Efeu - Die Kulturrundschau

Wann werden sie die Bibel rausschmeißen?

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17.03.2023. Der Guardian blickt in London in Leonardo da Vincis menschliche Gesichter, und die blicken recht grotesk zurück. In der Welt wettert Slavoj Zizek gegen Oscar-Abräumer "Everything Everywhere All at Once": Verlogenes Feelgood-Cinema, schimpft er. Im Freitag ärgert sich Margaret Atwood, dass ihr Klassiker "Der Report der Magd" von rechten Frömmlern aus den Schulbibliotheken von Virginia hinausgecancelt wurde. In der FAZ erzählt der Musiker Vasiliy Antipov, wie er die Gewalt in belarussischen Gefängnissen überstand.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.03.2023 finden Sie hier

Musik

Gespannt verfolgt tazlerin Gloria Reményi, wie die gestandenen italienischen Undergroundmusikerinnen Francesca Bono und Vittoria Burattini sich auf ihrem Album "Suono in un tempo trasfigurato" erst in die experimentellen Soundwelten der italienischen Library-Music der Sechziger und Siebziger versenken und mit einem Soundtrack für die Experimentalfilme von Maya Deren wieder auftauchen. Die "rituelle, gar obsessive Wiederholung von soghaften Klangmustern erscheint als musikalische Übersetzung der assoziativen und doch minutiös choreografierten Bewegungen von Derens Filmfiguren." Dabei "machen sich Bono und Burattini die Fähigkeit der US-Filmemacherin zu eigen, eine Begrenzung in ein Sprungbrett zu verwandeln. Denn die minimalistische Instrumentierung ermöglicht es ihnen, reduzierte Klangwelten zu entwerfen und deren Resonanzräume elegant auszuloten - genau wie Deren auf eine leicht zu bedienende 16-mm-Handkamera setzte, um den filmischen Raum dynamisch zu erkunden und die sich darin bewegenden, oft tanzenden Körper einzufangen."



Die Sleaford Mods, "die vielleicht wütendste Band" Großbritanniens, meldet sich mit "UK Grim" zur Freude von tazler Jens Uthoff auf dem Parkett zurück und einmal mehr gelingt es den beiden Musikern mustergültig, "den Status quo Englands zu filetieren", zumal schon der Albumtitel "eine treffende Epochenbeschreibung für zukünftige Historiker werden könnte." Aufs Neue "liefert Fearn stumpfe Beats und garniert sie mit minimalistischen Samples, Williamson rattert dazu seine atemlosen Rants: Ein tiefes Motzen gegen die soziale Schieflage. ... In ihrem unversöhnlichen Brodeln ähneln die Mods von Ferne den Goldenen Zitronen in Deutschland: Man muss nur ein Album dieser Bands hören und bekommt einen guten Eindruck davon, was faul ist im Staate."



FAZlerin Kerstin Holm lässt sich von dem mittlerweile in Deutschland lebenden Musiker Vasiliy Antipov über die bedrückenden Gewaltverhältnisse in belarussischen Gefängnissen erzählen, die er als Dissident über sich ergehen lassen musste, die er aber auch mit einem beeindruckenden Maß an Straßen-Cleverness durchstand. Eine Symphonie komponierte er in der Haft auch: "Es ist ein filmmusikalisches Orchesterstück, das mit schillernden Streicherflächen, strengem Fugato und dräuenden Clustern die Hafterfahrung sublimiert und von der Düsseldorfer Neuen Philharmonie uraufgeführt werden soll. Vogelgleiche Flötenmelismen klingen wie eine Hommage an seine Frau, die Flötistin Asia Safikhanova, deren titanischem Einsatz - und der Mithilfe zahlreicher engagierter Menschen in Deutschland, Belarus und Russland - Antipov seine Freiheit verdankt."

