Im Kino

Gestaltwandler

Die Filmkolumne. Von Katrin Doerksen, Lukas Foerster
11.09.2019. Michael Kliers "Idioten der Familie" ist ein Schauspielerfilm, der sich dem Thema Familie mit viel Bewegungsenergie und einem unberechenbaren Drive nähert. Rebecca Zlotowski beobachtet in "Ein leichtes Mädchen" zwei junge Frauen am Strand von Cannes und ihre Betrachter.


Die Sache ist von Anfang an klar: Ginnie (Lilith Stangenberg), eine geistig behinderte junge Frau, muss ins Heim. Ihre Schwester Heli (Jördis Triebel), die bislang im ehemaligen Elternhaus für sie gesorgt hatte, heiratet und ist außerdem schlichtweg mit den Nerven am Ende. Die drei Brüder der beiden, Tommie (Hanno Koffler), Frederik (Kai Scheve) und Bruno (Florian Stetter), die den Tag vor dem Abschied mit Ginnie und Heli verbringen, sehen sich vor vollendete Tatsachen gestellt und sind entsprechend indigniert, aber aus ihrer Hilflosigkeit bei den Versuchen, eine andere, für alle Beteiligten tragbare Lösung zu finden, spricht die implizite Erkenntnis, dass Helis Entscheidung alternativlos ist. Es geht bei der Familienzusammenkunft und in "Idioten der Familie" nicht um auf die Zukunft ausgerichtetes Handeln, sondern um eine reflektierende Bestandaufnahme, in der Vergangenheit nachhallt.

Während Heli lange eher opak bleibt, lernen wir die Brüder schnell und scheinbar ziemlich gründlich kennen: Bruno ist Geisteswissenschaftler, auf dem Sprung nach Afrika und offensichtlich kein allzu verträglicher Typ. Frederik und Tommie sind Musiker, antipodische: ersterer spielt erfolgreich Klassik, letzterer erfolglos Jazz, ersterer hat "in den letzten zehn Jahren drei Porsches kaputtgefahren" und macht sich ohne Verzug an die hübsche Nachbarin heran, letzterer treibt sich perspektivos auf Mittelmeerinseln herum.

Ein grob skizzierter Gegensatz, der allerdings ein wenig in die Irre führt; weil "Idioten der Familie" keine Typenkomödie ist, sondern ein Schauspielerfilm in dem Sinne, dass die Darsteller_innen die zunächst eher schematisch angelegten Rollen nicht einfach nur ausfüllen, sondern ausdifferenzieren, verkomplizieren und gelegentlich auch überschreiten, indem sie ihr grundsätzlich naturalistisches Spiel um gestische oder auch stimmliche Exaltiertheiten erweitern. Das gilt auch und besonders für Lilith Stangenberg, die weniger ein bestimmtes Krankheitsbild verkörpert, als einen Exzess an Körperlichkeit zur Aufführung bringt. Es schwappt jedenfalls einiges an drehbuchpsychologisch ungebundener Bewegungsenergie durch den Film, eingefangen zumeist in Halbnahen von einer agilen, weniger vom stabilen Framing als vom amorph Gestischen her gedachten Kameraarbeit. Einmal findet der Film ein schönes Bild für diesen Überschuss: Ginnie umwickelt ihre Geschwister mit Küchenpapier, woraufhin die vier sich in ein gesichtsloses, vielfüßiges Monster verwandeln, das, unartikulierte Laute von sich gebend, durch die Wohnung marodiert.



Insbesondere dank solch langer, sich oftmals praktisch in Echtzeit über mehrere Minuten entwickelnden Ensembleszenen gewinnt der Film einen eigensinnigen, letztlich unberechenbaren Drive. Wobei er gleichzeitig das Schematische nie komplett abschütteln kann. Tommie vor allem ist eine allzu überdeterminierte Figur: Der Strohhut, das bunte Hemd (im Gegensatz zum weißen von Frederik), das Strubbelhaar, das Saxofon, das dauerbekifft anmutende Grinsen… So ganz gelingt es Hanno Koffler nicht, sich von diesen übereinandergehäuften Schluffiattributen freizuspielen. Florian Stetter ist hingegen fantastisch, sein Bruno ist mit Abstand der nervigste unter den drei nervigen Brüdern, aber auch der irritierendste, er ist fast überall, wo er auftaucht, das überzählige Element; außerdem ein instabiles, ein regelrechter Gestaltwandler nicht nur in den Szenen, in denen er seine Brille abnimmt, oder schief aufsetzt, oder mit ihr Ginnie streichelt.

