Bücher der Saison

Politische Bücher

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
11.11.2023. Igal Avidan und Meron Mendel über Israel, Janka Oertel über China, Christina Morina über 1000 Aufbrüche in der DDR, Bernie Sanders über das Ende des Kapitalismus.
Die aktuellen Ereignisse im Nahen Osten geben dem Konflikt eine neue Dimension, und die Bücher zur konkreten Situation müssen erst noch geschrieben werden. Hier seien dennoch zwei aktuelle Bücher empfohlen, die sich mit Israel und Palästina auseinandersetzen: Igal Avidan war 2021 in Israel und hat mit Israelis aller Couleur gesprochen. Meron Mendel hört zu, wie man in Deutschland über den Nahostkonflikt redet - und hält fest, was dabei schief läuft.

In diesen Tagen kann man sich kaum mehr vorstellen, dass es auch positive Nachrichten vom Verhältnis zwischen Juden und Arabern geben kann. Da tut die Lektüre von Igal Avidans Buch "Und es wurde Licht..." (bestellen) vielleicht gut, das zum 75. Geburtstag der Staatsgründung Israels erschien. Der Journalist begibt sich auf eine Reise von Haifa bis nach Tel Aviv. Ohne zu beschönigen, so FR-Kritiker Michael Brumlik, gibt er wieder, was die Menschen dort zu sagen haben, und wie die Situation der arabischen Bürger Israels aussieht: Israel lieben werde er nie, sagt ein arabischer Maler, aber er glaube an eine Zweistaatenlösung und an Frieden - irgendwann. Eine Parallelexistenz war und ist möglich, zeigt Avidan mit seinen Beispielen aus dem israelischen Alltag. taz-Kritiker Klaus Hillebrand schöpft durch dieses Buch Hoffnung, weil er von Menschen liest, die sich bewusst gegen Hass und Gewalt entscheiden, obwohl sie zum Teil Schreckliches erlebt haben. Im NDR-Interview spricht Avidan über die aktuelle Situation, die sich seit den Hamas-Angriffen noch einmal deutlich verschlimmert hat und warnt beide Parteien davor, nur das eigene Leid zu sehen: "Das ist kein Wettbewerb, wer mehr Opfer zählt - die Israelis oder die Palästinenser - oder wer mehr leidet. Da kommen wir nicht weiter. Irgendwann müssen wir nach vorne schauen und alles tun, damit so etwas nie wieder passiert."

"Wir schauen auf Israel und sehen uns selbst", sagt Meron Mendel im FR-Interview zu seinem Buch über den deutschen Blick auf Israel. Die Dauerempörung, die Debatten heutzutage präge, geht Mendel auf die Nerven: "Wir haben als Gesellschaft die Fähigkeit verloren, einem Argument ein Gegenargument entgegenzusetzen. Es funktioniert inzwischen so, dass Etiketten ausgetauscht werden und Menschen danach dem einen oder anderen Lager zugeordnet werden." Solche Eindimensionalität versucht Mendel in seinem Essay jedenfalls zu vermeiden: SZ-Kritiker Ronen Steinke lobt "Über Israel reden" (bestellen) in den höchsten Tönen. Mendel schreibt einerseits differenziert über die deutsche Wahrnehmung des Nahost-Konflikts und nimmt gleichzeitig kein Blatt vor den Mund, so Steinke. So stelle der Autor klar, dass nicht vernünftig diskutiert werden könne, solange in Deutschland beide Seiten den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern für die Zurschaustellung ihrer eigenen "moralischen Überlegenheit" instrumentalisieren. Er blickt kritisch auf die israelische Siedlungspolitik und gleichzeitig auf postkoloniale Positionen, die mit dem BDS sympathisieren. Auch FAZ-Kritiker Günther Nonnenmacher findet, dass "die heikle Kunst der Positionierung" Mendel hier durchaus gelungen ist.

