Post aus der Antarktis

Weihnachtspost aus der Antarktis

Von Isabel Köhler, Bernd Schuldt
21.12.2001. Frohe und besinnliche Weihnachtsgrüße aus der Antarktis.
Geneigte Leserinnen und Leser,

Zeit - sie ist einmalig in jeder Sekunde und jedem Erdenbürger ist jede Sekunde nur einmal gegeben. Und dennoch oder gerade darum fragen wir uns so oft, wo ist sie geblieben, wo bleibt sie, wo rast sie hin?



Unser Eisberg

Am 16. Dezember war es ein Jahr, dass wir beide beinahe zeitgleich das "ewige" Eis betraten, das eigentlich gar nicht so ewig ist, denn auch dieses Eis, in dem wir seit nunmehr einem Jahr gelebt haben und unsere Arbeit auf der Neumayer Station verrichten, wird in absehbar endlicher Zeit das Zeitliche segnen und von der Schelfeiskante (siehe Bild) abbrechen. Das Dasein als mehr oder minder großer Eisberg wird dann in den Strömungen des Südlichen Ozeans bald dahinschmelzen.

Wir wollen mit diesen einleitenden Gedanken auf das hinweisen, was uns wirklich wichtig erscheint: Die Zeit zu nutzen für die Dinge des Lebens, die jeder Mensch als die für ihn bedeutenden erkennt. Nicht Glimmer der Werbung, Kaufrausch zum Weihnachtsfest, das neue Auto oder der Urlaub in einem Betonklotz sollen die Gedanken und das Handeln bestimmen, sondern ein paar Überlegungen zum Sinn oder Unsinn solch schrecklicher Taten, wie sie am 11. September passiert sind, oder des vielleicht eine milliardestel Sekunde schnelleren Computers. Hier, in den unendlichen Weiten des weißen Kontinents ist uns klar geworden, daß wir eine wunderschöne, unwiederbringliche Zeit hatten, die - teils mit Blick auf das Wiedersehen lieber Menschen zu Hause zu langsam dahinglitt, aber zum überweigenden Teil viel, viel zu schnell verging.

Und so kam es, dass wir viel schneller als erwartet, am Ende unserer Überwinterung, das heißt am Ende unserer Zeit zu Neunt auf und im Eis angelangt waren.

Zunächst bahnte sich der russische Eisbrecher "Kapitan Dranitsyn" einen Weg durch das Eis, bis es nicht mehr weiterging. Mit Hubschraubern wurden dann die etwa 75 Passagiere aus allerlei Herren Länder, darunter auch aus D, zur Station und zur Pinguin-Kolonie geflogen. Mit der Ankunft der Touris in Stationsnähe am 23. November und der Landung des ersten Hubschraubers um 17:12 Uhr Ortszeit endete "eigentlich" unsere Winterung. Doch sehen wir diesen Zeitpunkt als inoffiziell an.



Unsere Touristenattraktion

Der Besuch der betuchten Gäste verlief einvernehmlich gut und brachte beiden Seiten sichtliche Erkenntnisse über die Art und Weise von Tourismus in der Antarktis. Ob diese von Dauer sein werden bei den Veranstaltern mag dahingestellt sein. Die Kontakte zur Besatzung des russischen Eisbrechers und den Hubschrauberpiloten waren angenehm.

Danach hatten wir eine kleine Verschnaufpause, bevor die Sommersaison so richtig los gehen sollte. Mit einem Gala-Dinner verwöhnte uns unser Koch am 1. Dezember noch einmal so richtig und wir setzten damit den kulinarischen Schlußpunkt der Überwinterung. Der sich anschließende erste Adventssonntag verlief ruhig und trotz Sonne fast rund um die Uhr kam bei weihnachtlicher Musik und Stollen so etwas wie Vorweihnachtsstimmung auf. Mit zahlreichen all-hands-Aktionen, die gelegentlich durch "April"- Wetter beeinträchtigt wurden, bereiteten wir die Ankunft der Flieger, der ablösenden ÜWI-Mannschaft sowie der Sommergäste vor. Es wurden fast alle Arbeiten geschafft.

