Efeu - Die Kulturrundschau

Dimensionen einer gewaltigen Ekstase

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17.06.2022. Morgen eröffnet die Documenta 15, die Journalisten durften vorher schon mal gucken: Diese Schau ist welthaltig wie eine Spülküche, freut sich die SZ. Und wunderbare Kunst gibt es auch. Davon hat der Standard noch nicht so viel gesehen. Und die Welt fragt sich, ob die gefeierte Perspektive des globalen Südens nicht nur ein Manöver ist, von unbequemen Fragen hierzulande abzulenken. Außerdem: Maxi Obexer, Teil der Doppelspitze des alten PEN Deutschland, ist zurückgetreten, meldet die SZ: Zu viele reformresistente Männer. Die NZZ feiert das neue Museumsquartier in Lausanne.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.06.2022 finden Sie hier

Kunst

Morgen eröffnet die vom indonesischen Kollektiv Ruangrupa kuratierte Documenta 15. In der SZ bereitet Catrin Lorch die Besucher darauf vor, was sie dort erwartet. Viel politischer Aktivismus, klar, was manchmal etwas kitschig wirkt. Aber dann eben doch auch Kunst: "Der Maler Richard Bell, ein Aborigine, steht nicht nur mit seinen Gemälden und einem Protestzelt gegen den Landraub an Indigenen im Zentrum der Ausstellung. Seine Gemälde nehmen in der zentralen Rotunde gleich zwei Stockwerke ein, dort wo einst Wilhelm Lehmbrucks 'Knieende' gezeigt wurde und Joseph Beuys' Honigpumpe installiert war, sprudelt zudem seine 'Fountain', die jüngste Variation von Marcel Duchamps epochemachenden Urinal. Nur dass Bell inmitten einer Agora aus rohem Bauholz einen Stapel von roten, blauen und grünen Plastikschüsseln aufgetürmt hat, aus denen wirklich Wasser plätschert. In ihren schönsten Momenten ist diese Documenta Fifteen nicht nur welthaltig wie eine Spülküche, sondern auch richtig savvy in Bezug auf die Kunstgeschichte."

Noch eine weitere Seite in der SZ ist der Documenta gewidmet: Über einer schönen großen Documenta-Anzeige erzählt Lorch die Geschichte der Documenta als Erfolgsgeschichte (ihre problematischen Gründerfiguren blendet sie aus). Und Till Briegleb freut sich über die "freundliche Einladung von Ruangrupa, wichtigere Dinge als Bilder, Videos und Installationen zu besprechen" und hofft auf eine "Kolonie des Aktivismus".

In der Welt stöhnt Boris Pofalla schon beim Anspruch dieser Documenta und ihrer Kollektive auf: Spricht der globale Süden wirklich mit einer Stimme? Vielleicht gibt es ihn als das Andere des Westens gar nicht, überlegt Pofalla. "Ist er nur eine nützliche Fiktion, um sich unbequemen Fragen nicht stellen zu müssen? Die Künstlerin Hito Steyerl ist (auf Einladung des Kollektivs INLAND) unter den vielen Teilnehmern vielleicht die einzige, die sich den postpostmodernen Verdrehungen von Natur und Zivilisation auf Augenhöhe mit aktuellen Diskursen nähert. In der Medieninstallation 'Animal Spirits' treten spanische Schäfer auf, die sich gegen die Idealisierung des Wolfes wehren und gegen die Disneyfizierung des Landes. Die Ästhetik des Videospiels und der Reality-Serie trifft auf reale Käselaibe unter Glas, in denen Bakterien eine unveränderbare Folge von Zeichen hervorbringen, den Cheesecoin, in den man Werte einschreiben kann so wie in die umweltschädliche Kryptowährung. Meint sie dass ernst? Ausnahmsweise weiß man es mal nicht, und das ist ja schon subversiv auf dieser Feier des Einvernehmlich-Eindeutigen."

Außerdem: Die Stimmung ist sehr gut auf dieser Documenta, versichert Amira Ben Saoud im Standard. Die Frage sei allerdings, "ob die gezeigte aktivistische Kunst ihre Anliegen denn gut vermittelt. Bei einem ersten Rundgang der Locations in Kassel Mitte muss man leider feststellen, dass eher wenige Installationen wirklich in Erinnerung bleiben - sieht man von der Intervention des Wajuukuu Art Projects ab, das mit der Verkleidung der Documenta Halle in Wellblech und durch das Bauen eines Tunnels als Eingang sich auf das Slum Lunga Lunga in Nairobi bezieht. Ein abschließendes Urteil, wie gelungen die kollektiven Positionen der diesjährigen Documenta sind, wird man erst fällen können, hat man alle 32 Standorte gesehen." Auf Zeit online fragt Quynh Tran: "Wird die mutmaßliche Omnipräsenz von BDS zum Problem für israelische Künstlerinnen? Hat der Einfluss Israels andererseits negative Konsequenzen für Künstler, die sich mit BDS solidarisch zeigen oder auch nur wiederum mit BDS-Sympathisantinnen zusammengearbeitet haben oder zusammenarbeiten wollen - womit wir wieder bei der documenta und ruangrupa wären?"