Linken Antisemitismus zu thematisieren, war den deutschen Medien lange Zeit peinlich und Akademiker wie Aleida Assmann rieten ausdrücklich ab, überhaupt nur in diese Richtung zu blicken (mehr hier) - mit dem 7. Oktober hat es einen Umschwung gegeben, auch dank donnernder Stimmen wie der Durs Grünbeins (mehr hier) kann die Öffentlichkeit diesem seit Jahrzehnten schwärenden Problem nicht länger ausweichen. Noch vor dem 7. Oktober brachten Stefan Lauer und Nicholas Potter von der Amadeus-Antonio-Stiftung das Buch "Judenhass Underground" heraus (bestellen), das Antisemitismus in aktivistisch linken Zirkeln in Deutschland untersucht - mit deprimierenden Ergebnissen. Potter äußerte in einem FR-Interview (unser Resümee) sein Entsetzen über die die teilweise abstoßenden Reaktionen der Linken, nicht nur in Deutschland, auf die Hamas-Pogrome: "Ich bin komplett desillusioniert. Von vielen Bekannten, von denen ich dachte, dass sie sich auch für Demokratie und Menschlichkeit einsetzen, bin ich schwer enttäuscht. Das geht nicht nur mir so und offen gestanden weiß ich nicht, ob und wie sich das wieder kitten lässt. Mir ist in den letzten Wochen klar geworden, dass viele Linke echt schwer antisemitisch sind und überall nur noch Unterdrücker und Unterdrückte wittern. "
 
China und seine Rolle als aufstrebende Weltmacht war eines der wichtigsten Themen dieser Saison. Die Sinologen Daniel Leese und Ming Shi haben in ihrem Buch "Chinesisches Denken der Gegenwart" (bestellen) die Schriften chinesischer Intellektueller versammelt und geben so einen kommentierten Überblick über zentrale Themen der chinesischen Politik und Gesellschaft. Der Sinologieprofessor Heiner Roetz ist in der NZZ tief beeindruckt von "der Bandbreite und intellektuellen Tiefe der hier vertretenen Denker". Wertvoll findet er, dass hier die unterschiedlichsten und widersprüchlichsten Positionen nebeneinanderstehen, Regimekritiker neben -befürwortern, Positionen aus dem Konfuzianismus, Liberalismus oder Kommunismus. Für taz-Kritiker Wolfgang Schwabe ist es ein großer Gewinn, dass er als Leser nicht gezwungen ist, sich mit einer der Positionen gemein zu machen, sondern sich, auch durch die gelungene Übersetzung und Anmerkungen, ein eigenes Bild machen kann. Beide Kritiker erhoffen sehnlichst eine Fortsetzung, das könnte allerdings schwierig werden, merkt Roetz an. Denn die Grenzen des Sag- und Schreibbaren sind inzwischen von der Regierung noch enger gezogen wurden. Viele der hier versammelten Autoren haben bereits ihren Job verloren, dürfen nicht mehr publizieren oder sitzen gar im Gefängnis.

Einige Bücher verhandeln den Konflikt zwischen den USA, Europa und der aufstrebenden Weltmacht China. In "Das Ende der China-Illusion" (bestellen) ruft Janka Oertel dazu auf, sich endlich der Realität zu stellen: das Land wird zunehmend zu einer Gefahr für die Demokratie in Europa. Ein Buch "gerade noch zur rechten Zeit", ruft Kai Strittmaier in der SZ. Endlich spricht jemand Klartext, jubelt der Kritiker und empfiehlt der deutschen Regierung das Buch zur dringenden Lektüre: Vermeintliche wirtschaftliche "Win-Win"-Kooperationen mit China entlarvt Oertel als Illusion, gleichzeitig zeigt sie, dass die kommunistische Partei mitnichten für Stabilität sorgt, so Strittmaier, sondern sich im Gegenteil immer mehr in einer Mischung aus Paranoia, Putin-Nähe und fanatischem Militarismus verstrickt. Im Tagesspiegel-Interview spricht Oertel über den "systemischen Kollateralschaden", den eine solche Zusammenarbeit herbeiführt: "Im multilateralen Rahmen übt Chinas Fokus neuen Druck aus, aber auch bei der Technologieentwicklung und Standardsetzung von Überwachungskameras bis hin zu Elektroautos. Dass das, was in China passiert, mit Blick auf den Ausbau von Kontrolle, Überwachung, Sicherheit und Industriepolitik auf China beschränkt bleiben werde, der Umgang mit dem Rest der Welt davon nicht betroffen sei, bleibt ein Märchen."

