Efeu - Die Kulturrundschau

Der Krieg umrahmt doch alles

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21.09.2017. Im Art Magazin stellt der Fotograf Tobias Zielony seine Fotoreihe über ukrainische Jugendliche vor. Herbert Fritsch an der Schaubühne? Da fehlt noch die Aura der Verzweiflung, meint die Berliner Zeitung. Die Zeit wünschte sich, dass die Musik, die in den neuen tollen Konzertsälen gespielt wird, so modern ist wie die Gebäude. Die SZ freut sich über die zögerliche Verpeiltheit von Tom Lass' Film "Blind und Hässlich".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.09.2017 finden Sie hier

Film


Vergesst Godard! Naomi Achternbusch (rot) in "Blind und hässlich" von Tom Lass

German Mumblecore, die nächste: Nachdem Jakob Lass sein "Tiger Girl" in den Kinos eskalieren ließ, ist nun wieder sein Bruder Tom Lass an der Reihe, von verqueren Beziehungen Berliner Schmerzensmänner und Weirdo-Frauen zu erzählen. Das heißt dann "Blind und Hässlich" und bei den Kritikern kommt gut an, wie Naomi Achternbusch, Tochter des Herbert, darin als sehende Frau eine Blinde spielt und sich dabei in den sozial herausgeforderten Schmerzensmann Ferdi (Lass selbst) verknallt. Eine "zögerliche Verpeiltheit" attestiert SZ-Kritiker Philipp Bovermann den Lass-Filmen und freut sich auch über Cameos etwa von Axel Ranisch als dicker Polizist. In dem Film "wird viel planlos geredet und gelebt, zwischendurch gehen sie kegeln. Man braucht schon eine gehörige Portion Mut, einen so herrlich langweiligen Film zu machen, und genau dieses entspannte Gähnen aus der Tiefe der Melancholie ist der Sex-Appeal des Schmerzensmanns."

Dass der Film kein Arthouse-Schmu der schmierigen Sorte wurde, liegt an Lass' Unbekümmertheit, "seine Einfälle und Handlungskonstruktionen ins Surreale kippen zu lassen", lobt auch Cosima Lutz in der Welt. Und "das alles ist so virtuos unordentlich und dabei flüssig erzählt, voller Jumpcuts und Auslassungen dessen, was sonst in sich suhlender Weise auserzählt wird, dass sich ein Kritikerkollege schon zu dem Ruf 'Vergesst Godard!' hat hinreißen lassen."

Weitere Artikel: Martin Schwickert (ZeitOnline) und Christiane Peitz (Tagesspiegel) berichten von ihren Begegnungen mit der ungarischen Autorenfilmerin Ildikó Enyedi, deren Berlinale-Gewinnerfilm "Körper und Seele" (hier in der taz von Carolin Weidner besprochen) diese Woche in die Kinos kommt und von zwei Schlachthof-Angestellten handelt, die sich über den Umweg gemeinsam geträumter Träume ineinander verlieben. Außerdem empfiehlt Carolin Weidner den Berlinern in der taz die Maria-Lang-Werkschau im Zeughauskino. Günter Agde schreibt im Freitag zum Tod des Filmemachers Egon Günther.

Besprochen werden Peter Pewas' auf DVD veröffentlichter Nachkriegs-Krimi "Viele kamen vorbei" (taz), das Familiendrama "Schloss aus Glas" mit Woody Harrelson (Standard), Naomi Kawases "Radiance" (SZ) und die WDR-Verfilmung von Heinz Strunks Roman "Jürgen" (Standard, FAZ, FR).
Archiv: Film

Bühne


Szene aus Herbert Fritschs "Zeppelin" an der Schaubühne. Foto: Thomas Aurin

An der Volksbühne wollte er nicht mehr spielen, darum ist Herbert Fritsch mit seiner neuen Inszenierung "Zeppelin", einer Art Collage aus Texten von Horvath, an die Schaubühne gezogen. Neue Reviermarkierung gelungen, auch wenn das Stück nicht so doll war, findet Christian Mayer in der Welt: "Wir fassen zusammen: Acht völlig abstruse, alienartige Figuren, ein Bühnenmusiker im Tim-Burton-Stil und ein Zeppelin, der dank der Lichteffekte durch die Sphären wandelt. Das ist schon mal was fürs Auge. So ästhetisch ansprechend und auch schlicht burlesk-komisch (einer der acht tanzt immer aus der Reihe) die akrobatischen Choreographien der Darsteller sind, so schwach ist nun leider das, was da mit dem Text geschieht."

