Efeu - Die Kulturrundschau

Bei lebendigem Leibe ins Paradies

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22.09.2017. Der Tagesspiegel staunt über die hundert Jahre alten Utopien des Künstlers Wenzel Hablik. Dagegen findet die NZZ die Utopien Ai Weiweis künstlerisch wenig ergiebig. In der HNA kritisiert Gregor Schneider die Hybris der documenta. Der Freitag porträtiert den Theatermacher Ersan Mondtag, der uns im Frankfurter MMK 2 in den Bandwurm der Maria Callas locken will. Die taz lernt in Stuttgart, wie der Punk nach Schwaben kam. Nichts ist vergangen, versichert Ingo Schulze im Gespräch mit dem Tagesspiegel.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.09.2017 finden Sie hier

Kunst


Wenzel Hablik, Sternhimmel, 1913. © Wenzel-Hablik-Stiftung

Christian Schröder besucht für den Tagesspiegel im Berliner Martin-Gropius-Bau die Retrospektive des vor 80 Jahren verstorbenen Malers, Designers und Utopisten Wenzel Hablik und staunt: "Mit seinen Radierungen hat Hablik das Programm für eine künftige, bessere Welt umrissen. Der Architekt Bruno Taut lässt sich von einer riesigen, im Himmel schwebenden Halbkuppel aus der Bilderfolge zum Bau eines Glashauses für die Kölner Werkbund-Ausstellung 1913 inspirieren. Paul Scheerbart liefert optimistische Parolen dazu: 'Das bunte Glas zerstört den Hass.' Hablik hofft auf einen 'Aufbruch bei lebendigem Leibe ins Paradies', wie ihn der Publizist Kurt Hiller ankündigt."


Ai Weiwei, The Animal That Looks Like a Llama but is Really an Alpaca, 2015. Vue de l'installation, New Industries Building à Alcatraz, Californie. IMAGES © Studio Ai Weiwei

Anlässlich einer großen Ausstellung Ai Weiweis im Musée cantonal des Beaux-Arts in Lausanne fragt sich Philipp Meier in der NZZ, ob dieser wirklich ein Künstler oder nicht doch eher ein politischer Aktivist ist. Meier sieht ihn eher als letzeres: "Dabei verfügt sein Schaffen über keine sehr genuine Kunstsprache. Es gibt zahlreiche viel bessere chinesische Künstler. Ein Blick etwa in die Sammlung von Uli Sigg genügt, um diese Feststellung mit etlichen Beispielen zu untermauern. Gut ist Ai Weiweis Kunst vor allem wegen ihrer Aussage, denn was kann man schon gegen Kunst einwenden, die sich für Menschenrechte und Freiheit starkmacht. Wirklich Neues und Eigenständiges ist da aber wenig."

Florian Hagemann unterhält sich für die HNA mit dem Künstler Gregor Schneider über die Documenta, und der hat einige Kritik, die über die Person des Kurators Adam Szymczyk hinausgeht: "Eine Großausstellung konnte dem Anspruch, einen Kunstquerschnitt der Zeit abzubilden, aber noch nie gerecht werden. Ganze Künstlergenerationen haben sich in der Vergangenheit ohne eine documenta kunsthistorisch durchgesetzt. Die Hybris einer selbsternannten Weltkunstausstellung nervt. Die documenta legitimiert sich nur durch ihre Geschichte und macht ihre jetzigen Kuratoren zu Trittbrettfahrern."

In Peking hat Außenminister Sigmar Gabriel gerade die Ausstellung "Deutschland 8" eröffnet, die 320 Werke von 55 deutschen Gegenwartskünstler zeigt. Der Tagesspiegel druckt Gabriels Eröffnungsrede, in der er die "Kunst der Diplomatie" hervorhebt. Monopol macht darauf aufmerksam, dass die Ausstellung ganz undiplomatisch von dem Rüstungskonzern Rheinmetall gesponsert wird, was sechs der in China ausgestellten Künstler - Hito Steyerl, Clemens von Wedemeyer, Antje Ehmann in Vertretung des verstorbenen Harun Farocki, Marcel Odenbach, Julian Rosefeldt  und Rosemarie Trockel - zu einem offenen Protestbrief veranlasste: "'Wir haben erst durch die Einladungskarte von den diversen Sponsoren gehört', sagt Odenbach auf Anfrage von Monopol. 'Unser Protest hat grundsätzlich nichts mit China zu tun.' Stattdessen verwehren sich die Künstler dagegen, 'einem solchen Konzern jegliche Art von Imagegewinn zu verschaffen.'"

Weitere Artikel: Die Tate Modern bereitet für das nächste Frühjahr eine Picasso-Ausstellung vor, die sich auf das Jahr 1932 konzentrieren will, berichtet Hannah Ellis-Petersen im Guardian. Besprochen wird die Ausstellung "Takashi Murakami: The Octopus Eats Its Own Leg" im Museum of Contemporary Art Chicago (hyperallergic).
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Literatur

Im Tagesspiegel spricht Gerrit Bartels mit Ingo Schulze über dessen Wenderoman "Peter Holtz", bei dem es dem Schriftsteller wichtig war, ihn im Präsens zu halten: "Dieser Held ist immer an sein Jetzt gekettet, da fehlt der Hallraum, das raunende Imperfekt, aber dafür gewinne ich Unmittelbarkeit, nichts ist vergangen."