Weitere Artikel: "Für einen Akt der Bevormundung" des Publikums hält es Michael Hesse im FR-Kommentar, sollte die Frankfurter Politik das Roger-Waters-Konzert tatsächlich unterbinden. In Berlin, wo Waters in der komplett privat geführten Mehrzweckhalle am Ostbahnhof auftreten wird, hat die Politik indessen ohnehin keinen Hebel, kommentiert Christian Schröder im Tagesspiegel: "Hier wäre die beste Lösung, dass einfach niemand hingeht." Überhaupt, was diese Mehrzweckhalle betrifft: Konstantin Nowotny ärgert sich im Freitag darüber, dass immer mehr Konzerthallen nach Konzernen benannt sind. Wolfgang Schreiber (SZ) und Frederik Hanssen (Tsp+) blicken auf das Programm der neuen MaerzMusik-Leiterin Kamila Metwaly. Livia Sarai Lergenmüller besucht den Rapper Pöbel MC für den Tagesspiegel in dessen Studio. Birgit Schmid denkt in der NZZ über Roland Kaiser und dessen mitunter tiefenschmierigen Texte nach. Im Standard porträtiert Karl Fluch den Teenie-Star Nina Chuba. Elmar Krekeler erinnert in der Welt an den Musikgelehrten Johann Georg Pisendel, der das Berufsbild des Konzertmeisters prägte, wenn nicht gar erfand.

Besprochen werden Robbie Williams' Auftritt in Wien (Standard), ein Konzert der Wiener Symphoniker und Lorenzo Viotti (Standard), das neue Album von Miley Cyrus (taz, mehr dazu hier), Depeche Modes neues Album "Memento Mori" (das Album zeigt "eine Intensität und Dringlichkeit, die dieser Band zuletzt kaum noch jemand zugetraut hätte", schreibt Max Dax in der Welt) und Lonnie Holleys neues Album "Oh Me Oh My" ("ein Album des Jahres", ruft Christian Schachinger im Standard).

Archiv: Musik

Kunst

Bild: Francesco Melzi, after Leonardo da Vinci, Two Grotesque Heads, 1510s?, pen and brown ink, Gift of Mrs. Edward Fowles, 1980

Dass Leonardo da Vinci geradzu besessen war von unregelmäßigen, kranken und gealterten Gesichtern, deren "monströse Verzerrungen" er "mit beängstigender Präzision" zeichnete, lernt Guardian-Kritiker Jonathan Jones in der Ausstellung "The Ugly Duchess: Beauty and Satire in the Renaissance" in der Londoner National Gallery. Aber es sind keine hämischen Karikaturen, die Leonardo zeichnete - und die sein Schüler Francesco Melzi kopierte, vielmehr sind sie getragen von Leonardos Interesse für die "universelle menschliche Natur", so Jones. Eine Karikatur "zeigt einen alten Mann und eine alte Frau, beide herausgeputzt, die sich kokett begrüßen: Er hat das Gesicht einer mumifizierten Leiche und sie hat kaum eine Nase. Könnte das eine Folge von Syphilis sein? Auf einer anderen von Leonardos beunruhigenden Zeichnungen ist ein Mann im Profil zu sehen, der mit dem Rücken zu uns steht, mit einem Mund, der wie der eines Esels herausragt, einem dicken Truthahnhals, einer Nase, die wie angenäht aussieht, und über diesen verrenkten Gesichtszügen formt sich eine Spirale aus seinem verfilzten Haar, die wie ein Strudel aussieht, als wäre sie ein Brunnen, der in seinem Gehirn versenkt ist."

Im Tagesspiegel rät Hans von Seggern zu einem Besuch in der Berliner EAM-Collection, wo nach Absprache eine Sammlung mit Werken der Pariser Lettristen zu sehen ist: Zwischen 1945 und 1970 provozierte die Gruppe immer wieder Skandale gegen ein "degeniertes Bürgertum", informiert Seggern. Besprochen wird die Ausstellung "Rinascimento a Ferrara. Ercole de' Roberti e Lorenzo Costa" im Palazzo dei Diamanti in Ferrara (SZ).
Archiv: Kunst

Film

Slavoj Zizek hält den Oscar-Abräumer "Everything Everywhere All at Once" in einer Wortmeldung auf Welt+ für verlogenes Feelgood-Cinema, dessen anarchische Multiverse-Qualitäten nur behauptet sind und der am Ende sogar in falsche Versöhnlichkeit mit der Realität abdriftet: "Trotz all der schillernden Dynamik, der Vermischung von Genres, der plötzlichen Wechsel vom intimen Drama zum Karatekampf: Die Form des Films folgt einfach den alten Standards. Der Film spielt zwar mit multiplen Realitäten. Doch diese Vielfalt bleibt eng mit den Traumata und Sackgassen unserer einzigen 'wahren' Realität verwachsen. Zu sagen, 'es ist in Ordnung, sich für eine Variante zu entscheiden und damit glücklich zu sein', ist falsch, denn es sind nicht wir, die sich für eine Variante entscheiden: Niemand trifft die Wahl, es passiert einfach. Das Bewusstsein, dass es auch andere Versionen hätte geben können, sollte uns für den Kampf mobilisieren, statt uns in resignativer Zufriedenheit einzulullen."

