Efeu - Die Kulturrundschau

Zur ewigen Transformation verdammte Flüchtigkeit

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13.08.2021. Die FAZ staunt im Kunsthaus Bregenz, wie Anri Sala die Musik zur Akteurin seiner Installationen macht. In der SZ versucht Helmut Mauró seinem FAZ-Kollegen Jürgen Kesting das Phänomen Teodor Currentzis zu erklären. Außerdem erinnert sie daran, wie sehr vor allem Punkrocker die Mauer liebten. Zeit online feiert Sîan Heders Indie-Film "Coda", der von einer Hörenden inmitten von Gehörlosen handelt. Die NZZ fragt sich: Wurden die buddhistischen Kulthöhlen aus Xinjiang, die gerade im Humboldt Forum aufgebaut werden, geraubt oder gerettet?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.08.2021 finden Sie hier

Kunst

Lässt Tschaikowsky im Schneckentempo spielen: Anri Sala


Musik und Kunst, das vereint sich selten. Meist darf die Kunst nur als schöne Begleiterin mitmachen. Ganz anders ist es bei Anri Sala, dessen Installationen im Kunsthaus Bregenz die Musik zur Akteurin machen. FAZ-Kritikerin Alexandra Wach ist beeindruckt, während sie sich durch die Installation "Day Still Night Again" tastet: "Sala gelingt der Effekt des Taumelns mit einfachsten Mitteln: Er projiziert eine Aufnahme der jeweiligen Wand direkt auf das Original und verändert dabei die Schärfe. Gesteuert wird das Schauspiel einer sich häutenden Oberfläche durch eine Musikpartitur: Erklingt eine Note, schärft sich die Projektion. In der Stille verliert sie ihre Lebenskraft. Und wie zur Bekräftigung dieser zur ewigen Transformation verdammten Flüchtigkeit kriecht ein Stockwerk tiefer eine lebende Weinbergschnecke, wie angetrieben vom Scheinwerferlicht, einen Bratschenbogen hoch, als ob sie schon immer auf diesen Auftritt gewartet hätte", und zwingt so den Bratschisten Gérard Caussé, der Strawinskys "Elegie für Viola" im Tempo ihrer Bewegung spielt, immer wieder zu Unterbrechungen. So wird "If and Only If" für Wach "zur Reise ins Unberechenbare des Moments".

In der NZZ erzählt Minh An Szabó de Bucs die Geschichte der buddhistischen Kulthöhlen mit ihren großartigen Fresken aus dem China des 5. und 7. Jahrhunderts, die gerade im Humboldt Forum aufgebaut werden. Sind sie Raubkunst? Das ist nicht so einfach zu sagen: Deutsche Forscher hörten vor 120 Jahren von ihnen und fanden sie in miserablem Zustand vor, an dem sich bis heute nicht viel geändert zu haben scheint: Bewohner der Gegend benutzten den Maluntergrund zum Feuermachen. Also sägten die Forscher große Platten aus und nahmen sie mit. Haben sie die Objekte damit nun gerettet oder geraubt? "Grünwedel und Le Coq besaßen für den Abtransport wohl das mündliche Einverständnis der damaligen lokalen Han-Regierung in Xinjiang wie auch der örtlichen Turkfürsten. Ob und wie viel sie gezahlt oder getauscht haben, ist nicht bekannt. Und wie schätzt das Professor Hu Wei von der Schanghaier Tongji-Universität ein, der zum internationalen Expertenteam der Humboldt-Stiftung gehört? Er glaubt kaum, dass es ein fairer Handel war. Das deutsche Kaiserreich sei damals mächtiger als das mandschurische Kaiserreich gewesen, nur so konnten die kulturellen Relikte entwendet werden. Aber er räumt ein, dass der Abtransport mitunter die Relikte vor der Zerstörung durch die einheimische Bevölkerung bewahrt habe."

Weiteres: In der taz-Reihe über Kunstvereine in Deutschland widmet sich Bettina Maria Brosowsky heute dem Kunstverein Wolfsburg. Silke Hohmann empfiehlt bei monopol die Ausstellung des Fotojournalisten Stephan Erfurt "On the road" in der Newton Foundation in Berlin.
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Film

Die Grammatik der Gesten: "Coda" (Apple)

Völlig hingerissen ist Jens Balzer auf ZeitOnline von Sîan Heders von Apple gestreamten Indie-Film "Coda", der schon in Sundance Erfolge feiern konnte. Der Film handelt von einer Hörenden inmitten von Gehörlosen. "Es ist nie zu spät, eine neue Sprache zu lernen. Nach diesem Film fühlt man sich dazu sofort motiviert, so elegant, poetisch, laut, lustig und ruppig ist das ungewohnte Idiom, in dem die Menschen hier schimpfen, flirten, streiten und sich über alles verständigen, das im Leben von wahrhafter Wichtigkeit ist." Schnell hat der Kritiker den Eindruck, "mit dem ungewohnten Idiom ganz vertraut geworden zu sein, und betrachtet die ornamentale Grammatik der Gesten, der Mimik und Körperbewegungen mit großer Freude und Faszination. ... Wir sehen hier einem Ensemble zu, das eine Mission besitzt, und man merkt es dem Film in jedem Moment an - durch die völlige Abwesenheit von missionarischem Ernst. Alle agieren hier gleichermaßen konzentriert und selbstverständlich, lässig und witzig und variationsreich."

