Intervention

Die Berlinale muss wieder Experimentierfeld werden

Von Lukas Foerster
23.11.2017. Das Problem an der Berlinale ist nicht die Anzahl der Filme, sondern die Indifferenz, mit der sie präsentiert werden. Es wäre schön, wenn das Festival mit dem Abgang von Dieter Kosslick 2019 wirklich die Chance für einen Neuanfang nutzt statt ihre diskursfeindliche Betriebsamkeit weiter zu pflegen.
"Was macht eigentlich Dieter Kosslick?" - die Frage würde man gerne schon heute stellen können, nur leider ist es noch nicht so weit. Als im Frühjahr diesen Jahres die Meldung durch die Presse ging, dass sein Vertrag als Berlinale-Leiter nach 2019 (und insgesamt 18 Jahren Amtszeit) nicht mehr verlängert werden wird, ging ein kollektives Aufatmen durch die deutsche Filmszene; plötzlich ist ein Leben nach Kosslick in den Bereich des Möglichen gerückt. Jetzt, da das Festival langsam wieder näher rückt, schiebt sich allerdings die Erkenntnis in den Vordergrund, dass es bis 2019 doch noch eine Weile hin ist - und außerdem mehren sich die Anzeichen, dass Kosslick sich nicht abfinden will mit seinem Abschied. Wenn nicht als Leiter, so will er wenigstens als Präsident weitermachen, hört man.

Jedenfalls schwillt bereits wieder die publizistische Begleitmusik an. Kosslick gelingt es nahezu mustergültig, das muss man ihm lassen, die Berlinale in seine eigene Personality-Show zu verwandeln. Am 22.10. durfte er sich im Tagesspiegel wieder einmal als Berlins Chef-Gourmet präsentieren: "Mit Dieter Kosslick dem Geschmack auf die Spur." Eine human-interest-Story, die unter anderem zu berichten weiß: "Das wird im Laufe des Spaziergangs noch öfter passieren, dass Frauen ihn anlächeln." Den Satz liest man etwas anders, wenn man sich die alternative human-interest-Story dazu denkt, die einen Tag später im Missy Magazine veröffentlicht wurde. Da ließ eine ehemalige Berlinale-Mitarbeiterin durchblicken, dass es nicht unbedingt immer Zeichen einer angenehmen Arbeitsatmosphäre ist, wenn mächtige Männer von lächelnden Frauen umgeben sind. Dank einer, so kann man das vielleicht nennen, intervenierenden Entschuldigung Kosslicks war der Missy-Text bereits nach zwei Tagen wieder aus dem Netz verschwunden.

So oder so kann sich momentan noch niemand so recht vorstellen, wie die Berlinale nach Kosslick aussehen könnte (siehe hierzu auch Matthias Dell im Freitag). Das liegt nun freilich gerade nicht daran, dass sich das Festival unter seiner Leitung ein besonders prägnantes Profil erarbeitet hätte. Im Gegenteil: Selbst die floskelhafte und im Programm stets nur punktuell, in einer Handvoll strategisch platzierter, aufgeplusterter Themenfilme gespiegelte Behauptung, die Berlinale sei das "politische" unter den großen Festivals, wurde in den letzten Jahren nicht mehr allzu offensiv kommuniziert. Die einzige erkennbare Strategie ist die Expansion in immer neue Nebenreihen und Kinosäle. Womöglich ist das im Kern eine Überlebensstrategie: Die Berlinale, und vielleicht auch ihr Leiter, sollen too big to fail werden.

Im Gegensatz zu vielen Kolleginnen und Kollegen glaube ich nicht, dass die Größe des Festivals an sich ein Problem ist. Wenn sich die Berlinale in Special-Interest-Nebenreihen hineindiversifiziert, dann bildet das schließlich auch gesellschaftliche Prozesse ab; die Sehnsucht nach dem Festival als einem von allgemeingültigen Relevanzkriterien geleiteten Ordnungssystem, das einen Überblick übers Kino und damit die Welt gewährleistet, hat etwas Regressives. (Aus ähnlichen Gründen halte ich, nebenbei bemerkt, nicht viel von den ewigen Vergleichen mit Cannes oder Venedig, in denen stets eine chauvinistische Note mitschwingt: Weil die letzten großen alten Männer des Autorenkinos nach wie vor lieber nach Südfrankreich als ins kalte Berlin reisen, sieht man den Festivalstandort Deutschland in Gefahr.)