Weiteres: Der S. Fischer Verlag dokumentiert in seinem Blog Hundertvierzehn die Rede, die Schriftsteller Thomas Hürlimann bei der Beerdigung des Verlegers Egon Ammann gehalten hat. Judith von Sternburg hat für die FR eine Lesung von Ferdinand Schmalz in Frankfurt besucht. Besprochen werden Uwe Timms "Ikarien" (SZ) und Michael Stavarics "Gotland" (NZZ).
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Bühne


Aus der kommenden Ausstellung "I am a Problem": Jack Smith, Ohne Titel, 1958-1962/2011, Courtesy Jack Smith Archive and Gladstone Gallery New York and Brussels

Im Freitag porträtiert Alexander Jürgs den Berliner Theatermacher Ersan Mondtag, der gerade im Frankfurter MMK 2 seine Ende September eröffnende Ausstellung "I am a Problem" über Maria Callas' Bandwurm (mit dessen Hilfe sie sich angeblich schlank hungern wollte) einrichtet. Selbstoptimierung ist sein Thema: "Im Zentrum seiner Museumsausstellung wird die Beschäftigung mit dem Körper stehen, mit der Bearbeitung, mit der Deformation - auch das ist ein wiederkehrendes Thema und Motiv in Mondtags Arbeit. Den Aufbau plant er so, dass man sich als Besucher in Maria Callas' Magen wähnen soll. Aus gelben und schwarzen Lkw-Planen will er 'einen begehbaren Bandwurm' bauen. Die Werke von Künstlern wie Kader Attia, Vanessa Beecroft, Teresa Margolles, Juergen Teller oder Rosemarie Trockel werden dabei zu Figuren - die Mondtag auch sprechen lässt."

Caspar Shaller stellt auf Zeit Online den syrischen Regisseur Mohammad Al Attar vor, von dem zwei Stücke im kommenden Herbst in zwei Berliner Theatern zu sehen sein werden, nämlich "Aleppo. A Portrait of Absence" im Haus der Kulturen der Welt und "Iphigenie" an der Volksbühne. Über die starke Präsenz Geflüchteter an deutschen Theatern meint Al Attar, manchmal "folge man bloß der aktuellen politischen Korrektheit. Leider gingen solche Stücke selten über die Ebene der Gefühle hinaus, und sie reduzierten Geflüchtete auf diese eine enge Kategorie. Zum wirklichen Denken regten diese Stücke kaum an: 'Ach, da stehen ein paar arme Opfer, da muss ich ja klatschen. Aber ich will keinen Applaus aus Mitleid, ich will Applaus, weil der Abend künstlerischen Ansprüchen genügt!'"

Weitere Artikel: In Berlin will eine Gruppe von Castorf-Fans die Volksbühne besetzen, berichtet Hannes Soltau im Tagesspiegel und fasst sich an den Kopf: "In Berlin erfolgt Chris Dercons Verurteilung ohne Prozess, auf Grundlage eines Ticketdenkens, das sich verkürzter und personifizierter Kapitalismuskritik bedient."

Besprochen werden Christopher Rüpings Adaption von Sinclair Lewis' Roman "It can't happen here" für das Deutsche Theater in Berlin (nachtkritik, Berliner Zeitung, taz) und Stephen Unwins Inszenierung von Tom Stoppards "The Real Thing" in Cambridge (NZZ).
Archiv: Bühne

Design

Besprochen werden die Ausstellung "Sibylle - Die Fotografen" (Freitag) in den Opelvillen Rüsselsheim und die Ausstellung "Bildfabriken. Infografik 1920-1945" im Deutschen Buch- und Schriftmuseum in Leipzig (Welt).
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Stichwörter: Infografik

Film


Erinnert an Antonioni: Naoko Yamadas "A Silent Voice"

Ganz verliebt ist Daniel Kothenschulte in den dezenten, japanischen Coming-Of-Age-Animationsfilm - ein in Japan beliebtes Subgenre, von dem mit Naoko Yamadas "A Silent Voice" jetzt ein Abgesandter ins Kino kommt. Seine Empfehlung lässt aufhorchen: "Wer den Zeichentrickfilm nur in einer Märchentradition verortet, weiß nicht, welchen behutsamen Zauber Aquarell-Hintergründe von obskuren Klassenräumen, Computer-Terminals oder Krankenhausbetten entfachen können", schwärmt Kothenschulte in der FR. Dann und wann "durchbrechen kurze, visionäre Traumsequenzen den scheinbaren Realismus. Und wenn die Architektur im Hintergrund der Vorort-Kulisse seelische Zustände beschreibt, fühlt man sich gar an Antonioni erinnert."