Außerdem: Georg Stefan Troller erinnert sich in der Welt an seine Begegnung mit Orson Welles. Besprochen werden Hirokazu Kore-edas Roadmovie "Broker" (Tsp, unsere Kritik), die Apple-Serie "Extrapolations", die den Kampf gegen den Klimawandel in all seiner zermürbenden Langsamkeit zeigt (taz, ZeitOnline) und ein neuer Superheldenfilm der "Shazam"-Reihe (Standard).
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Bühne

Szene aus "Ich habe die Nacht geträumt". Foto: Ruth Walz


Mit "Ich habe die Nacht geträumet" hat Andrea Breth einen Mix von Eichendorff über Herta Müller bis David Lynch mit Musik von Edvard Grieg bis Dmitri Schostakowitsch auf die Bühne des Berliner Ensembles gebracht, die Berliner Prominenz versammelte sich in den Rängen - und doch wirkt der lyrische Liederabend auf Nachtkritiker Christian Rakow zu altbacken: "Fraglos wählt sich Breth die gediegene Antiquiertheit ganz bewusst, gräbt ihren Stoff aus dem tendenziell bundesdeutschen Vorwende-Kanon, situiert sich mit Telefon-Witzchen weit vor den Internet-Flatrates ('Du Junge, das wird doch zu teuer jetzt.') Aber sie schafft es nicht, das Historische existenziell heranzurücken, so wie es in Liederabenden von Christoph Marthaler gelingt (dessen Theater hier ganz offensichtlich Pate gestanden hat). Gute drei Stunden schleppt sich der Abend in absolut gleichförmigem, gebremstem Tempo dahin, malt Genrebilder und verstört sie durch surrealistische Kontrapunkte: Vorn deklamiert jemand einen Erzähltext und seitlich wird eine Figur hereingeschoben, die offenbar gerade eine Karambolage mit einem Sitzmöbel erlitten hat. Spätestens wenn die dritte derartige 'Brechung' eingeführt ist, hat man das Prinzip verstanden. Doch Dutzende folgen."

Anlässlich seiner "Elektra-Inszenierung", die an diesem Wochenende an der Oper Frankfurt Premiere feiern wird, spricht Regisseur Claus Guth im FR-Interview mit Judith von Sternburg darüber, was ihn an Richard Strauss fasziniert: "Vieles an ihm ist mir hochgradig unsympathisch, aber dann gibt es auf der anderen Seite dieses Phänomen, das ich bei keinem anderen Komponisten so erlebt habe: Wie kann dieser bayerische Bierkrugsammler gleichzeitig diese tiefblickenden Seelenschauen erschaffen? Da spricht dann doch einiges dafür, dass die Gleichung Künstler - Werk eine differenziert zu betrachtende Angelegenheit ist."

Weitere Artikel: In der Berliner Zeitung porträtiert Ulrich Seidler die in Berlin lebende Dramatikerin und Performerin Sivan Ben Yishai, die mit dem Theaterpreis Berlin ausgezeichnet wurde. "Es gab kein Zerwürfnis, keinen Streit", betont man bei den Berliner Festspielen nach dem plötzlichen Ausscheiden von Marta Hewelt aus dem Leitungsteam des Theaterteffen-Festivals, berichtet Ronja Merkel im Tagesspiegel: "Nach und nach zeigte sich, es passt einfach nicht'." Für die Welt besucht Manuel Brug Peter Plate und Ulf Leo Sommer bei den Proben zu ihrem Musical "Romeo und Julia" im Berliner Theater des Westens. Im Tagesspiegel wirft Patrick Wildermann einen Blick auf die heute und morgen zum siebten Mal im Radialsystem V stattfindende Ausgabe des Forecast Festivals, in dem erfahrene Mentoren mit ihren Mentees gemeinsam an Projekten arbeiten.

