Außer Atem: Das Berlinale Blog

Wühlt im atavistischen Morast: Radu Judes 'Aferim!' (Wettbewerb)

Von Lukas Foerster
11.02.2015. Radu Jude porträtiert in seinem Western die rumänische Hau- und Stechgesellschaft des 19. Jahrhunderts.


Die erste Einstellung lässt Schlimmes erahnen: Ein schwarz-weißes, steppenartiges Naturpanorama, eine scharf gezogene Horizontlinie, in die ein kaktusartiges Gewächs hineinragt, dazu Musik, die von fern an Banjoklänge erinnert. Zum Glück erfüllt der Film die Erwartungen, die zumindest ich angesichts dieses Beginns hatte, ganz und gar nicht: "Aferim!" ist keine postmoderne Western-Anverwandlung, die sich einen Spaß daraus macht, das amerikanischste aller Genres in ein denkbar unamerikanisches Setting zu verpflanzen (tatsächlich existieren bereits eine Reihe rumänischer Western, Mircea Veroiu hat einst eine ganze "Transylvanische Trilogie" gedreht). Statt dessen präsentiert Radu Jude: 108 Minuten entspanntes Wühlen im atavistischen Morast der menschlichen Zivilisation.

Ins nächste Landschaftspanorama reiten zwei Männer: Der Gendarm Costandin und sein Sohn. Sie sind auf der Suche nach einer entlaufenen "Krähe", wie so ziemlich jeder in diesem Film die Roma nennt, die in der brutalisierten Hau- und Stechgesellschaft, die der Film in aller Seelenruhe auffaltet, ganz unten stehen, als Sklaven gehalten und (wie man in einer besonders bedrückenden Szene sieht) verkauft werden, verspottet, gejagt, gequält werden. Vielleicht ist der Film zuallererst ein Katalog der Arten und Weisen, wie Menschen Menschen erniedrigen können.

"Entspannt", "in aller Seelenruhe": Eben das ist es, was mir den Film sympathisch gemacht hat, zumindest über weite Strecken. Radu Judes Kamera hat keine Scheu angesichts der Grausamkeiten, die vor ihr ausgebreitet werden, sie drängt sich ihnen aber auch nicht auf. Darin setzt sich der Film auch von vielen Filmen der rumänischen neuen Welle ab: Deren Vorliebe für die Handkamera hat den Wechsel in den Historienfilmmodus nicht überlebt. "Aferim!" bevorzugt das Stativ und den Schwenk, das alle Subjektivierungsversuche abwehrende Tableau. Keine Verbrüderung mit niemand.

Die Redundanz des Gezeigten kann trotzdem nerven; stärker ist der Film auf der Tonebene. Die Musik verschwindet nach dem Anfang komplett und macht der Sprache Platz. Genauer, einem Sprachwirrwar, das der multiethnischen Realität des Rumäniens des 19. Jahrhunderts einigermaßen entsprechen dürfte. Die Dialoge, vor allem die Anekdoten und Lebensweisheiten, die alle Figuren bei jeder Gelegenheit zum Besten geben, behalten eine Ambivalenz, die in den Bildern selbst nicht enthalten ist (vielleicht: nicht enthalten sein kann). Die Ungleichheit, die die Welt von "Aferim!" bis in die letzte Pore prägt, wird einerseits andauernd naturalisiert im Gerede davon, dass es schon immer so war; andererseits jedoch lässt sie sich nur durch beknackte Mythologien aufrecht erhalten, durch böswilliges Fabulieren, das eben diese Naturalisierungen Lügen straft: Vor den Menschen habe Gott, sagt ein Priester (ein Schweinepriester, wenn es je einen gegeben hat), die Riesenjuden geschaffen, aus deren Staub die heutigen, zwar kleineren aber genauso bösartigen Juden entstanden seien; und bereits Adam habe Eva in den Bauch getreten, meint eine übereifrige Dienerin, um Costandins Thesen zum Geschlechterverhältnis zu untermauern.

Warum überhaupt der Western? Am Ende sind die Genremarkierungen vielleicht eher Verkaufsargument (koproduziert hat HBO Romania) als irgendetwas anderes. Costandin schwafelt zwar gelegentlich vom Gesetz, das jetzt endlich Einzug hält in seine Welt und das dafür sorgen wird, dass Frauen nur noch mild bestraft werden können von ihren Männern; aber am Ende geht es doch nur darum, dass er und sein hilf- und gehaltloses Gesetz humorlos aus der Einstellung gedrängt werden, wenn es ans Eingemachte geht und die Macht sich selbst vollzieht. Wenn man doch eine Verbindung ziehen möchte zur filmhistorischen Gattung Western, könnte man vielleicht sagen: "Aferim!" ist ein "Wild Bunch" ohne wilden Bunch. Die Welt ist genauso dreckig und verkommen wie in Peckinpahs Magnum opus, aber es gibt im rumänischen Morast keine virile, dreckige Bande, die diesen Dreck und diese Verkommenheit ausagieren und bis zu einem gewissen Grad doch wieder lustvoll besetzen könnte. Statt dessen greift Müdigkeit um sich, Körper wie Geist erschlaffen. Costandin vor allem hat seine besten Tage hinter sich, einst zog er brandschatzend und vergewaltigend durch die Walachei, jetzt aber kratzt der Hals, und der Penis brennt.

Radu Jude: "Aferim!". Mit Teodor Corban, Mihai Comanoiu, Cuzin Toma, Alexandru Dabija, Luminita Gheorghiu, Victor Rebengiuc, Alberto Dinache, Mihaela Sirbu, Alexandru Bindea, Adina Cristescu. Rumänien / Bulgarien / Tschechische Republik 2015, 108 Minuten (Vorführtermine)