Vorgeblättert

Gerd Koenen: Vesper, Ensslin, Baader, Teil 3

22.09.2003.
Im Unterschied zum lamentierenden Vater vermag der Sohn sich aber aus dem Staub zu erheben. Was war Burton anderes als ein braver jüdischer Junge, der seinen banalen Künstlerträumen nachhing und sich vor dem Trip durch die Hölle fürchtete? Warst Du eifersüchtig auf die Unendlichkeit in mir? ... Deine Angst hat mir den Trip verdorben ... Du wirst Dich durchschlagen. So groß sind Deine Träume nicht, daß sie sich nicht verwirklichen ließen ... Zuletzt haben wir geschwiegen. War es Ungeduld, war es Gleichgültigkeit oder versteckter Haß? ... Wir, Fremde in einer fremden Stadt, uns fremd ... (26)
Sie trennen sich fast wortlos - nach einer schäbigen Kabbelei um die "Schulden", die Burton bei Bernward noch hat und die auf unklare Weise dessen "Schuldgefühlen" korrespondieren. Am Ende gibt Burton ihm 20 Schillinge - und man assoziiert Silberlinge. Ihre Adressen auszutauschen, kommt beiden nicht in den Sinn.


In Vaters Garten 

Mit dem Abgang Burtons ist die Bahn bereitet für den erlösenden Traum. Im PEYOTL-MÄRCHEN, nun ganz im Zarathustra-Ton gehalten, ist ICH ein Erleuchteter im Garten, der da bei der Stadt lag. Und ich wusste, daß ich verraten war von allen, die ich liebte, und dass es an der Zeit war zu sterben. Und ich sah im Weiß der Wolke über den Baumkronen den VATER, und ich breitete die Arme aus und kniete im Gras und flüsterte: "Vater, ich bin gekommen, ich bin Jesus!" ... Und ich rief: "Warum hast Du mich verlassen." Doch war dieser Filius kein Opferlamm, sondern ein Jesus der Gewalt, ein moderner Wiedergänger jenes Proleten Jesus ..., der vor zweitausend Jahren Gott herausforderte, ohne zu wissen, daß es die Menschen waren, die Gott gemacht und über sich gesetzt hatten als ihren Vater, der sie bedrohte und liebte, der aber unfähig war, seine Liebe zu zeigen.(27)
Das war der Moment der Katharsis, auf den der ganze Trip und das HOFGARTENERLEBNIS zuliefen: Ich dachte an meinen Vater und versöhnte mich mit ihm. Er war ein Gefangener in dem Gestänge seiner Illusionen, ein weißer Lichtstrahl verband seine Gestalt mit der Gestalt Adolf Hitlers, seines Führers ... Später nahm ich die Axt, die immer am Kopfende seines Bettes stand und zerschlug diese Asche in nachträglicher Wut.(28)
Eine Szene von fast penetranter Symbolik: Der Sohn, der jesusgleich für den Vater gelitten hat, nimmt in "nachträglicher Wut" die Axt vom Kopfende seines Bettes - aber nicht, um ihn zu erschlagen, sondern um den Lichtstrahl zu durchtrennen, der diesem mit seinem falschen Abgott Hitler verband. Dann endlich kann er sich mit ihm versöhnen, dem Gottvater seiner Kindheit, der ihn so oft bedroht und gequält hatte und doch nur "unfähig war, seine Liebe zu zeigen" ...
Schon die ersten (und vielleicht eindrucksvollsten) Passagen der REISE verraten, sofern man genau liest, etwas von den Unter- und Gegenströmungen, die den epischen Fluss desperater Anklagen und Erinnerungen begleiten und immer von neuem verwirbeln. Vespers Programm einer literarischen Selbstanalyse, eines "Hand vor Hand"-Heraufholen(s) der in den Brunnen gefallenen Kindheit, gibt mehr und ganz anderes preis, als ihm bewusst wird - und gerade dort, wo er die Nabelschnur radikal kappen will, die ihn mit seiner Herkunft verbindet.