Ähnlich argumentiert der China-Experte Frank Dikötter in "China nach Mao" (bestellen): "Der Blick, den Peking auf Demokratien hat, ist grundsätzlich konfrontativ", betont er im FR-Gespräch. Josef Braml und sein Co-Autor Matthew Burrows mahnen in "Die Traumwandler" vor einer drohenden Eskalation mit den USA: Nur durch eine Rückkehr zur Kooperation und gegenseitigem Verständnis könne eine solche vermieden werden. FAZ-Kritiker Jörg Echternkamp empfiehlt diese aktuelle Gegenwartsanalyse "voller Ausrufzeichen".

Um die Sowjetunion 1989 überhaupt an den Verhandlungstisch zu bringen, an dem es um die deutsche Wiedervereinigung ging, lockte US-Außenminister James Baker mit einem (hypothetischen) Vorschlag: "Nicht einen Schritt weiter nach Osten" (bestellen) solle sich der Machtbereich der Nato ausdehnen. Seitdem wird viel gestritten über die Frage der Nato-Ost-Erweiterung. Hat die Nato mit der Eingliederung osteuropäischer Staaten ihr Versprechen gegenüber Russland gebrochen, wie so oft behauptet? So einfach ist es nicht, stellt die Historikerin Mary Elise Sarotte im Zeit-Interview klar: "Wer die Schuld einfach bei der Nato sucht, wird bei mir nicht fündig. Mich interessiert das Zusammenspiel zwischen den Regierungen in Ost und West, dessen Dynamik zum heutigen Krieg geführt hat. Ich halte die Osterweiterung der Nato für richtig. Denn die Osteuropäer, die sich aus der Sowjetherrschaft freigekämpft hatten, hatten das Recht der freien Bündniswahl; Moskau hat dem zugestimmt, Gorbatschow hat es bestätigt. Und doch sah dieser demokratische Aufbruch der Osteuropäer für Moskau aus wie der Zusammenbruch seines Imperiums."

Wladimir Putin oberkörperfrei auf einem Pferd: Wer sich die Selbstinszenierung des russischen Präsidenten anschaut, denkt schnell an den Begriff, um den sich Sabine Fischers Buch zum Thema dreht: Chauvinismus. Ein Wort, das vielen veraltet erscheint, schreibt sie zu Beginn ihres Buches "Die chauvinistische Bedrohung" (bestellen), das aber essenziell ist, um die Dynamiken hinter dem russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine zu verstehen. SZ-Kritiker Matthias Kolb liest mit großem Interesse vom sexistischen und nationalistischen "Männlichkeitskult", auf dem Putin seine Macht aufbaut. Die 73. Ausgabe der Zeitschrift "Osteuropa" (bestellen) - wir haben sie schon im Bücherbrief empfohlen - widmet sich all den Kriegen, die Russland in den letzten 150 Jahren verloren hat. Und das sind nicht wenige. FR-Kritiker Christian Thomas ist schwer beeindruckt von diesem Band: Sowohl "die sakral-religiöse Vereinnahmung des Krieges" als auch "die völlige Enthemmung von Kriegsstrategien" lassen ihn an den Ukraine-Krieg denken.