Andere Themen: In der SZ unterhält sich Andrian Kreye mit der Fotografin Yelena Yemchuk über Odessa, Putin und den Krieg. Und Kito Nedo berichtet von der Art Basel. In der FAZ berichtet Gina Thomas von Fälschungsvorwürfen gegen ein Bacon-Archiv, das die Tate Gallery vom Nachbarn Bacons erworben hatte und dessen sie sich jetzt "entledigen" will.

Besprochen werden die Ausstellung "Kelten in Hessen?" im Archäologischen Museum in Frankfurt (FAZ) und die von Vertretern indigener Communities in Australien konzipierte Wanderausstellung "Songlines. Sieben Schwestern erschaffen Australien" im Humboldt Forum (Tsp).
Archiv: Kunst

Literatur

Das hat nicht lange gedauert: Maxi Obexer tritt nach nur vier Wochen als die eine Hälfte der Doppelspitze des alteingesessenen PEN-Zentrums zurück. Miryam Schellbach zitiert in der SZ Gründe dafür aus einer E-Mail, die Obexer an die PEN-Mitglieder schrieb: "Die Feindseligkeiten, die Verhärtungen, die Verunglimpfungen. Das Denken in Lagern. Es herrscht noch immer Krieg in den Köpfen vieler." Die Schriftstellerin "stand für einen auch inhaltlich sich neu strukturierenden PEN-Club", schreibt Schellbach. "'Ich dachte, man könnte mit Vernunft die notwendige Reform beginnen', sagte sie der SZ: 'Jede Struktur ist an sich reformfähig, aber die reformresistenten, herrisch auftretenden Männer dominieren im PEN-Zentrum Deutschland.'" Im Dlf Kultur spricht Obexer über die Beweggründe für ihren Rücktritt: "Im Moment herrscht Hass."

Außerdem: Für die Berliner Zeitung reist Kathrin Schrader auf den Spuren Uwe Tellkamps nach Dresden. Auch im ungarischen Szombathely feiert man den Bloomsday, berichtet Wolfgang Weisgram im Standard. Auch die FAZ begeht im politischen Teil den Bloomsday.

Besprochen werden unter anderem Sybille Ruges Thriller "Davenport 160x90" (FR), Heinz Strunks "Ein Sommer in Niendorf" (Welt, Dlf Kultur), Omar Youssef Souleimanes "Der letzte Syrer" (Tsp), Mary Paulson-Ellis' Krimi "Die andere Mrs. Walker" (Dlf Kultur), Léonie Bischoffs Comic über die Schriftstellerin Anaïs Nin (Jungle World), Hans Neuenfels' Textsammlung "Fast nackt" (Tsp), Florian Werners "Die Raststätte" (54books), Christian Gerhahers "Lyrisches Tagebuch" (FR) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Gulraiz Sharifs "Ey hör mal!" (SZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Das Design- und Fotomuseum der Brüder Aires Mateus in Lausanne. Foto: Plateforme 10


In der NZZ freut sich Roman Hollenstein über das neue Museumsviertel Plateforme 10 in Lausanne: eine minimalistische Meisterleistung des Duos Barozzi Veiga (Kunstmuseum) und der Brüder Manuel und Francisco Aires Mateus (Design- und Fotomuseum, das zuletzt fertiggestellt wurde), findet er. "Im ersten Augenblick erscheint das neue Doppelmuseum in der Tat ähnlich minimalistisch wie das Musée Cantonal des Beaux-Arts. Doch dank dem unregelmäßig gezackten Fensterband, das rund um das Haus läuft, die Fassaden fast schmerzhaft aufschlitzt und die Betonmasse des Obergeschosses schweben lässt, wirkt das Bauwerk auch expressiv und skulptural. Hinter der transparenten Glasschicht befindet sich ein weitläufiges Foyer, in welches die langgestreckte Esplanade fließend übergeht. Anders als die Eingangszone des Kunstmuseums, welche die aus dem Gebäudeschatten Eintretenden mit einer gleißend hellen Raumexplosion überrascht, gleicht der Empfangsbereich des Neubaus von Aires Mateus mit seiner kristallinen, kubistisch gefalteten Boden- und Deckenlandschaft einer von mildem Licht erhellten Höhle."
Archiv: Architektur