Besprochen werden Lajos Wenzels Inszenierung von Henrik Ibsens "Nora" am Theater Trier (nachtkritik), Jasper Brandis' Inszenierung von Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig" am Theater Ulm (nachtkritik), die Performance "youAI" der Gruppe H.A.U.S. im Wiener Brut-Theater (Standard) und Axel Ranischs Inszenierung von Giacomo Puccinis "Il trittico" an der Hamburgischen Staatsoper (FAZ).
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Architektur

Dem Einfamilienhaus und der Doppelhaushälfte begegnen nicht nur Ökologen, sondern auch Architekten in der Ausbildung mit einem "Pfui", schreibt Gerhard Matzig in der SZ. Dabei gibt es insgesamt "19,4 Millionen Wohngebäude in Deutschland. 16,1 Millionen davon sind Einfamilienhäuser und Doppelhaushälften. Das ist die Realität, wozu auch gehört, dass mehr Deutsche auf dem Land in Klein- oder Mittelstädten leben als in Metropolen." Es sind diejenigen, die von der Gebäudeeffizienzrichtlinie betroffen sein könnten: "Bis 2050 müssen deshalb die jetzt schon bestehenden Häuser stetig steigende Mindeststandards erfüllen. Was im Einzelfall ruinös teuer für Hausbesitzer werden kann, die ja nicht alle auf millionenteuren München-Grundstücken sitzen. Sondern auch in Gegenden, wo ein Haus vielleicht 150.000 Euro wert ist, aber für 100.000 Euro saniert werden muss. Falls man bis 2050 Handwerker bekommt."
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Stichwörter: Einfamilienhäuser

Literatur

Im Freitag-Gespräch (übernommen vom Guardian) äußert sich Margaret Atwood dazu, dass ihr Klassiker "Der Report der Magd" von rechten Frömmlern aus den Schulbibliotheken von Virginia hinausgecancelt wurde: "Ich bin nicht die Einzige, die als 'inakzeptabel' eingestuft wurde. Auch Toni Morrison und Stephen King sind verboten worden. Angeblich, weil es in unseren Büchern zu viel Sex gibt. Wann werden sie also die Bibel rausschmeißen, da kommt eine Menge Sex drin vor? In welchem Jahrhundert leben wir denn, um Himmels willen? In Wirklichkeit ist es eine Machtdemonstration. Gouverneur Glenn Youngkin sagt: 'Wir haben das unter Kontrolle und wir werden den Schülern und Bibliothekaren das Leben sehr unangenehm machen.' Und der Subtext ist, dass wir eigentlich nicht wollen, dass unsere Kinder gebildet und erfolgreich sind, denn einer der wichtigsten Faktoren für den schulischen Erfolg von Kindern ist, ob es eine Schulbibliothek mit einem Bibliothekar gibt."

Elena Witzeck spricht für die FAZ mit der Schriftstellerin Bernardine Evaristo unter anderem über den Fetisch Jugend in der Literatur. "Wir brauchen ein neues Bewusstsein. Menschen haben zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens würdige Rollen in der Literatur verdient. Seltsam, dass man das überhaupt einfordern muss. ... Wir sind darauf konditioniert, immerzu über die Jugend nachzudenken. Vielleicht aus Nostalgie für die Zeit, in der alles neu war und so viel passiert ist. Ich fand meine Zwanziger auch aufregend. Aber das hier ist auch aufregend." Denn "man kennt sich. Man fühlt sich wohl mit sich. Das gilt vielleicht nicht für alle, aber mit zwanzig fragt man sich eher: Wer bin ich, wo, was will ich?"

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw weiter. Gerhard Matzig hat für die SZ nochmal in Ian Flemings James-Bond-Romane aus den Fünfzigern und Sechzigern reingelesen, deren gröbste Begriffe in einer Neuausgabe nun entschärft werden sollen, und stößt in diesen Büchern tatsächlich auf einen Absud aus Rassismus, Antisemitismus, Homophobie und angewandter Frauenfeindlichkeit: "Das in jedem Buch abgedruckte Datum der Erstauflage sollte man womöglich fetten." Hörenswert dazu ist auch Christian Blees' Radiofeature über die Bond-Romane im Dlf Kultur. Beeindruckt von den atemberaubenden Wachstumszahlen des Manga-Segments befragt Lars von Törne vom Tagesspiegel den Libri-Vertriebsleiter Bertram Pfister nach den Plänen des Großhändlers, immer mehr Buchhandlungen mit Manga-Sortimenten zu bestücken. Britta Schmeis erzählt in der Welt von ihrem Treffen mit der Bestseller-Autorin Isabel Bogdan, deren Debüt "Der Pfau" jetzt fürs Kino adaptiert wurde.

Besprochen werden unter anderem Giuliano da Empolis "Der Magier im Kreml" (Tsp) und Ijoma Mangolds "Die orange Pille" (SZ).
Archiv: Literatur