Essay

Dieser fragile Rahmen

Von Thierry Chervel
24.11.2015. Macht es einen Unterschied, ob Demokratien wegen ihrer "Werte" oder ihrer "Prinzipien" gehasst werden? Letztlich können moderne Gesellschaften auf den Begriff der Werte nicht verzichten, weil auch ihre Rechtsgrundsätze sich aus Werten ableiten. Eine Antwort auf Gustav Seibt.
In jenem Augenblick, da Fanatiker im Blutrausch wehrlose Menschen abschlachten, um sich dann selbst zu pulverisieren, fragt Gustav Seibt in der SZ: "Ist 'Aufklärung' ein 'Wert', für den wir kämpfen sollten?" Und rät ab.

Es mag magisches Denken sein, wenn die deutschen Feuilletons nach einer physischen Attacke erstmal anfangen, an Begriffen zu doktorn, als könnte die richtige Theorie den Streit noch verhindern. Macht es einen Unterschied, ob Demokratien wegen ihrer "Werte" oder ihrer "Prinzipien" gehasst werden? Werden die Dschihadisten Ruhe geben, wenn Demokratien nicht "polemogen" ihre Werte hochhalten, sondern in kalter regelgeleiteter Vernunft die Schläge polizeilich parieren?

Seibts Artikel ist auf viel Zustimmung gestoßen. Katharina Hacker zitiert ihn im Perlentaucher: es gehe überhaupt nicht um Werte im Kontext solcher Anschläge, sondern um Gesetze. Auch Mark Siemons folgt Seibts Argumentation in der FAS.

Die Rede von den Werten, sagt Seibt zunächst, "ist ein Reflex auf eine entgötterte Welt, in der Individuen und Gesellschaften ihre Wertentscheidungen für sich treffen".

Man mag notieren, dass zwei Begriffe in diesem Satz - nämlich "entgöttert" und "Reflex" - schon einen polemischen Stachel enthalten, aber es ist richtig, dass Werte in jenen Gesellschaften formuliert werden, die auf einen Gottesbezug verzichten. Denn Gesellschaften, die religiös reguliert sind, sind nicht von Werten geleitet, sondern von Gewissheiten. Wobei auch "Gewissheit" ein Begriff ist, der die Sache von außen betrachtet, denn Religionen geben ihre Gewissheiten als Wahrheiten aus und stellen sie mit jenem Formelkram, den Navid Kermani als schön feiert, in eine Aura der Heiligkeit, die sie unangreifbar machen soll. Dafür verlangen sie dann je nachdem "Respekt" oder "Unterwerfung".

Polemisch ist der Begriff des Reflexes bei Seibt, weil er Passivität unterstellt - ein Reflex ist ein zufälliger Widerschein. Als sei die so fragile, stets vorläufige Konstruktion der Werte in Demokratien den Religionen nicht in jahrhundertelangem blutigem Kampf abgetrotzt worden. Die Werte demokratischer Gesellschaften sind Errungenschaften, gewonnen in sozialen Kämpfen und Kämpfen um Emanzipation. Blogger aus Bangladesch, Homosexuelle aus Russland, Femistinnen in Irland könnten Seibt vielleicht bestätigen, dass auch der Säkularismus seine "Märtyrer" hat. Aber so sieht Religion die Aufklärung nun mal am liebsten - als bloße Folge sinnloser Entgötterung, als unschön, flach, eine bloße Verfahrensregel.

Zugegeben: Wert ist kein besonders präziser Begriff. Eher ein besonders flexibler, der es auch erlaubt, Absolutheitsansprüche abzudämpfen. Vielleicht sind Werte genau jenes Bündel aus Prinzipien, Rechten, Errungenschaften und kulturellem Erbe, das den Menschen ein Leben diesseits solcher Ansprüche erlaubt, die keinesfalls stillgestellt sind und sogar zugelassen bleiben, solange sie diesen fragilen Rahmen nicht physisch attackieren. Man nennt das Toleranz oder Freiheit oder Recht auf ein Schinkenbrot im Café.

Seibt spricht dann vom "Eingeständnis, das Ziel der Geschichte nicht zu kennen", das er mit Werterelativismus gleichsetzt. Beide Begriffe führen in die Irre. Eingeständnis klingt, als habe man nach ratlosem Stochern irgendwann zugeben müssen, dass man kein Ziel formulieren kann. Umgekehrt ist es richtig: Der bewusste Verzicht auf eine solche Formulierung ist Voraussetzung eines Widerstreits verschiedener Position in demokratischen Gesellschaften. Der kühn ausgehaltene Widerspruch ist kein Relativismus, sondern Offenheit.