Am 12. Dezember, und damit zwei Tage später als geplant, erreichten die Polarflugzeuge Polar 2 und 4 mit ihren jeweils dreiköpfigen Besatzungen nach einem Weg von Bremerhaven über Sevilla, die Kanarischen und Kapverdischen Inseln, Brasilien, Uruguay, Chile sowie die britischen Antarktisstationen Rothera und Halley die Neumayerstation. Um 13:52 UTC (entspricht Stationszeit) setzte Polar 4 auf der vorbereiteten Skipiste auf und beendete damit und für uns offiziell unsere einmalige Zeit der Überwinterung in der Antarktis.

Nach etwa 20 Minuten war auch die Polar 2 angekommen und mit einem Gläßchen Sekt wurde nahe des Flug"feldes" auf die Ankunft der ersten Sommergäste wie auf das Ende der Winterung begrüßt.



Willkommen

Ursprünglich sollte am 12. auch das deutsche Polarforschungsschiff "Polarstern", das als Eisbrecher konzipiert ist und mit schweren Eisverhältnissen fertig werden kann, in der Nähe der Station die Schelfeiskante erreicht haben. An Bord war die neue Überwinterungsmannschaft und sind weiterhin technisches und wissenschaftliches Personal für die Sommerkampagne sowie die gesamte Ausrüstung und die Treibstoffe für die kommende Überwinterung. Doch in diesem Jahr erwiesen und erweisen sich die Eisverhältnisse vor der Schelfeiskante im Bereich von Neumayer als so schwierig, daß bisher ein Durchkommen noch nicht geschafft wurde und das Schiff sich weiter durch das Eis "knabbern" muss (Beispiel Filchner-Ronne-Schelfeiskante). Mit den beiden an Bord befindlichen Hubschraubern wurden zwischenzeitlich aber unsere Kollegen der Überwinterungsmannschaft 2002, einige Techiker und Wissenschaftler als auch einige dringend benötigte Sachen zur Station gebracht.

Wann der Anlauf des Schiffes an die beabsichtigte Liegeplatzposition erfolgt sein wird, ist derzeit noch nicht abzuschätzen. Also heißt es warten. Aber da gibt es eng gesteckte Planungen für die wissenschaftlichen Forschungen während der Sommersaison, die einige unruhig werden lassen, weil es nicht voran geht. Jeder Forscher möchte den nicht sehr lange währenden und wiederholt von sehr stürmischen Tagen gezeichneten Südsommer optimal nutzen.

Sie, liebe Leserinnen und liebe Leser, haben derzeit im sich verengenden Zeitrahmen vor dem Fest der Feste sicherlich wenig Zeit, daran zu denken, dass etwa 14 000 km von Deutschland entfernt im antarktischen Sommer ein paar Leute leben, arbeiten und forschen, um den Dingen auf den Grund zu kommen, die in Zeitläufen von Milliarden Jahren dieses einmalige Gebiet geformt haben. Die Hast nach dem Schnäppchen, die unbedingte Perfektion für das Festtagsessen und dann die "wohlige" Schlappheit nach der Hektik der Vorweihnachtszeit, bevor man sich selbst betrügend, am 2. Januar froh ist, der Zeit für fast ein weiteres Jahr hinterherzulaufen - ist es das wirklich, das Wunderbare an Weihnachten?

Schwer, das alles zu verstehen und noch schwieriger, das mit den Gedanken und Gefühlen zu vereinbaren, die sich bei uns im Laufe des nun schon über ein Jahr währenden Einsatzes auf der Neumayer-Station entwickelt haben. Und ein wenig Angst mischt sich ein, bald nach der Rückkehr in die "Zivilisation" diesen Zeitläufen wieder unterworfen zu werden, zu sein und zu bleiben...

Nichtsdestoweniger möchten wir Ihnen, liebe Leserinnen und Leser der "Post aus der Antarktis" frohe und besinnliche Tage zum Weihnachtsfest, einen fröhlichen Rutsch in das neue Jahr und in diesem Gesundheit, Glück und Frohsinn wünschen.

Mögen Sie die Muße haben, Zeit für die Zeit zu finden.

In diesem Sinne - herzliche Grüße aus der Antarktis



Isabel & Bernd
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