Saubere IS-Kämpfer in "The State"

Für seine Serie "The State" über vier junge Briten, die sich dem IS anschließen und dort dann militärisch ausgebildet werden, hat Regisseur Peter Kosminsky zwar minutiös recherchiert, hält Yassin Musharbash auf ZeitOnline fest. Dennoch stimmt da irgendetwas nicht, schreibt der Thriller-Autor und Terrorismus-Experte in seiner Besprechung und kommt dann drauf: "Es ist zum Beispiel viel zu sauber. Nirgendwo im Nahen Osten und schon gar nicht in den vom IS beherrschten Gebieten gibt es ein Klassenzimmer, das derart aseptisch ist, in dem so funkelnagelneue Tische stehen, in dem sogar der Ventilator in der Ecke so jungfräulich aussieht, dass man fast wetten möchte, es hänge noch ein Preisschild dran. ... Und spätestens, wenn selbst die Wohnungen der IS-Kämpfer strahlend weiße Wände haben, und nicht mal im Unterschlupf auf dem Schlachtfeld Staub von der Decke rieselt, kommt man sich vor, als sei man in einer Terrornovela gefangen."

Weiteres: Für Mubi unterhält sich Patrick Holzapfel mit Christoph Hochhäusler und Christian Petzold.

Besprochen werden Jakob Lass' Mumblecore-Romanze "Blind und Hässlich" (Tagesspiegel, mehr dazu im gestrigen Efeu), Hella Wenders Dokumentarfilm "Schule, Schule" (Tagesspiegel), Joseph Cedars "Norman" mit Richard Gere (Tagesspiegel), Ildikó Enyedis "Körper und Seele" (Zeit, FR), Daniel Crettons Verfilmung von Jeannette Walls' Memoiren "Schloss aus Glas" (Tagesspiegel, Welt) und Harald Sicheritz' "Baumschlager" (Standard).
Archiv: Film

Musik

Nach Kate Tempests Absage ihres von Chris Dercon als popkultureller Coup lancierten Auftritts an der Volksbühne-Außenstelle auf dem ehemaligen Flughafengelände in Tempelhof fasst Jens Balzer auf ZeitOnline die Debatte rund um die antisemitische BDS-Kampagne, die derzeit reichlich Gift in Pop und Kultur spritzt, zusammen. Hintergrund ist der, dass Tempest eine Unterstützerin der Kampagne ist und offenbar wiederum von deren Kritikern erboste Mails erhalten hatte. "Wir erleben gerade, wie der Nahostkonflikt mit seinen unerbittlichen Polarisierungen in das deutsche Kulturleben Einzug hält", schreibt Balzer. "Und wie die Kultur, die doch ein Ort der Utopie und der Versöhnung sein sollte, noch ein bisschen mehr zu einem Ort des Kampfes und der Feindschaft geworden ist." Hier Tempests - auf Deutsch verfasstes - Statement auf Facebook.

Punk war bekanntlich ein "Kunsthochschul-Ding" - zumindest erzählen uns das die historisierenden Ausstellungen und archivarischen Aufarbeitungen der letzten rund 15 Jahre. Sehr dankbar ist taz-Autor Aram Lintzel, selbst Szeneveteran, daher der Ausstellung "Wie der Punk nach Stuttgart kam & wo er hinging", die derzeit im Württembergischen Kunstverein stattfindet. Diese lege nämlich "die allzu gern verleugneten 'proletarischen' Anteile von Punk" offen. "Schwäbische Punkgeschichte belegt somit eine These des britischen Subkulturchronisten Jon Savage: Punk und Postpunk kamen aus der Peripherie. ... Wenn man schon mit kunsthistorischen Kategorien arbeiten will, dann folgten die im Jugendzentrum gegründeten Normahl genauso wie Chaos Z und Ätzer 81 eher einer Art-Brut-Ästhetik." In diesem Sinne: Hoch das Dosenbier und auf in einen zünftigen Morgen-Pogo mit "Stuttgart Kaputtgart":



Weiteres: In der Welt befasst sich Richard Kämmerlings mit dem neuen Album "Tru" von Cro, dem er bescheinigt, den "narzisstischen Selbstsilisierungen", wie sie im Hiphop typisch sind, "existenzielle Dimensionen abzugewinnen." Zum 60. Geburtstag von Nick Cave würdigt Beat Grossrieder den Musiker in der NZZ als "den perfekten Kapellmeister, der mit uns auf die Achterbahn des Alltags steigt und für jede Seelenlage den passenden Tusch bereithält. ... ... Schönheit oder Schrecken gibt es bei Cave nicht - immer wirken Schönheit und Schrecken gleichzeitig." In der Neuen Musikzeitung bespricht Ursula Gaisa Reinhard Kleists Comicbiografie über Cave.

Besprochen werden das neue Album von Tori Amos (taz) und neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album "Ununiform" von Tricky (ZeitOnline).


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