Religionen binden. Sie haben Rituale für Lebenssituationen, in denen der Säkularismus leider keine Alternativen bietet. Sie bewahren kulturelles Erbe und bieten Modelle von Solidarität. Aber Necla Kelek hat recht, wenn sie konstatiert, dass "der Islam nur zur Religion werden kann, wenn er sich säkularisiert". Religion ist erst wahr, wenn eine Person sich frei zu ihr bekennen kann. Sonst ist sie Zwang.

Seibts Behauptung, Werterelativismus sei selbst ein positiver Wert, erstaunt. Relativismus ist Beliebigkeit und führt zum Verlust von Kriterien. Relativistisch argumentiert Seibt selbst, wenn er vor einem Glaubenskrieg warnt, als sei die laut geäußerte Weigerung einer Gesellschaft, sich schlachten zu lassen, und sei es halal, ein symmetrischer Akt der Aggression. Aufklärung mag zwar stets gefährdet sein, in Tugendterror zu erstarren, aber dann ist sie schon Religion. Eine solche Gefahr droht in den westlichen Gesellschaften im Moment nun wahrlich nicht. (Oder sieht Seibt die Rechtsextremisten als entfesselte Aufklärer? Das wäre allerdings eine ganz neue Interpretation.) Die Selbstverteidigung einer Gesellschaft, die offen bleiben will - auch für Flüchtlinge! - gleichzusetzen mit religiösen Finsterlingen, die alles dem einen unterwerfen wollen, ist grotesk.

Seibt behauptet, dass eine Verteidigung demokratischer Werte "polemogen" sei, also nur Streit schüre. Gleichberechtigung und Homosexualität möchte er zwar durch Rechtsgrundsätze garantiert sehen, aber Angriffe darauf seien eine Sache der Verbrechensbekämpfung. Man möchte also seine Lebensentwürfe ausleben, aber nicht selbst dafür einstehen. Das sollen die Polizisten tun, nicht die Gesellschaft als Ganzes - Solidarisierung könnte ja als Wert missverstanden werden! Zehnmal nein: Letztlich können moderne Gesellschaften auf den Begriff der Werte nicht verzichten, weil auch ihre Rechtsgrundsätze sich aus Werten ableiten.

Gleichsetzung von Werten und Glauben: Damit sind wir wieder beim "Fundamentalismus des Unglaubens" angelangt, jener Formel Mohammed Bouyeris, die sich Kritiker der Religionskritik vor Jahren aneigneten und die inzwischen außer Gebrauch gekommen ist - wohl kaum aus Einsicht über die immer schlimmeren und nicht von Aufklärern zu verantwortenden Gewaltexzesse, sondern weil man in seiner Kritik der Kritik noch einen Schritt weiter gehen will.

Seibt zitiert nicht von ungefähr die Friedenspreisrede, in der Navid Kermani das Publikum der Paulskirche zu einem Gebetskreis umfunktionierte. "Islamismus ist Islam ohne Kultur", sagt Seibt mit Kermani. "Insofern hat er teil am modernen Werterelativismus, den er mit einer radikalen Wertsetzung beantwortet." Kultur ist hier das entscheidende Wort: Für Kermani ist der Fundamentalismus nur die Kehrseite der Moderne und hat wie sie (in Seibts Worten) die "Daseinssicherheit in Tradition, Sitte, Kultur" verloren. Kermani borgt sich in seiner Friedenspreisrede die radikalste Islamkritik seiner Diskursgegnerinnen aus, um sie sich zunächst als Zerknirschtheit eines verzweifelten Gläubigen anrechnen zu lassen und sie dann in Richtung Moderne zu entsorgen, weil er von einer Restauration wahrer, in "Tradition, Sitte, Kultur" verwurzelter Religiosität träumt. Schuld am Bösen in der Religion ist für ihn die Moderne.

Nun ist es schon richtig, dass Fundamentalismus eine Antireaktion auf den Tod Gottes ist. Tradition ist der Kompromiss des Absoluten mit der Zeit. Fundamentalisten müssen es hassen, wenn sie der Zeit nicht mehr gewachsen ist und abstirbt. Um so mehr müssen Versuche wie der Kermanis, Religion künstlich in ein verlorenes Recht zu setzen, beunruhigen. Religion wird das Problem nicht lösen, das sie ist. Ostentative Religiosität von Leuten, die selbst kaum glauben können, was sie zu glauben behaupten, ist in Deutschland inzwischen ein Elitending. Sie dient den Wächtern über "Tradition, Sitte, Kultur" zur Sicherung von Positionen. Nicht ein Minister unserer aktuellen Regierung hat bei der Vereidigung auf den Gottesbezug verzichtet. Es mag ein Symptom einer alternden Gesellschaft sein.

Die Frage ist nicht, ob Aufklärung ein Wert ist, für den wir kämpfen sollten, sondern warum ein so heller Kopf sie nur mit Gänsefüßchen anfasst.

Thierry Chervel