Dass diese Kindheitserinnerungen unter dem fortlaufenden Titel EINFACHER BERICHT den gesamten Text immer mehr überwuchern und schließlich dominieren, ist denn auch kein Zufall; so wenig wie die Tatsache, dass sie stilistisch ungleich geschlossener, konventioneller, "heiler" sind als der übrige Text. Sie berichten in kindlich-sinnlicher Weise vom "subtilen Faschismus" der Eltern, von Unterwerfung und Verstoßung, Indoktrination und Abrichtung, aber auch vom Glück der einfachen Dinge, von Trotz und Rebellion wie vom heißen Wunsch nach Anerkennung und Versöhnung.
Das Bild des Vaters, das in diesen Berichten entsteht, ist das eines Tyrannen, dessen Macht weniger auf physischem Zwang oder materieller Einschränkung als auf psychischer Vergewaltigung und geistiger Verführung beruht. Ich wurde nur wenige Male geschlagen. Und diese Schläge hätten nicht ausgereicht, mich den Haß zu lehren ... Die unendliche Gemeinheit lag nicht in der offenen Konfrontation ..., sondern in den hinterhältigen, langsam aber entsetzlich wirkenden Methoden.(29)
Mit seiner totalen patriarchalen Präsenz hält Will Vesper die Sippe als verschworene Gemeinschaft auf "Gut Triangel" beieinander, das sich wie eine Festung gegen die Welt da draußen abschottet. In apokalyptischen Tischreden beschwört er den sicheren Zusammenbruch jener Welt des moralischen Verfalls und der geistigen Zersetzung herauf, die im Mai 1945 endgültig über das Deutsche Reich gesiegt hat.
Als Fünfzehnjähriger macht Bernward fanatisch Propaganda für die "Deutsche Reichspartei" und teilt die maßlose Enttäuschung der eklatanten Wahlniederlage 1953. Und selbst als er beginnt, mit seinem Vater über die Lüge von den 6 Millionen ermordeter Juden zu streiten, da geht es anfangs nur um die Klarheit einer gemeinsamen Sache.(30) Aber mit der schrittweisen Entfernung von väterlichen Gut (als Schüler auf sommerlichen Tramp-Fahrten durch ganz Europa, dann mit der Verlagslehre bei Westermann in Braunschweig 1959, schließlich mit dem Weggang zum Studium nach Tübingen im Wintersemester 1960/61) wächst auch die innere Distanz zum Elternhaus. Das ist jedenfalls das Bild, das die REISE vermittelt - und vermitteln möchte.
Im Februar 1962 lernte Bernward Vesper seine Kommilitonin Gudrun Ensslin kennen. Das Cannstatter Pfarrhaus der Ensslins muss ihm als Gegenwelt , aber auch als Gegenstück zum Gutshaus in Triangel erschienen sein. Hier wurde statt des deutschnationalen "Reichsruf" die protestantisch-pazifistische "Stimme der Gemeinde" gelesen, die aus einer völlig anderen, aber ähnlich angewiderten Position den realpolitischen Opportunismus und die amoralische Geschichtsvergessenheit der Bundesbürger geißelte. Gudrun Ensslin, die lange in der evangelischen Jugendarbeit aktiv war, studierte nach einem Gastjahr in den USA in Tübingen Germanistik, Anglistik und Pädagogik. Man traf sich im großen Freitags-Kolloquium bei Walter Jens und diskutierte über die alte und die neue deutsche Literatur.
Aber erst der Tod Will Vespers im Frühjahr 1962 bedeutete eine erste Zäsur. Meine Geschichte zerfällt deutlich in zwei Teile. Der eine ist an meinen Vater gebunden, der andere beginnt mit seinem Tod. Als er starb, flüsterte ich ihm noch den Namen 'Gudrun' ins Ohr, die ich gerade kennengelernt hatte. Sterbeszene. Ich saß acht Tage an seinem Bett und heulte. So heißt es in einer der frühesten Passagen der REISE.(31) 