Cover: Tausend AufbrücheDie ehemalige DDR war aufgrund einiger Bücher in diesem Jahr ein intensives Debattenthema. Katja Hoyer fand in "Diesseits der Mauer" (bestellen) nicht alles schlecht im eigentlich doch recht trübe wirkenden Arbeiterparadies, für Dirk Oschmann existiert der Osten eigentlich nur als Konstruktion des Westens, worüber er in "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" (bestellen) aber ziemlich sauer ist. Anne Rabe dagegen lässt den Trübsinn in ihrem lesenswerten Roman "Die Möglichkeit von Glück" (bestellen) so trübe sein, wie er war. Christina Morina nun wartet in "Tausend Aufbrüche" (bestellen) mit einer originellen Konstruktion auf: Sie erkennt auf eine ganz eigene Demokratie-Tradition in der DDR. Die Rezensenten sind verblüfft und angeregt. Mit Erstaunen liest etwa der Publizist Norbert F. Pötzl, selbst Autor einer Honecker-Biografie und anderer Bücher über die DDR, die Ergebnisse von Christina Morinas Archiverkundungen für die SZ. Sie habe Bürgerbriefe an die Autoritäten vor der Wende und nach der Wende gesichtet, und das in Ost und West. Daraus kann sie stark abweichende Mentalitäten rekonstruieren, so der Rezensent. Der vielfach gerade im Westen nicht wahrgenommene besondere Aspekt an der DDR sei gewesen, dass es sich um eine "partizipatorische Diktatur" handelte. 

Bernie Sanders' "Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein" (bestellen) ist ein wutentbrannter Aufruf, endlich den Kapitalismus als das eigentliche Problem unserer Zeit zu erkennen, weil er eine Quelle der Ungleichheit und ein Zerstörer von Demokratie und Umwelt sei. Im taz-Interview richtete er seine Kritik auch gegen die Politik der Demokraten, die sich lieber mit Identitätsfragen befassen: "Gibt es eine Linke, die wirklich für die Interessen der Arbeiterschaft kämpft?". Auch für die amerikanische Philosophin und Feministin Nancy Fraser ist der Kapitalismus eine Schlange, die ihren eigenen Schwanz auffrisst: "Der Allesfresser"(bestellen) verschlingt natürliche und soziale Ressourcen, die Grundlagen seiner eigenen Existenz. Lander Scholz empfiehlt bei Dlf-Kultur dringend die Lektüre dieses Bandes als Schritt in eine bessere Zukunft. In der FAZ findet der Historiker Werner Plumpe Frasers Sicht auf den "Kannibalen-Kapitalismus" eher unterkomplex. In der FAS freut sich Harald Staun hingegen schon auf das Ende des kapitalistischen Systems, das er sich jetzt zumindest vorstellen kann. in der taz geht es Robert Misik genau andersrum.

Es war bei uns bereits im Bücherbrief von September, da es aber eines der am kontroversesten besprochenen Bücher dieser Saison war, hier noch einmal der Hinweis auf die Kampfansage "Links ist nicht woke" (bestellen) der Philosophin Susan Neiman an die "Woke-Bewegung", die ihrer Meinung nach die grundlegenden Prinzipien von Links-Sein untergräbt. Harry Nutt liest, wie er in der FR betont, mit Gewinn, wie Neiman darlegt, dass es in der Linken inzwischen gängig sei, den Universalismus und andere Ideen der Aufklärung als "Taschenspielertricks" zu betrachten, die eurozentristische und kolonialistische Tendenzen verschleiern sollen. Für taz-Kritiker Till Schmidt scheitert Neimans Vorhaben schon allein an der fehlenden Definition des Begriffs "woke". Nicht begeistert waren die Kritiker vom Buch der Aktivistin Lea Bonasera, die über den Kampf der "Letzten Generation" gegen den Klimawandel schreibt ("Die Zeit für Mut ist jetzt!") (bestellen), gelesen haben es aber alle. Nicht analytisch genug, lautete unter anderem das Urteil. SZ-Kritiker Jan Heidtmann findet es aber trotz allem gut, dass Bonasera keine "Brandrede" geschrieben hat, sondern einen nüchternen Einblick in ihr Engagement gibt, für ein, das sollte man nicht vergessen, existenzielles Problem, das uns alle betrifft.