Der Regisseur Peter Fleischmann ist im Alter von 84 Jahren gestorben. Mit Filmen wie "Die Hamburger Krankheit", "Jagdszenen aus Niederbayern" und "Herbst der Gammler" war er einst einer der kontroverseren Protagonisten des Neuen Deutschen Films - in den letzten Jahren es ist ruhig um ihn geworden. "Er hatte einen siebten Sinn für nahendes Unheil aller Art" und er war "eine Art deutscher Orson Welles, der immer größer und weiter sah als andere", erinnert sich Volker Schlöndorff im Tagesspiegel. "Sein Opus magnum war hier schon früh 'Das Unheil'. Der Film von 1972 nimmt sämtliche Umweltverschmutzungsthemen vorweg." Und "wenige Jahre später ahnte Peter Fleischmann dann eine große Seuche voraus, die 'Hamburger Krankheit', mit dem großartigen Ulrich Wildgruber. Dabei machte der sich ein diebisches Vergnügen daraus, die gesamte Bundesrepublik in Panik zu versetzen und sarkastisch das Scheitern aller Katastrophenschützer vorzuführen." Weitere Nachrufe schreiben Hanns-Georg Rodek (Welt) und Fritz Göttler (SZ).

Weitere Artikel: Im Zeit-Gespräch sieht der Kinokettenbetreiber Kim Ludolf Koch in Scarlett Johansson, die gerade Disney verklagt, weil der Konzern ihren Blockbuster "Black Widow" parallel zum Kinostart auch per Streaming angeboten hat, als natürliche Verbündete an. In Locarno sieht NZZ-Kritiker Urs Bühler die Actionkomödie "Cop Secret", das Regiedebüt des isländischen Nationaltorwarts Hannes Þór Halldórsson. Für ZeitOnline sichtet Anke Sterneborg Filme über Demenz. Impfgegner vereinnahmen den Zombiefilm "I Am Legend" mit Will Smith, meldet David Steinitz in der SZ.

Besprochen werden David Schalkos Serie "Ich und die Anderen" (NZZ), die mit Emmy-Nominierungen überhäufte Serie "Ted Lasso" (Freitag), Michel Francos mexikanischer Thriller "New Order" (Tagesspiegel, Freitag), Ferdinando Cito Filomarinos auf Netflix gezeigter Thriller "Beckett", der in diesem Jahr das Filmfestival Locarno eröffnete (Presse, unser Resümee), Anne Zohra Berracheds "Die Welt wird eine andere sein" (Tagesspiegel, Welt), Franziska Stünkels "Nahschuss" (Welt, weitere Kritiken hier), die von Arte online gestellte Serie "Die Schläfer" (FAZ), Sabine Herpichs Dokumentarfilm "Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist" (taz), Euros Lyns Komödie "Dream Horse" (SZ), die SF-Komödie "Free Guy" mit Ryan Reynolds (Standard) und ein neuer Animationsfilm mit Tom & Jerry (FAZ).
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Bühne

Jürgen Kesting hatte kürzlich in der FAZ sein Unbehagen am Auftritt des Dirigenten Teodor Currentzis mit Mozarts "Don Giovanni" in Salzburg beschrieben, dem er "einen schamlosen Ego-Trip" vorwarf (unser Resümee). Ach was, schneller gespielt als man es gewohnt ist, hat doch auch mal Nikolaus Harnoncourt, meint darauf heute Helmut Mauró in der SZ. Vielleicht beunruhigt die Kritiker weniger das Tempo als die "Phänomene, die Currentzis in der Partitur sah und mit seinem Orchester in Klang übertrug"? Mauró versucht das mit einer Symphonie von Mozart zu erklären: "Die ungeheure Düsternis von Mozarts g-Moll-Symphonie etwa, in der Currentzis jüngst bei seinem Salzburger Konzert das gesamte Orchester wie eine Stimme in einem Atem hauchend ersterben ließ. Sekundenlang. Und zwar nicht erst am Ende, sondern gleich im ersten Drittel des Kopfsatzes. Der Rest der Symphonie klingt folglich wie aus einem Totenreich, gedämpft, kaum lauter als mezzoforte, wahrlich beunruhigend. Das hat man so noch nicht gehört."
Archiv: Bühne
Stichwörter: Currentzis, Teodor

