Efeu - Die Kulturrundschau

Kraftvoll und konfliktfreudig

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20.09.2017. Die SZ erlebt mit Björks neuem Video ein Feuerwerk erotisierter Synapsen. Die taz lernt auf der Istanbul Biennale die irritierende Fröhlichkeit der türkischen Kunstszene zu verstehen. Der Guardian feiert Edgar Degas als großen Voyeur. Die NZZ begrüßt die zaghafte Rückkehr Franz Schrekers auf die Opernbühnen. Und der Tagesspiegel beneidet Joachim Lottmann um seinen unverändert jugendlichen Sound im "Fritz Brinkmann Buch".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.09.2017 finden Sie hier

Kunst



Edgar Degas: Nach dem Bad, sich abtrocknende Frau, 1890/95. National Gallery, London

Die National Gallery in London zeigt in einer großen Schau die Sammlung des schottischen Schiffsmagnaten William Burrell, und Guardian-Kritiker Jonathan Jones erlebt den Impressionisten Edgar Degas darin ganz neu, und zwar als großen Voyeur: "Kunstkritiker haben über Degas stets gesprochen, als wäre er geschlechtslos. Degas, der von sich selbst sagte, er lebe enthaltsam, und laut seinem Zeitgenossen Manet 'unfähig war, eine Frau zu lieben', wurde in seiner Asexualität so hochstilisiert, dass wir seine Darstellungen von Balletttänzerinnen als etwas rein Künstlerisches sehen. Das müssen wir überdenken. Wo lag für Degas der Unterschied zwischen dem Besuch einer Ballettprobe und dem Besuch eines Bordells? In beiden Fällen beobachtete er nur, allerdings war sein Blick nie der eines unschuldigen Beobachters gewesen... Es gibt nichts Ängstliches oder Unterdrücktes in seiner Kunst, dafür etwas Mystisches oder Transzendentes. Degas destilliert so viel in die Erfahrung des Sehens, dass es zugleich erotisch und erhaben wird, eine Art religiöser Verzückung."

In der taz nimmt Ingo Arend die Istanbul Biennale und ihre Kuratoren gegen den Vorwurf in Schutz, in Erdogans Türkei Normalität zu inszenieren. Klar, so politisch wie in den 1990er Jahren werde die Kunst in der Türkei nicht mehr werden, meint er, aber sie versuche immerhin noch die Selbstbehauptung: "Erst im Februar hatte Erdoğan in einer Rede angekündigt, dass man in der Kultur noch am wenigsten erreicht habe. Insofern war die irritierende Fröhlichkeit, mit der am Bosporus ein Programm abgespult wurde, das der Berliner Art Week in nichts nachstand, weniger ein Signal zur Entwarnung. Kunst hat hier eher die Funktion, die Biennale-Direktorin Bige Örer auf der Eröffnung im Garten der alten französischen Botschaft mit den Worten beschrieb: 'Einfach mal durchatmen'."

Gabriele Detterer freut sich in der NZZ über die britische Studie "Creative Health", die herausgefunden hat, dass Kunst und regelmäßige Museumsbesuche sich positiv auf die Gesundheit der Menschen ausüben. Sollten vielleicht Museumsbesuche ärztlich verschrieben werden?, fragt sich Detterer, warnt aber vor Nebenwirkungen: "Doch leider ist es in der Kunstwelt so, dass oft gerade effekthascherischer Brutalo-Kunst die Aufmerksamkeit des Publikums gilt. Müsste man also letztlich nicht vielmehr all diejenigen Kunstbetrachter in die Therapie schicken, die Werke wie die 'Mühle des Blutes' oder 'Real Nazis' gut finden? Und mit ihnen nicht am besten gleich auch die Künstler selber?"

Besprochen wird die Jean-Fouquet-Ausstellung in der Berliner Gemäldegalerie, die erstmals in Deutschland sein berühmtes Altar-Diptychon zeigt (FAZ).
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Literatur

Auf der Website der Gesellschaft der Literaturfreunde Frank Hornung e.V. lassen sich bislang 21 Kapitel aus Joachim Lottmanns "Fritz Brinkmann Buch" lesen, meldet Gerrit Bartels im Tagesspiegel. Darin gibt der Popliterat Anekdoten aus seiner Adoleszenz zum Besten, erfahren wir: "Einmal beginnt er ein Kapitel mit dem Satz: 'Ich schreibe auf, wie es war, wie es mir jetzt noch einfällt'. Da stutzt man dann doch. Denn wie es sich bei Lottmann gehört, wird nie so recht klar, ob es sich bei dem Fritz-Brinkmann-Buch um frühe Texte handelt. Um lost tapes, gar um die Romanmanuskripte aus der Berlin-Mitte-Wohnung? Oder ob der mittlerweile über sechzig Jahre alte Lottmann sich aktuell schreibend seiner Jugend erinnert? Der Ton des jungen Mannes sei 'vertraut und bis heute unverändert', verkündet Lottmann."

Weiteres: In der Berliner Zeitung unterhält sich Harry Nutt mit Michael Rutschky.

