Vom Nachttisch geräumt

Integration durch Separation

Von Arno Widmann
10.09.2018. Wenn sie überleben wollen, müssen auch Institutionen sich verändern, erfährt man aus Hans-Ulrich Wiemers Biografie Theoderichs des Großen.
Der 1961 in Frankfurt am Main geborene Hans Ulrich Wiemer ist Professor für Alte Geschichte in Erlangen. Seine umfangreiche und eindrückliche Biografie Theoderichs des Großen (451 oder 456 bis 526), einer der wichtigsten Figuren der Völkerwanderungszeit, verdiente heute allerhöchstes Interesse. Ich möchte aber nur auf einen - allerdings zentralen - Aspekt hinweisen: "Integration durch Separation" hat Wiemer das einschlägige Kapitel seines Buches überschrieben.

Wie es Theoderich, dem Vorbild für den Dietrich von Bern der germanisch-mittelalterlichen Heldendichtung, gelang, gleichermaßen König der Goten und Herrscher der Römer zu sein, ist angesichts der dürftigen Quellenlage erst einmal unklar. Wiemer verschweigt das nicht. Er entwickelt dann aber doch eine sehr klare Auffassung. Die 25.000 Goten, die sich das weströmische Reich unterwarfen, wurden von Theoderich zu Grundbesitzern in Italien gemacht. Das heißt, sie lebten von den Erträgen ihrer Güter. Die waren herausgeschnitten worden aus dem Besitz römischer Bürger. Wie das genau geschah, ist nicht überliefert. Über Widerstand dagegen ist nichts bekannt. Das lässt viele Historiker daran zweifeln, dass eine solche Landverteilung wirklich stattgefunden hat. Wiemer zitiert zwei Quellen, die dieses Vorgehen eindeutig zu belegen scheinen. Es scheint allerdings auch deutlich, dass nicht alle Regionen Italiens betroffen waren. Die Goten wurden wohl vor allem nördlich der Po-Ebene angesiedelt. Die riesigen reichen Güter zum Beispiel Siziliens blieben von Theoderichs "Landreform" unberührt.

Wiemer interessiert, dass Theoderichs "Staat" nicht aus der Verschmelzung, aus der Assimilation von "Römern" und "Goten" hervorging, sondern dass er eine Collage war, bei der beide zwar zusammen eine Einheit bildeten, aber zugleich als Getrennte erhalten blieben. Die "Goten" hatten eine eigene Sprache, eigene Gerichtsbarkeit. Sie stellten das Militär, hatten den "Staat" zu verteidigen. Sie hatten mit den Römern nur insofern zu tun, als sie wie diese Steuern zu zahlen hatten für den Staat, der lokal und national weiter verwaltet wurde, wie er vor der Eroberung durch die Goten verwaltet worden war.

Alles blieb wie gehabt. Nur jetzt hatten sich die Goten hineingesetzt ins von den Römern gemachte Bett. Dafür waren sie aber auch zu Verteidigern des römischen Staates geworden, weil sie jetzt mit ihm ihren eigenen Grundbesitz verteidigten. Dieser Blick auf eine Phase der Völkerwanderung des sechsten Jahrhunderts erhellt natürlich nicht unsere Lage. Schon weil wir es heute mit einer ganz anders gelagerten "Völkerwanderung" zu tun haben. Aber er zeigt uns, wie Institutionen sich ändern, sich neuen Gegebenheiten anpassen - mit mehr oder weniger großem Erfolg.

Religion spielte damals auch eine große Rolle. Das römische Reich der Spätantike besaß ja nicht nur eine staatliche Struktur, sondern auch eine kirchliche. Die, wenn man so will, "ideologische Bindung" war die Aufgabe der Bischöfe. Sie unterstanden dem Papst, dem römischen Bischof also. Das war eine zweite Hierarchie. Auch mit der hatten die Goten nichts zu tun. Sie waren Arianer, glaubten an den einen, einzigen Gott, hielten nichts von der Idee seiner Dreieinigkeit. Wie Wirtschaft, Politik und Religion sich mit- und gegeneinander entwickelten, das zeigt Wiemer in seiner Theoderich-Biografie. Soweit das angesichts der miserablen Quellenlage überhaupt geht.

Hans-Ulrich Wiemer: Theoderich der Große - König der Goten, Herrscher der Römer, C.H. Beck, München 2018, 782 Seiten, 46 Abbildungen, 17 Karten, 34 Euro.