In der Berliner Zeitung fremdelt Ulrich Seidler für Fritsch mit der Schaubühne, die der Regisseur als "ruhmreich-erprobter Künstler" betritt. Eigentlich ist alles da, was einen gelungenen Fritsch-Abend ausmacht, "und doch ... Fritsch, der nach seinem Abgang als Volksbühnenschauspieler jahrelang eine Krise durchlief und sich mit einem heldenhaften Gang durch die Provinz wieder emporarbeitete, braucht die Aura der Verzweiflung, der Widerstände, der Angst vor dem Scheitern. Die gequälten Rechthaber, die von Anfang an keinen Sinn für diese Art von Qual und Superspiel hatten, dürfen nun endlich mal lächeln. Mögen sie dazu betragen − so unser zwiespältiger Wunsch − , dass Fritsch seine peinvollen Selbstzweifel wiederfindet." Weitere Kritiken in der nachtkritik, in der taz und im Tagesspiegel.

Im Gespräch mit dem Tagesspiegel über die Zukunft des Theaters und die deutsche Theaterszene lehnt Annemie Vanackere, Leiterin des Berliner Theaters Hebbel am Ufer, jeden Konkurrenzdruck ab: "Konkurrenz belebt das Geschäft? Naja. Ich möchte mich aber nicht permanent vergleichen, davon wird man nicht besser. Und darüber hinaus widerspricht der Abgrenzungswahn der programmatischen Ausrichtung vieler Theater, zum Beispiel der Behauptung von Inklusion."

Weiteres: Susanne Lenz unterhält sich für die FR mit dem Regisseur Antú Romero Nunes, der mit Albert Camus' "Caligula" die Intendanz von Oliver Reese am BE eröffnen wird, über Identitäten und Erfolg. Besprochen wird die Uraufführung von Søren Nils Eichbergs Musiktheater "Schönerland" im Staatstheater Wiesbaden (FR).
Archiv: Bühne

Musik

Volker Hagedorn guckt sich für die Zeit die Programme der tollen neuen Konzertsäle in Deutschland an und verzweifelt: "Man könnte meinen, eine von breitem Interesse getragene Welle der Innovation gehe durch den 'Musikbetrieb', wie die Szene der nach Noten spielenden und singenden Profis und ihrer Hörer so wirtschaftsdeutsch genannt wird. Aber ist es innovativ, wenn von den gut 200 Orchesterwerken, die in der neuen Saison im 2100-Plätze-Saal der 'Elphi' gespielt werden, nur jedes zehnte aus den letzten fünfzig Jahren kommt? Verglichen mit der Situation in München ganz sicher. Die sanierungsbedürftige Philharmonie im Gasteig (2387 Plätze) wird von den großen Orchestern so ausgiebig mit Beethoven, Brahms und Bruckner und anderen Repertoireschlachtrössern beritten, dass an den Rändern der Arena nicht einmal fünf Prozent für das jüngste halbe Jahrhundert bleiben."

Woran liegt es, dass man Rapstars unverzeihliche sexistische Auswüchse im Privatleben nachsieht? Vielleicht ja daran, dass sie "den Kitzel der Grenzüberschreitung und des Verbotenen für ein wachsendes Publikum aufbereiten, das mit derlei Lebenswelten nur wenig Berührung hat," schreibt Daniel Gerhardt in seiner ausführlichen Auseinandersetzung mit äußerst unschönen Eskapaden von R. Kelly und XXXTentacion.

Weiteres: Sarah Ulrich porträtiert in der taz das Berliner Elektro-Label und -Netzwerk Janus Berlin. Besprochen werden ein Auftritt von Neil Diamond (Standard) und Konzerte von Vulfpeck (taz), Girlpool (FR) sowie Wolf Biermann (FR).
Archiv: Musik

Literatur

Im Logbuch Suhrkamp wartet Sasha Marianna Salzmann in einem Club auf die Rapperin Mykki Blanco: "Dann Aufruhr oben auf einer der Treppen, irgendwie ist Mykki dort hinaufgesprungen und schmeißt die anderen Körper fast herunter, drückt sie an die Wand, verschafft sich Platz, um Julia zu spielen. Sie sagt: 'Das hier ist für alle, die mit HIV leben müssen', und während sie singt, dreht sie sich zum Publikum, und ihre nackten Pobacken fressen die Gitterstäbe der Balustrade. Sie reibt sich am Geländer, reißt die Arme hoch, und ich spüre sie, sie wächst in mir an wie eine Seifenblase, dehnt mich aus, die Arme, meinen Hals, den Kopf, verbindet mich mit den Körpern der anderen."

