9punkt - Die Debattenrundschau

Der destruktive Impuls

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.09.2021. In der SZ pocht Nele Pollatschek darauf, dass innerhalb der jüdischen Gemeinschaft geklärt wird, wer jüdisch ist. Le Monde gibt auch Berlin die Schuld an der brutalen Brüskierung Frankreichs durch die Allianz Aukus: Der deutschen Politik gegenüber China fehle Kohärenz und Rückgrat. Die FAZ berichtet von Facebooks eigenen Studien über psychische Probleme von jungen Instagram-NutzerInnen. taz und FR nehmen die WählerInnen der AfD in den Blick: Fühlen sie sich zurecht um ihre Würde gebracht oder sind sie nur selbstmitleidig?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.09.2021 finden Sie hier

Ideen

In der SZ findet Nele Pollatschek sehr klare Worte in der Debatte um jüdische Identität. Die Debatte sei wichtig, aber sie muss eine innerjüdische bleiben, betont sie und wirft Max Czollek und Maxim Biller gleichermaßen vor, aus Eitelkeit oder Bedürftigkeit die große Bühne gesucht zu haben: "Diese Debatte, das reale Schicksal jüdischer Deutscher, wurde benutzt, um Politik zu machen. Erst von Czolleks Followern gegen den linkenkritischen Biller, dann gegen Czolleks linke Stimme, aber dann eben auch von konservativen Zeitungen, um mit 'Wokeness' aufzuräumen, und zuletzt von den Unterzeichnenden der Czollek-Solidaritätsbekundung... Wer Jude ist, das bestimmen Juden, mit allem Streit, allen Ambivalenzen, aller Bedürftigkeit, mit großen Verletzungen und hoffentlich großen Versöhnungen. Nicht-Juden müssen hier schweigen. Chuzpe ist es, als Nicht-Jude hier mitzumeinen und zu glauben, das sei Solidarität. Es ist ein merkwürdiges Verständnis von Solidarität, das Nicht-Juden sich das Recht anmaßen lässt, öffentlich zu bestimmen, wer eine jüdische Identität hat, 86 Jahre nach Erlass der Nürnberger Gesetze. Für Deutsche, für Nicht-Juden und gerade für Linke ist das not a good look."

Welche Debatten in der Öffentlichkeit wie geführt werden sollten, beschäftigt auch die Kultur- und Religionswissenschaftlerin Hannan Salamat auf ZeitOnline. Sie fordert von den Musliminnen und Muslimen mehr kritisches Selbstbewusstsein: "Wenn ich etwa auf die Schweizer Burka-Debatte im Frühjahr zurückblicke, sehe ich, dass genau das passiert ist: Wir haben auf den antimuslimischen Rassismus und den Sexismus hingewiesen, der hinter einem solchen Burka-Verbot steckt - aber wir haben die Chance verpasst, in der breiteren Öffentlichkeit auch darüber zu streiten, was wir als Muslim:innen von der Tradition des Gesichtsschleiers halten. Wir haben die Gelegenheit verpasst, so auch öffentlich klarzumachen, dass auch viele von uns das kritisch sehen... In der Öffentlichkeit braucht es eine aufrichtige und ernste theologische und gesellschaftliche Diskussion aus muslimischen Perspektiven über Themen wie Antisemitismus, Homophobie und Frauenfeindlichkeit."
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Europa

Frankreich wurde durch die Allianz Aukus und die Aufkündigung des australischen U-Boot-Vertrages über 56 Milliarden Euro brutal brüskiert. America First bleibt auch unter Joe Biden die Devise der amerikanischen Außenpolitik, und die freibeuterischen Briten stellen nur zu gern an die Seite der USA. Für Le Monde ist aber eine dritte Lektion noch entscheidender: "Abgesehen von den französischen Empfindlichkeiten werden hier die Stellung Europas und seine Rolle in der Welt in Frage gestellt. Welchen Platz will sie in der globalen Neuordnung einnehmen, die im Schatten der amerikanisch-chinesischen Konfrontation stattfindet? Kann sie als autonome Macht agieren, oder werden die europäischen Länder diese Neuausrichtung verstreut begleiten und jede Hoffnung auf Einflussnahme und die Verteidigung ihrer Interessen aufgeben? ... Die EU hat es bei ihrem Umgang mit dem Aufstieg Chinas, insbesondere unter dem Einfluss Berlins, an Kohärenz und Rückgrat fehlen lassen. Das kommt uns heute teuer zu stehen." Unterdessen hat Frankreich seine Botschafter aus den USA und Australien zurückgerufen, wie die Zeitungen melden.
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Stichwörter: AUKUS, Australien, Biden, Joe, U-Boot