Besprochen werden Linda Boström Knausgårds "Willkommen in Amerika" (ZeitOnline), Kazuo Koikes Manga-Klassiker "Lady Snowblood" (Tagesspiegel), Mathieu Riboulets "Und dazwischen nichts" (SZ) neue Kriminalromane von Simone Buchholz, Lucie Flebbe und Graham Norton (FR) sowie Gerschon Schoffmanns Erzählband "Nicht für immer" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Bühne


Franz Schreker "Gezeichnete" am Theater St. Gallen

Mutig findet Christian Wildhagen in der NZZ, dass sich das Theater Sankt Gallen an eine Neuinszenierung von Franz Schrekers Oper "Die Gezeichneten" wagt (auch wenn Regisseur Antony McDonald mitunter etwas brachial den hohen Idealismus des Stückes breche): "Nicht einmal bei den Besten unter den verfemten Opernkomponisten jener Epoche kann die Rede davon sein, dass sie die Glasglocke der Rezeption wirklich durchstoßen hätten."

Weiteres: Josef Kelnberger berichtet in der SZ, wie die Stuttgarter Oper die Inszenierung von "Hänsel und Gretel" fortschreibt, ohne und doch mit dem unter Hausarrest gesetzten russischen Regisseur Kirill Serebennikow. In der Berliner Zeitung berichtet Ulrich Seidler vom Gezerre um Francis Kérés Theaterentwurf für den Tempelhofer Flughafen, bei dem offebar die Utopien der Volksbühnenkuratoren böse mit reellen Verbindlichkeiten kollidieren. In der Nachtkritik gibt Christian Rakow Hilfestellung, um den anhaltenden Streit um Chris Dercon noch zu verstehen.

Besprochen werden Hans Neuenfels' Inszeneirung von Mozarts früher Oper "Lucio Silla" am Theater Basel (SZ), das Shakespeare-Potpourri "The Queen's Men" am Düsseldorfer Schauspielhaus (die Martin Krumholz in der SZ recht überkandidelt findet) und Tom Stoppards Konversationsstück "The Hard Problem" am Staatstheater Wiesbaden (FR).
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Film

Im Tagesspiegel richtet Andreas Busche fünf Fragen an Ilka Brombach, Leiterin des Potsdamer Festivals "Moving History". Für die Filmgazette hat Nikolai Bühnemann das Actionfilm-Festival "Karacho" in Nürnberg besucht. Im Standard empfiehlt Dorian Waller das auf blutige Kost spezialisierte /Slash-Festival in Wien.

Besprochen werden Ildikó Enyedis Berlinalegewinner-Film "Körper und Seele" (Berliner Zeitung, SZ, unsere Kritik hier), Vibeke Idsøes "Das Löwenmädchen" (Welt), Destin Daniel Crettons Verfilmung von Jeannette Walls' Roman "Schloss aus Glas" (taz) und Ken Burns' im Original 18-stündiger Mammut-Dokumentarfilm über "Vietnam", von denen Arte leider nur die Hälfte zeigt (Welt).
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Stichwörter: Actionfilm, Vietnam, Dorian, Burns, Ken

Architektur

In der FAZ hofft Marine Vazzoler inständig, dass Emmanuel Macron zu der Tradition französischer Präsidenten zurückkehren wird, sich auch baulich in die Geschichte einzuschreiben.
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Stichwörter: Macron, Emmanuel

Musik

Mit einigem Interesse hat sich Jan Kedves das neue Video von Björk angesehen, mit dem die Isländerin ihre etwas angeschlagene Karriere künstlerisch auffrischen will. "Der genialische junge Produzent Alejandro Ghersi alias Arca aus Venezuela, mit dem Björk wieder zusammengearbeitet hat, lässt sie einem elastischen Taktmaß gehorchen und türmt sie zu wunderbaren, gleich wieder in sich zusammenfallenden digitalen Kaskaden auf", schreibt Kedves in der SZ. "Jede Kaskade entfacht ein Feuerwerk der spektralfarben herumwirbelnden und zischenden CGI-Animation. ... Während Björk sich irgendwann kokett den Daumen lutscht, schießen die erotisierten Synapsen wie Pyrotechnik aus ihrem kaleidoskopisch ausgefaltetem Zauberkleid heraus."



Isabel Herzfeld resümiert in der FAZ die Würdigungen beim Musikfest Berlin zu Ehren des Komponisten Isang Yun, der am letzten Sonntag 100 Jahre alt geworden wäre. Die Aufführung von "Dimensionen" kann man beim Deutschlandfunk Kultur nachhören: Dirigent Vladimir Jurowski "eröffnete damit sein Antrittskonzert beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin kraftvoll und konfliktfreudig", schreibt Herzfeld dazu.

Besprochen werden Madonnas neuer Konzertfilm "Rebel Heart Tour" (FR), ein Konzert von Diana Krall (Standard), Wolf Biermanns "Demokratie feiern - demokratisch wählen"-Tournee (Berliner Zeitung, Tagesspiegel), das neue Album von Cro (FAZ) und die Autobiografie "Der Klang der Maschine" des ehemaligen Kraftwerk-Drummers Karl Bartos (FAZ).
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