Als Jugendlicher, in den Achtzigern und Neunzigern, rümpfte Schriftsteller Thomas von Steinaecker eitel die Nase, wenn es um die Romane von Stephen King ging. Das hat sich gründlich geändert: Den Nobelpreis "hätte der meisterhafte Schriftsteller King maximal verdient", schreibt er in der SZ zum 70. Geburtstag Kings. Grund für diese Wende: Kings Buch "Es" - dessen Verfilmung nächste Woche in die Kinos kommt (hier David Steinitz' sehr positive Besprechung) - dem er "eine der intensivsten Lektüren" seines Lebens verdanke: Der Roman ist "viel mehr als eine Coming-of-Age-Geschichte, deren Horror für seine Protagonisten auch in der Erkenntnis liegt, dass Erwachsene nicht zwangsläufig vernünftigere oder gar bessere Menschen sind. Am Kleinstadtkosmos des fiktiven Derry wird die Geschichte der USA mit all ihren dunklen Seiten gespiegelt, deren Personifikation der buchstäblich im Untergrund, in der Kanalisation hausende Pennywise ist. Das macht 'Es' zur 'Great American Novel', einem klassischen amerikanischen Gesellschaftsroman." Im Tagesspiegel gratuliert Lutz Göllner. In der FAZ verneigt sich Dietmar Dath vor King.

Im Deutschlandfunk Kultur rät Sibylle Lewitscharoff ihren Mitbürger vor der Bundestagswahl: "Wähle! Wähle vernünftig, auch wenn dabei die Zähnlein knirschen."

Außerdem: Im Logbuch Suhrkamp ein Gedicht von Marion Poschmann, "Algen am Strand", ein Gedicht von Friederike Mayröcker, "es wäre etwas Süszes, gewesen in Kleidern, einzuschlafen", und Stefan Lohse sieht die Welt durchs Monokel.

Besprochen werden die Ausstellung "Die Familie. Ein Archiv" im Deutschen Literaturarchiv der Moderne in Marbach (SZ), Sonja Heiss' "Rimini" (SZ) und Han Kangs "Menschenwerk" (FAZ). Außerdem ist die neue Ausgabe des CrimeMag erschienen - hier der Überblick über alle Essays und Rezensionen.
Archiv: Literatur

Kunst


Tobias Zielony, "Andrej", aus der Serie "Maskirovka", 2017. © Tobias Zielony und KOW, Berlin

Alexandra Wach hat sich für Art mit dem deutschen Fotografen Tobias Zielony über dessen Arbeiten unterhalten, die hauptsächlich Jugendkulturen in verschiedensten Ländern dokumentieren. Besonders interessiert ihn dabei die Schnittstelle zwischen realer und virtueller Welt, die das Leben von Jugendlichen so radikal verändert hat. Zu seiner aktuellen Fotoreihe mit ukrainischen Jugendlichen sagt er: "Es ist eigentlich sehr ruhig und friedlich, aber der Krieg umrahmt doch alles, was da passiert. Die Ereignisse bilden immer den Kontext. Durch den Titel der neuen Serie, 'Maskirovka' und der Arbeit mit dieser Idee der Maske, der Täuschung, habe ich versucht diese Alltagswelt der Menschen, viele von ihnen aus der queeren Community, mit diesem größeren politischen Umfeld zusammenzubringen."

Weitere Artikel: Die Art Berlin hat wohl gelernt, dass eine Kunstmesse wie eine Kunstmesse aussehen muss und nicht wie eine kuratierte Ausstellung, meint eine immer noch nicht ganz zufriedene Ute Thon in Art. Über die 15. Istanbul Biennale berichten Werner Bloch im Tagesspiegel und Heinz Peter Schwerfel im Art Magazin. Sabine B. Vogel besucht für die Presse die Vienna Contemporary.

Besprochen werden die Ausstellung "Bruegel. Das Zeichnen der Welt" in der Wiener Albertina (FAZ), und Franck Mauberts Buch über "Caroline: Alberto Giacomettis letztes Modell" (Art).
Archiv: Kunst