dass das Gerümpel drum herum sehr schnell sehr egal war."

Weiteres: In der NZZ stellt Florian Bissing die Jazzwerkstatt Bern vor. Robert Schlösser schreibt in der Berliner Zeitung über Falco, der am Wochenende sechzig Jahre alt geworden wäre. In der Frankfurter Pop-Anthologie befasst sich Uwe Ebbinghaus mit "Delmenhorst" von Element of Crime.

Besprochen werden Sohns Berliner Auftritt (taz), ein Konzert von Bilderbuch (Tagesspiegel), Neil Youngs 1982er Album "Trans" (Pitchfork) und das Ambientalbum "Reassemblage" von Visible Cloaks (PItchfork).
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Bühne


Ersan Mondtags "Ödipus und Antigone" am Maxim Gorki Theater

Am Wochenende hatte Ersan Mondtags "Ödipus und Antigone" am Berliner Maxim Gorki Theater Premiere. In der NZZ erzählt Christine Wahl, wie Mondtag mit seiner "krassen Energie" derzeit das Berliner Theaterleben elektrisiert: "Mondtag inszeniert das thebanische Herrschergeschlecht als einen zombiehaften Greisenverein mit geröllartigen Gesichtsfalten, der bereits seit zweieinhalbtausend Jahren durch die Menschheitsgeschichte irrlichtert - und selbstredend nichts dazugelernt hat. Gelegentlich sprechen diese Tragöden, die hier gern als filmzitathafte Komödianten auftreten, momentweise aber auch wie unfreiwillige Pathos-Parodisten wirken, vom Nahostkonflikt oder von Donald Trump. Und im Parkett sitzt nicht nur tout Berlin, sondern überhaupt alles, was in der deutschsprachigen Theaterszene Rang und Namen hat."

In der Berliner Zeitung fand Christian Rakow dieses Zombie-Dinner durchaus einleuchtend: "Das ödipal erschlaffte Bürgertum trippelt der eigenen Abschaffung entgegen: 'Komm, Antigone, / Heiligen Rausch trag in das Land, / Sei mit uns. Führe uns', hämmert es aus den Lautsprechern. Eine finstere Zeitdiagnose. Die Kämpfe nahen." In der taz nagt Katrin Bettina Müller noch an dem Knochen, den ihr Mondtag hingeworfen hat. FAZ-Kritikerin Irene Bazinger ließ die Inszenierung trotz aller stilistischen Konsequenz kalt: "Seine Inszenierung ist ein unheimlich düsteres, beklemmend schauriges Familienszenario, in dem es nur greise, wackelige, bösartige, einzig auf Macht und Gewalt erpichte Untote gibt." Michael Wolf meint in der Nachtkritik: "Ein Soapcast auf Speed, nur eben in Zeitlupe, arthritisch. "

Besprochen werden Armin Petras' Inszeneirung von Eugene O'Neills "Eines langen Tages Reise in die Nacht" als "großes Schauspielerfest" (Nachtkritik) Toshiki Okadas Stück "Nō Theater" an den Münchner Kammerspielen (SZ), Rebekka Kricheldorfs Grimm-Bearbeitung "Das blaue Licht/Dienen" am Kasseler Staatstheater (FR), Matthias Hartmanns Kleist-Abend am Düsseldorfer Schauspielhaus (Nachtkritik).
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Literatur

Sehr alt fühlt sich die 1956 geborene niederländische Autorin Pauline de Bok manchmal, wenn sie von ihrem Hochsitz in Mecklenburg aus das Wild betrachtet und über den Zustand der Welt meditiert, erzählt sie in der NZZ: "'Hör auf dein Gefühl', hatte die Generation der sechziger Jahre proklamiert. Mittlerweile galt 'Ich empfinde das nun mal so' als entscheidendes Argument. Jede Generation gebiert die folgende. Eineinhalb Jahre habe ich den Zustand der Welt vom Mecklenburger flachen Land aus verfolgt, wo sich das Ende der Eiszeit bis heute tief in die Landschaft eingegraben hat, wo Dreißigjähriger Krieg, Zweiter Weltkrieg und realsozialistische Diktatur ihre Spuren hinterlassen haben. ... Erst während meines Aufenthaltes hier begann mir zu dämmern, dass 'meine Welt' ihrem Ende entgegenging.

Jürgen Ritte meldet in der NZZ Zweifel an, dass ein kürzlich der Öffentlichkeit präsentierter Filmschnipsel tatsächlich, wie behauptet, Marcel Proust zeigt: Sollte der auf seine Kleidung penibel achtende Schriftsteller "dermaßen underdressed zu diesem gesellschaftlichen 'event' erschienen sein? Mit Melone statt Zylinder? In Grau statt in Schwarz? Um dann auch noch, entgegen aller Konvention, an der hochrangigen Gesellschaft vorbei die Treppe hinunterzuwieseln?" Im übrigen habe die Forscherin Laure Hillerin den Schnipsel "schon vor einigen Jahren gesichtet und damals geschrieben, dass es theoretisch Proust sein könnte, den man dort sehe. Allein, ihr fehlte der Glaube. Und damit lag sie vielleicht richtig."

Weiteres: Im Deutschlandradio Kultur unterhält sich Simone Rosa Miller mit Lorenz Jäger über Walter Benjamin, über den Jäger gerade eine Biografie verfasst hat.

Besprochen werden ein von Helmut Peitsch und Helen Thein herausgegebenes Buch über "Literatur, Pop und Politik bei Ronald M. Schernikau" (Jungle World), neue Musikerromane von William Gass und Joshua Cohen (NZZ), Imbolo Mbues "Das geträumte Land" (Tagesspiegel), Raoul Schrotts "Erste Erde. Epos" (Zeit), Franzobels "Das Floß der Medusa" (Welt), Dieter Borchmeyers "Was ist deutsch?" (SZ) und neue Hörbücher, darunter eine Box mit herausragenden WDR-Hörspielen aus sechs Jahrzehnten (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans Christoph Buch über Gerd-Peter Eigners "Das Mammut":

"Angeblich vom Erdboden verschwunden
seit es die Menschheit gibt
taucht es in Rudeln auf
..."
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