Helmut Böttiger

Die Jahre der wahren Empfindung

Die 70er - eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur
Cover: Die Jahre der wahren Empfindung
Wallstein Verlag, Göttingen 2021
ISBN 9783835339392
Gebunden, 473 Seiten, 32,00 EUR

Klappentext

Helmut Böttiger zeichnet ein differenziertes, bunt schillerndes Bild der politischen, kulturellen und literarischen Prozesse dieses Jahrzehnts zwischen Aufbruch und Desillusionierung.Die 70er Jahre waren ganz anders. Gerade die Parole vom "Tod der Literatur", die mit der Nummer 15 des "Kursbuchs" 1968 verbunden wurde, löste eine nach allen Seiten hin wuchernde und wilde Blütezeit der Literatur aus! Überall wurden kleine alternative Literaturzeitschriften, Verlage und Buchhandlungen gegründet, für die Hoch- und Subkultur keine Gegensätze mehr waren. Eine neue Generation begann nach unterdrückten Gefühlen, nach Freiräumen für die eigene Subjektivität zu suchen. Peter Schneiders Erzählung "Lenz" wirkte wie ein Fanal. Rolf Dieter Brinkmann, Nicolas Born oder Jürgen Theobaldy, beeinflusst von der angloamerikanischen Beat-Generation, standen für eine Lyrik, die die Grauzonen des deutschen Alltags mit grellen Farben aufmischte. Der durch die Revolte mitinitiierte Feminismus hatte mit Verena Stefans "Häutungen" oder Karin Strucks "Klassenliebe" erste Bestseller, gleich mehrere Autoren wandten sich den Prägungen durch ihre Naziväter zu, und mit Wilhelm Genazino und Eckhard Henscheid ergaben sich erste charakteristische Durchdringungen von Tragik und Komik. In denselben Jahren entstanden mit den großen Büchern von Uwe Johnson, Peter Handke, Peter Weiss, Ingeborg Bachmann oder Arno Schmidt Monumente eines Bewusstseins nach der Moderne. Zeitgleich mit dem optimistischen Lebensgefühl der Willy-Brandt-Jahre der Bundesrepublik erlebte auch die DDR die Zeit ihrer größten Lockerungen - an Beispielen von Christa Wolf, Franz Fühmann und anderen werden die Widersprüche deutlich -, bis die Biermann-Ausbürgerung ihnen 1976 ein Ende setzte. Und ebenso wirft Böttiger Seitenblicke in die Schweiz zu Fritz Zorn und Hermann Burger und nach Österreich, wo er die Selbstüberbietungsprosa eines Thomas Bernhard als ein zentrales Ergebnis der siebziger Jahre sieht.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 14.12.2021

Rezensent Oliver Pfohlmann stürzt sich dank Helmut Böttiger noch einmal auf die Literatur der Siebziger. Was waren das für Zeiten, als Studenten für einen Raubdruck der "Dialektik der Aufklärung" Schlange standen oder in WGs leidenschaftlich über Ich und Emotionen, über Büchner, Bachmann, Braun, Brinkmann oder Born diskutiert wurde, seufzt der Kritiker. Noch einmal bricht Pfohlmann mit Peter Handke, den Böttiger neben weiteren für den Band interviewte, beim Anblick eines Schnittlauchs in Tränen aus oder lässt sich anregen, mal wieder Böll und Fichte zu lesen. Dass Böttiger auf Zuschreibungen wie "Neue Subjektivität", "Neue Innerlichkeit" oder "Neue Empfindsamkeit" nicht viel gibt, findet der Rezensent begrüßenswert. Und dass der Autor österreichische und Schweizer Schriftsteller nur am Rande betrachtet, kann Pfohlmann angesichts dieses lehrreichen, kurzweiligen, schlicht: "furiosen" Epochenporträts auch verschmerzen.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.11.2021

Rezensent Thomas Combrink springt gerne zwischen den verschiedenen Aufsätzen über die deutsche Literatur der Siebziger hin und her, die Helmut Böttiger in seinem Buch versammelt. Als größte Stärke des Buchs nennt Combrink die Personenporträts; sowohl Beziehungen zwischen AutorInnen (Sarah Kirsch und Christa Wolf, Thomas Bernhard und Siegfried Unseld) als auch die Differenz zwischen Schriftstellerpersona und echtem Menschen zeige Böttiger anschaulich auf. Den "intuitiven" und selbst recht "wilden" Zugriff des 1956 geborenen Autors auf das Jahrzehnt (das bei ihm auch Teile der Sechziger umfasst, so Combrink) findet der Kritiker irgendwie ansprechend, einen Überblick bekommt er so aber nicht richtig. Etwas mehr Beachtung hätte er sich für Autoren des subjektiven Schreibens wie Paul Nizon oder Friederike Mayröcker gewünscht - bei Böttiger sei die "wahre Empfindung" aus dem Titel eher auf die politisch-öffentliche Sphäre bezogen.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 30.09.2021

Rezensent Hubert Winkels verfolgt die Literaturgeschichte der 70er Jahre in Helmut Böttigers Buch "Die Jahre der wahren Empfindung". Böttiger zeigt darin nicht nur die allgemeine Wahrnehmung der Literatur aus dieser Zeit auf, welcher oftmals Selbstzentriertheit vorgeworfen worden sei, sondern durchläuft kreuz und quer Material und Diskurse zu den Werken und AutorInnen der 70er Jahre, darunter zum Beispiel Günter Grass, Peter Handke oder Christa Wolf, erklärt Winkels. Was die einen als Alltagssprache abtun erkennt Böttiger als "poetische Selbstreflexion", so der Kritiker, dem Böttigers genaue Lektüre imponiert. Zumal dessen Ansichten Winkels zufolge dabei stets großzügig, entspannt und euphorisch bleiben. Und: "das Verhältnis von Anekdote und Analyse stimmt", schließt zufrieden der Rezensent.