Im Kino

Selbstportrait als Serienmörder

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
16.05.2018. Ist das ein Serienmörder oder Regisseur, wie er aus jeder Leiche ein Stillleben für seine Fotokamera baut, wie er mit dem Jagdgewehr auch noch das aus dem Leben räumt und zu einem schönen Bild anrichtet, was seine Familie hätte sein können? Lars von Triers fulminante Rückkehr nach Cannes. Und Alice Rohrwacher und Spike Lee.
Als die Killerkarriere von Jack (Matt Dillon) beginnt, sieht er noch aus wie ein seltsam gut gekleideter Fahrer eines alten roten Lieferwagens, der eigentlich zu seinem Termin muss, irgendwo in der US-Provinz. Und als er dann zuschlägt, bringen wir alles Verständnis dieser Welt dafür auf. Denn Jack hat eine Autofahrerin aufgelesen, die mitten im Nirgendwo eine Panne hatte. Und die insistiert derart penetrant, dass ihr Helfer ein Serienmörder sein könnte - da muss er einfach irgendwann zu dem herumliegenden und für seinen eigentlichen Zweck nicht mehr zu gebrauchenden Wagenheber aus dem Auto des Opfers greifen. Gleich darauf aber sehen wir auf der Leinwand kurz Glenn Gould auf dem Klavier klimpern und hören die Stimmen von Matt Dillon und Bruno Ganz darüber sprechen, dass das nun ein Sinnbild für Kunst ist. Da ahnen wir schon, dass was hier anfängt nicht einfach nur ein neuer Killerfilm wird. Sondern das großangelegte Selbstportrait des Künstlers Lars von Trier, eine lange kreisende Poetik des Mordens.

Foto: © Zentropa-Christian Geisnaes




Ein neuer Lars-von-Trier-Film im Festival von Cannes, das ist dieses Jahr mehr denn je ein Politikum. Es ist erst sieben Jahre her, da wurde der dänische Regisseur aus Cannes verbannt, weil er in der Pressekonferenz zu seinem Film "Melancholia" wirres Zeug über Adolf Hitler erzählt hatte. "The House that Jack Built" ist nun von Triers Rückkehr an die Stätte seiner größten Erfolge. Wie kolportiert wurde, hatte Festivaldirektor Thierry Frémaux den Film sogar für den Wettbewerb vorgesehen, war jedoch auf den Widerstand von Cannes-Präsident Pierre Lescure und anderer gestoßen. So lief der Film nur außer Konkurrenz. Aber er war dennoch ein Ereignis.

Von Trier lieferte nämlich genau den kontroversen, abgedrehten und so extremen wie konsequenten Film, den der Wettbewerb gut hätte brauchen können, um den Anspruch einzulösen, dass hier in Cannes die künstlerisch wegweisenden Produktionen des Jahres laufen. Zwar haben sich mittlerweile ein paar überzeugende und preiswürdige Filme eingefunden im Programm (dazu später mehr). Aber der Eindruck, dass in der Auswahlkommission eine gewisse Ziellosigkeit vorgeherrscht hat, dann wieder eine Nehmen-was-man-kriegen-kann-Stimmung, dass mal wieder die schön schrägen Streifen in der Nebenreihe "Un Certain Regard" versteckt werden: Dieser Eindruck will immer noch nicht weichen.

Jedenfalls hat die nervige Frau aus der Eingangssequenz von Lars von Triers Film recht, Matt Dillon sieht verdammt nach Serienmörder aus. Gleichzeitig sieht er verdammt aus wie das alter Ego seines Regisseurs - nicht von der Physiognomie, aber von seiner Unbeirrtheit, seiner scheinbar wahllos zerstörerischen Energie, seiner zweifelnden Entschlossenheit, dass wer schaffen will, mit Gewalt vorgehen muss, Leben auslöschen, einfrieren. Wir sehen also Jack beim scheinbar wahnhaften Töten zu, zittern mit ihm mit, wie er aus jeder Leiche ein Stillleben für seine Fotokamera baut, wie er mit dem Jagdgewehr auch noch das aus dem Leben räumt und zu einem schönen Bild anrichtet, was seine Familie hätte sein können, folgen einem von sich selbst Getriebenen, dem die Polizei nichts anhaben kann und gehen mit ihm buchstäblich bis in die Hölle.

Jack wird als Architekt vorgestellt. Der Ingenieur liest die Noten, der Architekt spielt die Musik, führt er in einem schrägen Vergleich aus. Jedenfalls will er tatsächlich ein Haus bauen, reißt es wieder ein und wird dann für das Haus die ganzen Toten brauchen. Das ist eine Groteske, stellenweise nervig und nicht in allen Elementen überzeugend. Aber es ist die so menschliche Selbstanklage und Selbstausweidung des irren Künstlers, der so genau seinen Wahn als Wahn beschreibt, dass man zu wünschen geneigt ist: Wenn bei der Selbsttherapie so viel bei rauskommt, dann lasst sie ruhig alle irre sein!