Film

Absurde Essenzen: "The Last Son" von Tim Sutton

Rapstar Machine Gun Kelly fegt in Tim Suttons auf DVD erschienenem Western "The Last Son" buchstäblich mit einem Maschinengewehr weg, was wegzufegen ist - und stößt damit bei tazler Ekkehard Knörer durchaus auf reges Interesse. Denn der Regisseur "hat sich Gedanken gemacht, wie man heute überhaupt noch einen Western angehen kann. Er verzichtet vollkommen auf Figurenpsychologie, regelt stattdessen die mythischen Züge des Genres, ohne mit der Wimper zu zucken, nach oben. Er zieht das auch durch, nicht ohne Ernst, nicht ohne Blut, in Breitleinwandbildern von einiger Wucht und vor musikalischer Drohkulisse. ... Die Kritik hat an dem Spielfilm Spannung, Psychologie und zusammenhängende Handlung vermisst. Dabei ist es gerade die Reduktion des Genres auf seine (absurden) Essenzen, die Sutton hier unternimmt. Spätest-Western? Post-Western? Meta-Western? Egal."

Außerdem: Marisa Buovolo gratuliert Isabella Rossellini in der NZZ zum 70. Geburtstag: Insbesondere in ihrem Spätwerk "bewegt sie sich mühelos zwischen Pop, Kunst und Wissenschaft". Besprochen werden "Massive Talent" mit Nicolas Cage (ZeitOnline), Max Feys "Zwischen uns" (SZ), der neue Pixar-Animationsfilm "Lightyear" (Tsp) und die Serie "The Midwich Cuckoos" (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

In der nachtkritik geht Max Florian Kühlem den Vorwürfen gegen die Intendantin des Dortmunder Schauspiels Julia Wissert nach, sie vergraule Publikum und Mitarbeiter. Besprochen werden Erwin Schulhoffs Oper "Flammen" an der Staatsoper Prag (eine Sensation, freut sich FAZ-Kritiker Clemens Haustein), ein Band mit letzten Texten von Hans Neuenfels (Tsp), Tom Morris' Inszenierung von Monteverdis "L'Orfeo" an der Wiener Staatsoper (SZ) und "Depois de silêncio" (Nach der Stille), Christiane Jatahys Adaption von Itamar Vieira Júniors Roman "Torto Arado" bei den Wiener Festwochen (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Musik

Schlappe 15,3 Millionen Dollar hat die Stradivari "da Vinci" gerade bei einer Auktion erzielt. Grund genug für Harald Eggebrecht in der SZ, deren bemerkenswerte Geschichte zu erzielen. Wer das klassische Hollywoodkino mag, hat sie zum Beispiel im Soundtrack von "Robin Hood" mit Errol Flynn, aber auch "Wizard of Oz" gehört. Gespielt hat sie da Toscha Seidel, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit geraten ist. In den Dreißigern nahm er in Los Angeles auch Brahms auf. "Man höre nur die A-Dur-Sonate von Brahms zusammen mit dem Pianisten Artur Loesser, die eher als idyllisch-freundlich gilt. Seidel dagegen riskiert im zweiten Satz, dem Andante tranquillo, eine so brennende Intensität und zeigt solchen Mut zu strukturierender Langsamkeit, dass sich dieses Brahms-Andante plötzlich in die Dimensionen einer gewaltigen Ekstase weitet. Nebenbei gab Seidel auch dem Amateurgeiger Albert Einstein Unterricht, spielte mit dem großen Physiker Quartett und trat mit ihm in Benefizkonzerten auf."

Weitere Artikel: Im Tagesanzeiger plädiert Annik Hosmann für eine Frauenquote auf den Festivalbühnen. Marianne Zelger-Vogt spricht für die NZZ mit Gerd Nachbauer, dem Intendanten der Schubertiade. Klaus Walter gratuliert in der FR Paul McCartney und Brian Wilson zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden die vom Luzerner Sinfonieorchester begleitete Uraufführung des Films, den William Kentridge für die zehnte Sinfonie Schostakowitschs gedreht hat (NZZ), Kelly Lee Owens' Album "LP.8" (FR), ein Auftritt von Wolfgang Ambros (Standard), ein Konzert von Lisa Batiashvili und Klaus Mäkelä mit den Münchner Philharmonikern (SZ) und das neue Album von Hercules & Love Affair (taz).
Archiv: Musik