Ist Ginnie nicht vielleicht, fragt Bruno einmal, die Prüfung, die uns auferlegt ist und die uns unsere eigenen Probleme vor Augen führen soll? Man weiß, wie bei vielem was er sagt, nicht so recht, wieweit das ernst gemeint ist und wieweit bewusste Provokation. Jedenfalls beschreibt er damit auch ein potentielles Problem des Films: Ist die behinderte Schwester nicht tatsächlich eine ziemlich funktional angelegte Figur, eine Art Bühne für das Schaulaufen der brüderlichen Neurosen? (Heli, die andere Schwester, wäre in dieser Analogie das Publikum; eine noch undankbarere Rolle.) Zumindest ist sie für alle drei offensichtlich das Medium diverser Projektionen. Alle drei haben eine längere Szene mit Ginnie allein, und da zeigt sich jeweils, dass sie alle drei glauben, ein privilegiertes Verhältnis zu ihrer Schwester zu haben, einen höchstpersönlichen Zugang, den nur sie alleine kennen. Nicht nur in diesen Szenen schwingt eine latente sexuelle Übergriffigkeit mit, eine dunkle Unterströmung, die sich am deutlichsten konkretisiert, wenn Ginnie mehrmals im Film und einmal auch Bruno etwas zu lange mit einer Schere hantieren.



Dagegen stehen Szenen, in denen Klier Ginnie von den anderen isoliert. Gleich das erste Bild zeigt sie allein im Garten, aber auch später erhält sie immer wieder, als einzige Figur des Films, einen Raum für sich alleine, einen Raum der Privatheit, eine unlesbare Innerlichkeit, die sich nicht immer gleich wieder als kommunikatives Handeln externalisiert. Ginnie am Fenster, das Gesicht ganz nah an einem Spinnennetz, oder oben auf einem Treppenabsatz, aus dem Dunkel heraus beobachtend.

In solchen Momenten markiert Ginnie ein wenigstens einigermaßen stabiles Außerhalb. Der Titel des Films ist in diesem Sinn zunächst als bloße Umkehrung lesbar: nicht Ginnie ist die Idiotin, sondern alle anderen und vor allem ihre drei Brüder sind die Idioten der Familie. Vielleicht kommt man der Sache noch ein wenig näher, wenn man den Titel seinerseits umdreht: Wir haben es hier, offensichtlich, mit einer Familie der Idioten zu tun und vielleicht auch mit einem Idiotischen, das Familien allgemein inhärent ist; sicher nicht jeder Familie immer, aber vielen Familien häufig und insbesondere da, wo das Familiäre sozusagen sein Haltbarkeitsdatum überschritten hat, weil es von den Beteiligten nur noch als ein äußerer Zwang erlebt wird, als ein lediglich in hohl gewordenen Ritualen und regressiven Erinnerungsschüben begründetes Aufeinanderbezogensein, das auf die Dauer Nähe und Zugewandtheit fast automatisch in Beengung und Dauergenervtheit verwandelt.

Lukas Foerster

Idioten der Familie - Deutschland 2019 - Regie: Michael Klier - Darsteller: Lilith Stangenberg, Hanno Koffler, Florian Stetter, Kai Scheve - Laufzeit: 102 Minuten.

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Als Naïma (Mina Farid) eine Chanel-Handtasche geschenkt bekommt, bleibt die Kamera ausgiebig an dem Stück hängen, sieht dabei zu, wie sie die Tasche betastet, hineinschaut, mit den Fingern über die gesteppten Nähte fährt. Es ist ein ähnlich fetischisierender Blick wie zuvor der auf die großzügige Geberin der Tasche: Die 22-jährige Sofia (Zahia Dehar), die sich in den ersten Augenblicken von "Ein leichtes Mädchen" halbnackt im lauen Wasser der Côte d'Azur aalt. Sie liegt auf dem Rücken, gerahmt von den Wellen und von den goldenen Kieseln des Strandes, ihre Brustwarzen ragen steil nach oben zur Sonne und die Kamera ertastet ihre schlanke Taille, die gebräunte Haut, das teure Bikinihöschen.

Im Zentrum des Films steht mit Sofia der Gipfel des Begehrenswerten: Sie ist die ideale Projektionsfläche. Eine Art Brigitte Bardot des 21. Jahrhunderts mit voluminösem honigblondem Haar, vollen Lippen und einer Figur wie man sie sonst nur auf dem Cover einschlägiger Magazine findet. Sie trägt die teuerste Markenuhr an dem einen und die passende Tasche am anderen Handgelenk. Noch dazu ist sie freundlich und nicht einmal übermäßig dumm.