Da war in Cannes schon die Stunde gekommen, sich auf magische Weise von der Wirklichkeit wegzubewegen. Und damit auf diese zu. Die italienische Regisseurin Alice Rohrwacher zeichnet in "Lazzaro felice" anhand einer kleinen Gruppe von Outcasts ein großes historisches Gesellschaftspanorama. Es reicht vom vormodernen Italien bis in eine zerzauste urbane Jetztzeit, bleibt aber immer ein Märchen, allegorisch und voller Wunder. Es fängt damit an dass eine Gräfin in dem völlig abgeschiedenen Dorf Inviolata eine Gruppe von mehreren Dutzend Landarbeitern und Tabakerntern ausbeutet. Obwohl die Szenerie mit Versatzstücken der späten 1980er, frühen 1990er Jahre ausgestattet ist (ein Klapphandy mit Antenne, ein Walkman und die Lancia-Kappa-Limousine, in dem die Gräfin vorfährt), so werden hier doch wie in einem Freilichtmuseum die feudalen Produktionsverhältnisse des vorindustriellen Italien abgebildet.

Einerseits zeigt Rohrwacher Armut und Ausbeutung, andererseits romantisiert sie den Zusammenhalt und das ländliche Idyll in warmen Farben und pittoresken Arrangements. Das ruft ästhetische Erinnerungen an große italienische Nachkriegsfilme hervor, was bestimmt nicht unbeabsichtigt ist. Irgendwann aber öffnet sich die Welt von Inviolata, die Gräfin fällt. Und Rohrwacher stellt einen bitteren Kontrast zur Gegenwart her, der nicht vom sozialen Fortschritt kündet, sondern von kalter, schmutziger Verlorenheit und neuer Ausgeliefertheit in der Stadt. Mit brechtscher Erzähllogik und kaurismäkiesken Bildern entwickelt die Regisseurin das Konzept der zwei Welten, in der es eine Konstante gibt, nämlich den titelgebenden Lazzaro, ein engelhafter Junge von naiver Ehrlichkeit, der jede Arbeit und jede Unbill auf sich nimmt. Man muss Rohrwachers seltsamem und seltsam pessimistischen Gesellschaftsbild nicht folgen, um dem Sog ihrer Bilder und Figuren zu erliegen.

Mit ähnlich verstörender Märchenhaftigkeit erzählt der Japaner Hirokazu Kore-eda in seinem Film "Shoplifters" (Originaltitel "Manbiki Kazoku") vom Zusammenhalt einer Familie, die gar keine ist. Auch hier sind es Outcasts mitten in der Stadt, Kleinkriminelle mit Hang zum Messietum, die ein vernachlässigtes Mädchen aufnehmen. Und trotz der widrigen Bedingungen entwickelt sich eine Art Familienidyll, das bei allem Willen zur Warmherzigkeit Kitsch vermeidet und Armut nie verklärt (anders als es stellenweise Rohrwacher tut). Hirokazu Kore-eda wirft die im Prinzip einfache Frage auf, wie viel Familie ohne biologische Familie entstehen kann.

Szene aus Spike Lees "BlacKkKlansman". Foto: Verleih.




Nach diesen Filmen (und vielen anderen, die in Cannes dieses Jahr schon gelaufen sind), sah es schon wie der sichere Trend dieses Jahrgangs aus: Dass sich die Filme dem Politischen nur über das Allegorische oder das Individuelle nähern. Dann kam aber Spike Lee. Der prominenteste afroamerikanische Regisseur ist nur einer von zwei Vertretern des US-Kinos dieses Jahr im Wettbewerb. Und "BlacKkKlansman", seine Verfilmung einer wahren Geschichte eines afroamerikanischen Polizisten im Colorado von 1978 ist eminent politisch, auch wenn gerade einmal nicht Donald-Trump-Zitate vorweggenommen werden. Auch wenn der heutige Präsident selbst oder Bilder des Auto-Attentats in Charlottesville aus dem vergangenen Sommer mal nicht dazwischen geschnitten werden. Es ist die Geschichte eines schwarzen Polizisten der sich (mithilfe eines weißen jüdischen Kollegen) beim Ku-Klux-Klan einschleicht und ein Attentat auf die schwarze Bürgerrechtsbewegung vereitelt. Lees Film ist (wieder) im besseren Sinne Mainstream, schnörkellos erzählt, überzeugend entwickelt und wirkt trotz oder wegen der deutlich gesetzten Gegenwartsbezüge seiner Geschichte nie simplifizierend. Interessant ist etwa, wie Lee seine Filmgeschichte mit dem berühmten Historien-Stummfilm "Birth of a Nation" kontrastiert, der - aufgemerkt - ursprünglich "The Clansman" hieß und den Rassismus der Weißen in die Bilder einer Staatdoktrin gewordenen Interpretation der US-Geschichte gießt (der Film wurde etwa im Weißen Haus vorgeführt).

Am überraschendsten aber ist dabei, wie geradezu staatstragend Spike Lee nun heute in seinem Film argumentiert. Man könnte sagen, er will schlicht Amerika nicht Trump und Konsorten überlassen. Bei der Bürgerrechtsbewegung der Siebziger Jahre, die Lee auch abbildet, war das noch anders. Damals treffen schwarze Polizisten wie Lees Hauptfigur Ron auf scharfe Kritik. Das ganze System wird als in sich rassistisch betrachtet. Bei Lee aber ist der Polizist der Held. Und nicht nur der seiner Community. Hier darf es Forschritt geben.

Das war jetzt aber kein Märchen mehr, denkt man sich. Aber auch die Märchen von Cannes waren dieses Mal nicht gelogen.

Lutz Meier