Gudruns Lied 

Ein Medium dieser Auseinandersetzung mit seiner Herkunft und biographischen Prägung waren neben allen weltanschaulichen Positionsverschiebungen die Prozesse der lebensweltlichen Entbindung und Radikalisierung. In seinen Notizbüchern spricht Vesper über sein sado-masochistisches verhältnis zu gudrun, das nur die fortsetzung der autoritätsfixierung gewesen sei, und sogar von der mutter-(vater-) beziehung auf sie.(32) Dagegen seien die Ekstase, der Rausch, die Romantik, der Schmerz (die Ausnahmezustände) ... reserviert für die Anderen geblieben.(33)
Auch davon handelt DIE REISE: von der manischen Suche ihres Helden nach Selbstbefreiung und Selbst(er)findung im Sexus. Für den Spätdeflorierten wird eine entgrenzte Sexualität neben und inmitten der immer weiter getriebenen Politisierung zur ersten und eigentlichen Droge. Was ihn eigentlich umtrieb, blieb ihm unklar: Immer, wenn Du ein Mädchen liebtest, hast du gemerkt, daß Du eigentlich etwas ganz anderes wolltest.(34) So war, was wie wahllose Promiskuität aussah, immer auch die Jagd nach dem Gral der "wahren Liebe" und nach ihrer Einmaligkeit (Ewigkeit) ... - zu deren Qualitäten auch Treue, Ausdauer, Ausschließlichkeit gehören,(35) wie Vesper ja durchaus bewusst war. Gerade diese Qualitäten aber vermochte er niemals aufzubringen - anders als Gudrun, seine "Isolde", die er verlor, weil er sie verriet: Gudrun war da. Ich konnte immer wieder zu ihr zurückgehen und sie nahm mich auf, wir liebten uns und "Immer?" "Ja immer!" Wunder, daß sie es eines Tages satt hatte und mich heute haßt?(36)
Mitte Mai 1967 war ihr Sohn Felix zur Welt gekommen, gezeugt aus den Genen zweier Löwen(37) - ein Wunschkind, das sie enger hätte binden sollen. Aber als mit der fortschreitenden Schwangerschaft die Frage einer Heirat auftauchte, verweigerte sich Gudrun Ensslin. Die Rollen begannen sich in raschem Tempo zu verkehren. Und die Erfahrungen des 2. Juni 1967 in Berlin katapultierten beide, wie Zehntausende ihrer Altersgenossen, in einen neuen, "vierten" Zustand der politischen Radikalisierung. Bei einer der Protestaktionen traf Gudrun Ensslin auf Andreas Baader, der gerade aus dem Gefängnis kam, wo er eine Jugendstrafe abgesessen hatte. Seine Aktionsvorschläge übertrafen die aller anderen an Radikalität. Er wird der Mann ihres Lebens - für zehn Jahre, bis der Tod sie scheidet.
Der Trip in den Terror, der mit der Frankfurter Kaufhausbrandstiftung im April 1968 scheinbar spielerisch begann, bedeutete für Ensslin wie für Baader die Trennung von ihren Kindern - wie sich herausstellte, für immer. In ihrer lebensgeschichtlichen Verbindung war dafür kein Platz, apokalyptische vision vom endkampf - dieser unmaterialistischen annahme wurde felix geopfert,(38) heißt es in einer späten Notiz Vespers, die Gudrun als eine Medea der Revolution zeichnete, oder eben als jene Sphinx, die er als eingebildeter blinder Sänger in den letzten Wochen seiner Eppendorfer "Haft" immer wieder anrief.
Aber auch er hatte das Kind, als er auf seine REISE ging, bei Pflegeeltern abgeliefert. Doch inmitten seiner Canetti'schen "Blendung" im Münchner Hofgarten erscheint ihm FELIX, die kleine Sonne, und wird der Wunsch übermächtig, ihn zurückzuholen. So ist DIE REISE auch eine odysseeische Rückkehr zum verlorenen Sohn. Felix, so hofft er, werde das Instrument sein, das mir meine eigene Geschichte erschließt. Und aus dem Buch, das er schreiben will, soll der Sohn einmal erkennen, wer sein Vater war: Es gibt einen Leser dieses Buches. Felix ... Mein Vater hatte Millionen Leser: Aber für mich sind seine Bücher vollkommen uninteressant, denn sie sagen nichts über ihn, was man nicht aus seiner 'schematischen' Existenz selbst ableiten könnte.(39)
Dem wiedergefundenen, dann wieder verlorenen Sohn ist DIE REISE denn auch gewidmet - und zugleich Gudrun, deren radikale Lossagung von ihm und ihrem gemeinsamen Kind er niemals verwunden hat und die (spätestens mit der Baader-Befreiung im Mai 1970) in den bewaffneten Untergrund gegangen war. Sie ist auf ihrem Trip, und falls sie heute mit Haß oder Verachtung auf diese Zeit blickte, hieße das nur, daß sie mit Haß und Verachtung auf sich selbst blickte.(40)

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(26) Die Reise, S. 161 f.
(27) Ebd., S. 219 ff.
(28) Ebd., S. 222
(29) Ebd., S. 340
(30) Ebd., S. 484
(31) Ebd., S. 39 f.
(32) Ebd., S. 676 f.
(33) Ebd., S. 276
(34) Ebd., S. 167
(35) Ebd., S. 248
(36) Ebd., S. 276
(37) Ebd., S. 281
(38) Ebd., S. 678
(39) Ebd., S. 100
(40) Ebd. S. 593

Mi freundlicher Genehmigung des Verlages Kiepenheuer & Witsch

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