Tagtigall
Sonntagsmittagsglibberpuddinggrün
Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
10.12.2016. Im "Abendlied" besang Matthias Claudius einst die weltabgewandte Seite des Mondes. Noch heute bevölkert viel Nichtgesehenes jedes gute Gedicht. Das macht die Gattung attraktiv, nicht nur zu Christkinds-Zeiten. Neue Gedichtbände kurz vorgestellt Tagtigall-Newsletter abonnierenVom wiehernden Ross der Freiheit

"Spelle um Spelle hörten wir fallen / stundenlang, diese Aufdunstungen aus Dämpfen / die uns eindämmst, du, ein zu dumpfstutziges Azur / wo heißglut duselige bibberige Gelier- oder Glas-Windhunde an kabbeligen Drähten überhetzt / rumdumgeschlenzte Kaninchenfelle jagen aus Luft."
Welch überbordende Bildhaftigkeit. Angefangen hatte Anneke Brassinga mit Übersetzungen. Hermann Brochs Epos "Der Tod des Vergil" zum Beispiel rief bei ihr einen Überschuss verbaler Energie hervor. So begann sie, sich selbst zu übersetzen, den ganzen Ozean von Bildern - eigenen und fremden - in Poesie zu fassen. Der nun in der Reihe "Spurensicherung" erschienene erste deutschsprachige Auswahlband entführt in die Wort- und Denkgefechte dieser Sprachmagikerin, die sich seit Jahrzehnten dem "klopfenden Herzen" ihrer Sprache verschrieben hat. Ihre Kunst, im Schreiben ganz hier und jetzt das "wiehernde Ross der Ewigkeit" zu reiten, erprobt sie an Rätselhaftem und Alltäglichem, an Träumen, toten Kaninchen und dem Rot der Judenbraut. Vieles schwingt hinein: Kompositionen von Mozart und Hieronymus Bosch ebenso wie Ruinen, Straßeneckenküsse und das Sonntagmittagsglibberpuddinggrün.
Vom Summen der Fliege

Keine Fremdsprache, keine dir unbekannte Sprache Bauer ist dir die Welt. / Dasselbe Tuch um den Kopf und der zarte Feldspinat auch jenseits der Berge.
las man dort zwischen Fotos, auf denen, wie im Text, das Schlachten der Schweine als das inszeniert wurde, was es wohl auf ihrem Hof ist: ein Akt des Tötens, der vom festlichen Mahle weiß. "Nauz" , das ladinische Wort für Futtertrog, gab auch einen Hinweis auf den nährenden Aspekt ihres Schreiben.
Nun hat der Folio-Verlag mit dem Band "dies mehr als paradies" Dapunts ersten Gedichtband vorgelegt - übersetzt von dem Wiener Übersetzerkollektiv Versatorium, das sich über die Jahre zu einer Sprachschmiede entwickelt hat und Dapunts Gedichte nicht nur ins Hochdeutsche, sondern mitunter auch in einen Dialekt (österreichisch) und einmal sogar ins Georgische überträgt. In diesen hochkonzentrierten Bildern wird das bäuerliche Leben verhandelt, von der Geburt bis zum Tod, vom Blick aus dem Fenster bis zur herbstlichen Rückkehr von der Alm. Dazwischen all die täglichen Verrichtungen, Begegnungen und das Schweigen - alles wird in leisem Ton ins Bild gesetzt.
Ich schulde meinem fenster alles was ich nicht schreibe,
ihm dem ausgebreiteten bild auf dem die gedanken dämmern.
Schulde dem fenster das dauernde summen der fliege
Und das reglose sitzen und das hören bis der abend kommt.
Ihm schulde ich die stockfinsternis und die Pia, die pünktlich
Jeden abend die lämpchen der weihnacht anzündet.
Dem fenster schulde ich was manches mal über stunden mich festhält,
Abtei ist spiegel und uhr meiner tage.
Derzeit ist es Winter in Abtei / Abadia. Wann eigentlich schreibt eine Bäurin?
Winterreise