Gesellschaft

Die linken Parteien waren einst Arbeiterparteien, heute wählen Menschen ohne Hochschulabschluss eher rechtspopulistisch. In der taz sieht der Mathematiker und frühere Grünen-Politiker Karl-Martin Hentschel darin, ganz wie Michael Sandel, eine Folge der Leistungsgesellschaft - und von zu vielen Akademikern in der Politik: "Bei der Abwendung der Unterschichten von den linken Parteien geht es eben nicht nur um die mangelnde Bekämpfung der Ungleichheit. Die gesellschaftliche Linke muss sich auch für die Würde der Arbeit - von der Kinderbetreuung bis zur Müllabfuhr - in der Gesellschaft einsetzen. Vielleicht erklärt das auch den Ost-West-Unterschied bei den Wahlergebnissen der AfD. Es könnte durchaus sein, dass Demütigungen in den neuen Bundesländern stärker empfunden werden als im Westen, da in der DDR die Leistungen der Arbeiter stärker gewürdigt wurden. Daraus erwächst heute um so mehr das Gefühl der Herabsetzung durch die Gebildeten, die oft auch noch aus dem Westen gekommen sind."

Konträr, aber andererseits auch recht passend dazu analysieren die beiden Soziologen Vera King und Ferdinand Sutterlüty in der FR die psychosozialen Deformation der rechtspopulistischen Klientel, bei der sie regressive Positionen und eine libidinöse Besetzung der Destruktion diagnostizieren: "Der destruktive Impuls muss in ein Opfernarrativ gekleidet werden, um Selbstmitleid aufrechterhalten zu können, aber zugleich Heroisierung zum Ausdruck zu bringen. Das Phantasma des betrogenen Volkes, dem nichts anderes übrig bleibt als der entschiedene Angriff, trägt bei zur eigentümlichen Doppelbödigkeit. Sie bedarf immer neu der Evokation von Angst und Selbstviktimisierung. Sie verbindet sich mit der Pflege der Feindbilder, denen Schuld zugeschrieben wird und die zugleich aggressiv verfolgt und projektiv als verfolgend erlebt werden."
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Politik

In der NZZ umreißt die russische Schriftstellerin Elena Chizhova die Folgen, die Wladimir Putins fahrlässsige Politisierung der Pandemie für das Land hatte: "Die Zwischenbilanz im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie sieht bis jetzt so aus: Die Nicht-System-Opposition ist zerschlagen und existiert nicht mehr - jedenfalls in Russland selbst; am 5. September waren 26 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft, und bereits im August lag Russland gemäss den auf Daten der russischen Pandemiezentrale beruhenden Berechnungen der Johns Hopkins University bei der Zahl der Coronavirus-Todesfälle pro Million Einwohner weltweit an erster Stelle. Und eine weitere deprimierende Zahl: Nach Angaben unabhängiger Experten liegt die Übersterblichkeit während der gesamten Pandemie bis anhin bei 600.000 Todesfällen."
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Geschichte

Der Pergamonaltar war nicht der größte Kunstraub der Osmanischen Zeit, wie türkische Historiker gern behaupten, aber auch nicht so legal, wie deutsche Amtsträger das gern hätten, resümieren Jürgen Gottschlich und Dilek Zaptcioglu in der taz eine große Recherche zu der Frage. Legal war der Abtransport höchstens auf dem Papier: "Nach osmanischem Recht, einer Antikenverordnung aus dem Jahr 1874, die also vier Jahre vor Grabungsbeginn erlassen wurde, galt für ausländische Grabungen eine Drittelregelung. Ein Drittel der Funde sollte dem Ausgräber gehören, ein Drittel dem Landeigentümer und ein Drittel war dem Sultan, also dem Imperialen Museum in Konstantinopel, vorbehalten. Die in Deutschland, aber auch in Großbritannien und Frankreich, den beiden größten Konkurrenten im Wettlauf um die antike Beute im Osmanischen Reich, sehr populäre Erzählung, das islamische Reich hätte sich für das vorislamischen Erbe sowieso nicht interessiert, ist eindeutig falsch."
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Internet

In der FAZ berichtet Lilly Bittner von einem Bericht des Wall Street Journals, demzufolge Facebook interne Forschungsergebnisse zurückhalte, die schwere psychische Probleme bei jugendlichen Instagram-Nutzern festgestellt haben: "Wir verschlimmern bei jedem dritten Mädchen im Teenageralter die Probleme mit dem Körperbild', heiße es in einer Präsentation des Konzerns von 2019. Daten aus dem letzten Jahr bestätigten das Ergebnis. Eine Umfrage aus dem Jahr 2020 zeige, dass es jungen Männern ähnlich gehe: Vierzig Prozent der befragten männlichen Teenager gaben an, dass Vergleiche auf Instagram ihr Körperbild negativ beeinflussten. Eine weitere Studie zeige, dass junge Nutzer Instagram die Schuld für das Anwachsen der Angst- und Depressionsrate gäben. Hinzu kämen negative Auswirkungen auf das Vertrauen in Freundschaften, Essstörungen sowie suchtähnliche Verhaltensweisen der App-Nutzer. Die Daten zeigen laut Wall Street Journal, dass diese Probleme spezifisch für Instagram und nicht repräsentativ für soziale Medien im Allgemeinen seien."
Archiv: Internet
Stichwörter: Instagram, Soziale Medien