Literatur

Im englischsprachigen Raum diskutiert man gerade eifrig den Thriller "2034: A Novel of the Next World War", in dem sich der Ex-Marine Elliot Ackerman und der früher hochrangige US-Militär James Stavridis ausmalen, wie eine kleine Streitigkeit zu hoher See sich zum Weltkrieg mit China auswächst. Beide Autoren geben markige Sprüche von sich, wie realistisch das Szenario sei. Moritz Baumstieger hat das Buch für die SZ durchgeschmökert und auf Wahrscheinlichkeiten hin abgeklopft. Vieles sei zwar reißerisch, aber hier und da treffen die beiden ins Schwarze: "Chinesische Hacker knipsen erst die militärischen Kommunikationswege der US-Armee mühelos aus, später die Stromversorgung in den USA, das Internet. 'Alle Imperien verrotten von innen her', lassen die Autoren Lin Bao einmal sagen, einen chinesischen Flottenkommandeur. Der Satz lässt sich einerseits auf den Zustand der Demokratie in den USA und Europa beziehen, der nach beständiger Zersetzung schon heute immer bröseliger wird. Der Satz trifft aber auch auf die mangelnde Innovationsfreude, die veraltete Infrastruktur und geistige Behäbigkeit zu, die den von seinen Erfolgen müde gewordenen Westen heute nach Meinung vieler kennzeichnen."

Weiteres: Arno Widmann meditiert in der FR über das Lesen, das Glück unterschiedlicher Lesarten und Segen und Fluch der selbstauferlegten Lesedisziplin. In der Dante-Reihe der FAZ muss Stefan Trinks beim Lesen all der Superlative in der "Commedia" an griechische Baukunst denken. In den Actionszenen der Weltliteratur erinnert Lothar Struck an den Prozess, der Knut Hamsun nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht wurde. Für Tell unterzieht Sieglinde Geisel Clemens J. Setz' "Die Stunde zwischen Mann und Frau" dem Page-99-Test.

Besprochen werden unter anderem Ljuba Arnautovics "Junischnee" (FR) und Dilek Güngörs "Vater und ich" (Tagesspiegel).
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Musik

Zum 60. Jahrestag des Baus der Berliner Mauer erinnert Peter Richter in der SZ an die fast schon pynchoneske Liebesgeschichte, die zwischen Mauer und Punkrock herrschte: 1977 machten die Sex Pistols Urlaub im Schatten der Mauer und unter den Blicken der Grenzsoldaten und widmeten gleich den Opener "Holidays in the Sun" ihres einzigen Albums dieser Erfahrung. "Eine Stadtmauer, die quer durch die Mitte läuft, dazu eine Stadtmauer, bei der die Eingemauerten Bewegungsfreiheit haben, die Ausgeschlossenen aber festsitzen: So etwas musste zwangsläufig auch die frühen Punks, als Erben von Dada und Surrealismus, in helle Verzückung versetzen." Und "exakt in jenem Herbst 1977 frisierte sich nämlich auch der erste Punk von Ostberlin die Haare steil nach oben. ... Es handelte sich dabei um ein Mädchen aus Köpenick und um einen direkten Einfluss der Westfernsehbilder von den Sex Pistols" und laut einem Buch von Tim Mohr "war das der Anfang von etwas, das in direkter Linie zum 9. November 1989 führte."



Weitere Artikel: Der Bariton Christian Wagner spricht in VAN über seine Auftrittsangst und dass ihm im Musikbetrieb wenig Hilfe angeboten wurde. VAN spricht mit der Musikwissenschaftlerin Beatrix Borchard über das turbulente Leben der Komponistin Pauline Viardot. Bernhold Schmid von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften klärt im VAN-Gespräch über den Renaissance-Komponisten Orlando di Lasso auf. Hannes Soltau freut sich im Tagesspiegel über die hohen Vinylumsätze von Billie Eilish und Taylor Swift, da diese sonst nur Männern glücken. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker diesmal Ruth Zechlin. In der FAZ gratuliert Jan Wiele David Crosby zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Michael Mantlers "Coda" (Standard), die Autobiografie des Labelmachers Alan McGee (taz), eine Neuausgabe von Alvin Currans experimentellem Album "Fiori Chiari, Fiori Oscuri" von 1978 (Pitchfork), das neue Album der Killers (SZ, Pitchfork), das Album "The Metallica Blacklist", auf dem zahlreiche Popmusiker das schwarze Album von Metallica covern (Freitag), ein Tschaikowsky-Konzert des Jugendorchesters Russland unter Valentin Uryupin (FAZ), Anri Salas Musikinstallation im Kunsthaus Bregenz (FAZ) und ein neues Album von John Glacier (taz). Wir hören rein:

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