"Viagg'invernal" -winterliche Reise - der Untertitel, gibt Hinweise. Sowohl zur gewählten Form des Zyklus als auch zur Anlässlichkeit der Texte. Wie die Winterreise umfasst "Am Kalten Hang" 2 mal 12 Gedichte. Und wo die Winterreise im Durchwandern der Landschaft eine verlorene Liebe betrauert, schwingt hier der (drohende) Verlust eines Geliebten mit. Doch die Natur ist bei Esther Kinsky, und das ist ihr Geschenk an die Sprache und an uns Leser, kein aufgeladener Sehnsuchtsort, kein ironisierter oder überhöhter Fluchtpunkt und kein Spiegel der Seele. Nein, wie schon bei Emily Dickinson ist die Natur auch hier ganz um ihrer selbst Willen Objekt erhöhter Aufmerksamkeit. Sie verbindet, die Lebenden und die Toten, und sie bezeugt, durch ihre Existenz, durch ihre profane Erhabenheit, dass es etwas gibt, was unsere Menschenwelt zusammenhält - eine Welt, die die Autorin mit dem Geliebten teilt, und die wir miteinander und mit der Autorin und ihrem Wir und Du teilen können, so wir in Worten beieinander zu Gast sind.
Sie hangele sich im Schreiben von Mut zu Mut, hat Kinsky einmal gesagt. "Mir träumt, mir träumt das alles / lag schon in der luft die seit geraumer zeit/ so brandig roch wohin mit all den blättern. / Ein jeglicher an seinen dienst." Mut braucht Magie.
Schmugglers Gut

Wie Wasserbüffel scheuen die Verse sich
Störrische Worte, "idiotische Herde"
Ich locke, ich schlage sie mit Zweigen und Stöcken
Bilder, die wir nicht zu buchstabieren wagen
In der Regenzeit an einer versunkenen Furt
Bis eins / verzweifelt / in die Brühe springt
Und die Strophe folgt ohne Zögern
("Kühe, Büffel, geschmuggelt über die Grenze")
Man sieht, Volker Braun schmuggelt so einige Kassiber in seine jüngsten Gedichte. Hinzu kommt: Schreiben ist aus Verzweiflung gemacht. Es sucht und schafft sich in der Sprache seine eigenen Gesetze . In unbehauster Welt ist der Dichter Volker Braun seit Jahrzehnten zu Hause. "Dämon", "Dotterleben", "La traboule" und "Wilderness" heißen die Kapitel dieses jüngsten Bandes. Das lyrische ich reist um die Welt, streift mal durch China oder Lateinamerika, mal bleibt das Auge an einem alten Gemälde hängen, mal ist es ganz und gar nur bei sich. An Humor, Ironie und Selbstironie mangelt es ihm nicht.
Spähübel ist uns nun und weh vor Wut. /Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut./ ... /Die Welt ging hin, die Anschauungen folgen. / Wie harmlos lag der Blick auf unsern Wolken / Im Baltenmeer ein kinderfrohes Baden / Wave glider drunten sammeln meine Daten.
Braun kennt, beherrscht und spielt mit allen Registern variiert fremde und eigene Töne, bedient sich immer wieder auch bei Bertolt Brecht: "Frau, arbeite härter" heißt es einmal. Und: "Viertausend Jahre die Sandale binden / So wird ein Schuh daraus." Halbsätze wie "Ihr ... wart das Volk. Jetzt soll ich Volker heißen" kalauern zwischen stillen Landschaftsbeschreibungen und kolumbianischen Rolltreppen. So treiben seine Verse ins Offene.
Himmelskinder

Wenn ich sie etwas fragte, zog sie sich meist zurück, wurde eigentlich verschwiegen, schien nicht über die Frage oder über eine Antwort nachzudenken, sondern an etwas anderes, das von der Frage ausgelöst war. Verlor sich lange in diesem Andenken und vergaß wahrscheinlich die Frage. Fragen eröffnen einen leisen Raum. Wenn ich Media etwas fragte, blieb sie leise. Etwas gefragt, schien sie an etwas ganz anderes zu denken - daran irgendwie, wie die Nichtantwort lauten könnte, die unerwartete, unerhörte, versteckte, verlorene ....
Beim Lesen von Prosa gleitet das Auge für gewöhnlich Wort für Wort voran, von links nach rechts, von oben nach unten, Seite für Seite. Wir lesen, und die Zeit verstreicht. Bei Peter Waterhouse hält sie nicht selten inne. Und wir mit ihr. Die Berliner Künstlerin Nanne Meyer, auch sie ein Himmelskind, die sich im Zeichnen immer zu neuem Mut aufschwingt, hat Bilder geschaffen, die - im engen Dialog mit dem Text entstanden - die Erzählung seitenlang unterbrechen und so den Leser aus dem Kontinuum des Textes nachdrücklich hinauskatapultieren. Die Zeit dehnt sich in den Raum. Worte, Sätze oder Halbsätze wie "Akteneinsicht" , "Bescheide", "Zeugniseinvernahme" und "Zurückschiebung" - oder "keine" "kein" "nicht" und "ohne" , "Keller, Kellner, Kerker" aber auch Sätze wie "Was bedeutet: nicht deuten?" oder "auswandern - Unterricht im Verlernen und Verlieren" hat sie aus dem Textreich auswandern lassen. So So erhalten sie ein stärkeres Dasein, können sich in Meyers Bildreich einbürgern. Ein Sprach-, Denk- und Augenschmaus.
Ohrenschmaus

Nachbemerkung

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