Das Problem an Kosslicks Berlinale ist nicht die Anzahl der Filme, sondern die Indifferenz, mit der sie präsentiert werden. Die Vielfalt der Sektionen könnte eine wunderbare Spielwiese des Gegenwartskinos sein, auf der einander widersprechende Vorstellungen davon, was Filme können, sollen oder einfach nur sind, gegeneinander in Stellung gebracht werden. Aber dafür bräuchte es zuallererst den Willen, diese Vorstellungen zu artikulieren, und damit ein Gespräch übers Kino, das über eine bloße Aneinanderreihung von Geschmacksurteilen heraus geht, in die interessierte Öffentlichkeit hinein zu tragen. Dass ein Filmfestival idealerweise nicht nur eine Agglomeration von vielen Menschen und vielen Filmen auf engem Raum sein sollte, sondern ein Forum fürs Nachdenken und Debattieren: Einen solchen Gedanken lässt die Berlinale der Ära Kosslick nicht einmal zu.

Ein sprechendes Detail: Eine der ersten Amtshandlungen Kosslicks nach seinem Berlinale-Dienstantritt 2001 war, das Budget der Retrospektive zu halbieren. Die war bis dahin ein Glanzstück des Festivals gewesen, seither ist sie kaum mehr als ein eher pflichtschuldig abgehandelter, zumeist wenig originell programmierter Nachsatz - 2018 wird wieder einmal das Weimarer Kino gewürdigt, also derjenige Teil der deutschen Filmgeschichte, auf den sich alle einigen können. Die Retrospektive könnte der Ort sein, an dem sich das Festival vom Eventcharakter vehement emanzipiert, indem das Kino mit seiner eigenen Geschichtlichkeit konfrontiert wird, was dann idealerweise auch auf die anderen Sektionen zurückwirken würde. Die Berlinale behandelt die Retrospektive dagegen wie den ungeliebten, etwas verschrobenen Teil der Verwandtschaft, der bei der Familienfeier im verschatteten Seitenflügel sitzt, um die gute Laune nicht zu stören.

Vielleicht ist das eine gute Metapher auch für den Rest des Festivals: die Berlinale als jährliches Familientreffen des Weltkinos, bei dem die Filme per Sitzordnung auf die Sektionen verteilt werden. Eine Sitzordnung ist weniger Ausdruck eines inhaltlichen Konzepts als ein Verwaltungsakt. Entscheidend ist nicht, ob an den einzelnen Tischen interessante Gespräche in Gang kommen, sondern lediglich der reibungslose Ablauf der Veranstaltung. In der Tat ist insbesondere der Antagonismus zwischen Forum und Wettbewerb, der die Berlinale bis in die 1990er Jahre prägte, inzwischen komplett verschwunden. Die ganz unterschiedlichen Vorstellungen von Kino, für die einst Forumschef Ulrich Gregor und Kosslicks Vorgänger Moritz de Hadeln standen, waren für die interne Arbeit sicherlich oft belastend - aber sie bescherten der Berlinale eben auch ein einzigartiges Profil, zu dem man sich verhalten konnte. Heute sehen "typische Forumsfilme" immer noch anders aus als "typische Wettbewerbsfilme", aber zum einen hat sich die Differenz zwischen beiden verringert, seitdem Lav Diaz im Wettbewerb und "Hedi Schneider steckt fest" im Forum läuft; zum anderen und vor allem ist nicht mehr klar, was sie, jenseits von Zielgruppenoptimierung, für eine Bedeutung haben könnte.

Diese Entwicklung ist sicherlich auch Ausdruck eines allgemeinen, gesamtgesellschaftlichen Bedeutungsverlusts des Kinos, und sie spiegelt sich in einer medialen Rezeption, die ihrerseits kaum noch grundsätzliche Forderungen an das Festival stellt und die Berlinale wie ein Naturereignis hinnimmt, das Jahr für Jahr über uns hereinbricht. Aber gerade die gegenwärtige Legitimationskrise des Kinos sollte doch eigentlich ein Anlass dafür sein, Filmfestivals nicht als durchökonomisierte Familienfeiern, sondern als Experimentierfelder zu begreifen. Und anderswo hat man das durchaus begriffen. Wer sich heute dafür interessiert, was das Kino noch zu sagen hat in unserer Gesellschaft, der fährt nicht zur Berlinale, sondern zur Filmwoche Duisburg, wo jede Vorführung von einer ausführlichen, ergebnisoffenen Diskussion flankiert wird (mehr hier); zum Internationalen Filmfestival Locarno, das beweist, dass programmatische Vielfalt nicht in Beliebigkeit münden muss; oder zu den Hofbauerkongressen nach Nürnberg, auf denen die diversen Sortierungssysteme des Kinos gleich ganz grundsätzlich in Frage gestellt werden.

Natürlich kann man die Berlinale nicht von heute auf morgen in einen Hofbauerkongress verwandeln. Aber es ist doch sehr zu wünschen, dass die kommende Stabsübergabe, an wen auch immer, zumindest ein wenig an den Grundfesten der diskursfeindlichen Betriebsamkeit rüttelt. Eine Minimalforderung an die verantwortliche Staatsministerin Monika Grütters sollte sein, dass das Festival wenigstens die Chance für einen Neuanfang erhält: Die mit der Berlinale 2020 einsetzende post-Kosslick-Ära muss diese Bezeichnung auch verdienen.