Sofia funktioniert wie ein Köder für Regisseurin Rebecca Zlotowski: Sie positioniert ihre Protagonistin so, dass diese zwangsläufig alle Blicke auf sich zieht - und kann derweil mit der Kamera in Ruhe die Beobachtenden beobachten. Die Männer auf den mehrstöckigen Luxusyachten, die sich von ihrer Lektüre losreißen, um einen Blick zu erhaschen. Beinahe dokumentarisch muten diese kurzen Einstellungen an, die daran erinnern, dass die abgebildete Welt auch außerhalb des filmischen Universums existiert: "Ein leichtes Mädchen" spielt in Cannes und wie jeder Film, der in dieser Stadt angesiedelt ist, erzählt er auf einer Metaebene von den Mechanismen des Filmemachens selbst. Soeben haben die Sommerferien begonnen und Naïma, gerade 16 Jahre alt, probt gemeinsam mit ihrem besten Freund für ein Vorsprechen am Theater. Die Ankunft ihrer Cousine Sofia aus Paris wirft jedoch alle Pläne über den Haufen.



Naïmas Mutter ist längt aus dem Haus. Sie arbeitet als Zimmermädchen in einem der Hotels, in dem die Crew des Films während der Premiere in der Quinzaine des Réalisateurs 2019 möglicherweise abgestiegen ist. Naïma und Sofia jedoch schlafen bis in die späten Vormittagsstunden und währenddessen sitzen ein paar Kilometer weiter im Hafen zwei Männer beim Frühstück auf ihrer Yacht. Philippe (Benoît Magimel) fühlt sich unter den Augen der Passanten nicht sonderlich wohl, Andres (Nuno Lopes) schüttelt das Gefühl mit einem Schulterzucken ab: "Dass die uns auf dem Boot beobachten, gehört zu deren Urlaubsvergnügen." Ihr altkluges Gespräch über das Verhältnis von Armut und Luxus läuft ab wie eine Aneinanderreihung von Aphorismen.

Überhaupt tragen die meisten Figuren in "Ein leichtes Mädchen" ihren Intellekt vor sich her wie auswendig gelernt. Geben ihr Wissen nur zu gern preis, horchen sich gegenseitig aus, umschmeicheln einander, um sich in einem unerwarteten Augenblick verbal zu erdolchen. In einer grandiosen Szene trifft Sofia auf eine Kunstsammlerin mittleren Alters, die nichts unversucht lässt, ihre jüngere Konkurrentin als Dummchen zu entlarven. Aber Zlotowski führt weder die eine noch die andere vor, lässt Urteile und Schlüsse offen. Vor allem scheint sie im steten Umkreisen der Figuren Spaß an der Auseinandersetzung selbst zu haben, an den Kulissen und Exzessen. An den Farben, Texturen, Lichtstimmungen, die genau so aussehen wie man es erwartet, wenn man sich die Zusammenkünfte der Eliten an exotischen Orten ausmalt. Darüber schweben mal schwerelose Arien, mal Jazzklänge, mal ein Bossa Nova.



"Es geht mir um Erfahrungen, um Empfindungen," erklärt sich Sofia einmal. Sie wolle es lieber vorher wissen, wenn sie sterben müsse, sonst sei ihr schließlich die Möglichkeit genommen, noch ein letztes Mal alle nur möglichen Gefühle zu durchleben. Noch so ein hörbar geschriebener Drehbuchsatz, wie er auch in einem Film der Nouvelle Vague hätte fallen können. Aber Rebecca Zlotowski macht sich auch ein bisschen lustig über solche kopflastigen Assoziationen. Irgendwann sitzen Naïma und Sofia im Kino, auf der Leinwand ist kurz eine besonders garstige Szene eines Torture-Porn-Films zu sehen. Da geht es auch um Empfindungen.

Andernorts drängen sich in "Ein leichtes Mädchen" die Coming-of-Age-Aspekte in den Vordergrund. Immer dann nämlich, wenn Naïma zu Wort kommt, die nur auf den ersten Blick unscheinbarer ist als Sofia. In diesen Augenblicken mag man an einen Trick der Regisseurin glauben. Als existiere Sofia im Grunde gar nicht, allerhöchstens als Symbol der Veränderungen, die Mädchen während der Pubertät durchmachen, der verlorenen Unschuld. Als fantastische Manifestation der unrealistischen Idealvorstellungen, denen man meist nur so lange nacheifert, bis man merkt, dass sie den eigenen Vorlieben gar nicht entsprechen. Am Schluss weint Naïma und weiß selbst nicht so recht warum. Möglicherweise im intuitiven Wissen darum, dass mit ihrer Kindheit ein Abschnitt ihres Lebens unwiderruflich zu Ende gegangen ist.

Katrin Doerksen

Ein leichtes Mädchen - Frankreich 2019 - Regie: Rebecca Zlotowski - Darsteller: Mina Farid, Zahia Dehar, Benoît Magimel, Nuno Lopes, Clotilde Courau - Laufzeit: 92 Minuten.