Im Kino

Rotes Bilderrauschen

Die Filmkolumne. Von Nikolaus Perneczky, Jochen Werner
11.06.2021. Eine zufallsgeleitete Auslese aus dem Berlinale-Programm des Forum Expanded führt nach Kolumbien zum Geist Bolivars, zu lateinamerikanischen Putzfrauen, die um das eingestürzte World Trade Center aufräumen, brassilienischer Multiperspektivität und einer autotrophen Utopie des russischen Kosmismus. Netflix zeigt fünf herzerwärmende Filme mit dem neapolitanischen Musiker Nino d'Angelo aus den achtziger Jahren.
Eine zufallsgeleitete Auslese aus dem Programm des Forum Expanded: von einer kolumbianischen Geisterbeschwörung über brasilianischen Multiperspektivismus und russischen Kosmismus bis zu deutscher Bosheit.



"Bicentenario" beginnt mit drastischen Found-Footage-Bildern aus dem Fernseharchiv: Ein Guerilla-Kommando hat den Sitz des Obersten Gerichtshofs in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá erobert und hält dessen Präsidenten als Geisel. Die Regierung reagiert mit massiver Militärgewalt, vorgeblich zum Schutz der nationalen "Institutionen". Die Besetzer und ihre Geiseln sterben im Kugelhagel, das staatliche Rechtsarchiv geht in Flammen auf. So spektakulär diese Gewalt erscheint, so normalisiert ist sie zugleich: Während ein Panzer gegen das schwere Tor des Gerichtshofs vorgeht, füttert draußen auf dem Vorplatz ein Mann unbekümmert die Tauben. Das war 1985. Der Rest des Films von Regisseur Pablo Alvarez Mesa wandelt in der Gegenwart auf den Spuren Simón Bolívars durchs kolumbianische Hinterland und wirft einen lakonischen Blick auf die Feierlichkeiten anlässlich des zweihundertjährigen Jubiläums von Bolívars Befreiungskampagne. "Bicentenario" beobachtet patriotische Politikerreden und militärische Machtdemonstrationen im Schatten der futuristisch in den Himmel ragenden "Lanzerstatue" in der nordöstlichen Provinz Boyacá, wo Bolivars Armee den Spaniern eine entscheidende Niederlage zufügte. Zu Bildern vom offiziellen und inoffiziellen Bolívar-Kitsch ist auf der Tonspur die Stimme eines jungen Mannes zu hören, der seine patriotische Pflicht gegen die Guerilla erfüllen möchten, daneben die Stimme einer Frau, welcher der große Befreier als Geist erschienen ist. Der Film selbst versteht sich als Geisterbeschwörung. Wiederkehrendes Bindeglied zwischen den Stationen dieses kolumbianischen Passionswegs ist ein rotes Bildrauschen unterlegt mit einer Flüsterstimme, die den Nationalhelden erst herbeiruft, um sein gespenstisches Nachwirken im politischen Unbewussten der Nation anschließend auszutreiben: "Bolívar, leave us!" Am Ende versteht man, warum.



"Ahorita Frames" ist ein Porträt jener lateinamerikanischen Putzfrauen, die in den Trümmern von 9/11 im Auftrag eines Asbestentsorgers ohne Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis und ohne angemessene Staubschutzmasken ein Jahr lang Aufräumarbeit leisteten. Staub lag über allem und hing in der Luft, wie auch der Geruch von Verwesung: Unfassbares Grauen also, dem sich Angelika Levis Film jedoch über die Bande, fast spielerisch nähert, ohne irgendetwas zu verharmlosen. "Ahorita Frames" springt hin und her zwischen dokumentarischen Aufnahmen von New York und Reenactments, die Levi mit Migrant*innen auf der anderen Seite der mexikanischen Grenze inszeniert hat. Darin stellen sie Anekdoten aus dem Leben der Putzfrauen nach, die von diesen selbst aus dem Off nacherzählt werden. Eine der Frauen imaginiert sich als Figur in einer Seifenoper, um das Erlebte zu bewältigen, andere flüchten sich in Galgenhumor. Besonders eindrücklich die Szene, als die illegalen Dienstleisterinnen an der Seite anderer "first responders" geehrt und auf einem Bankett hofiert werden. (Ob die Putzfrauen Anspruch auf den Victim Compensation Fund erheben konnten, der 2019 mit fast zwanzigjähriger Verspätung verabschiedet wurde?) Die zweigleisige Struktur des Films zwischen New York und der mexikanischen Grenze stellt die wechselseitige Bezüglichkeit dieser beiden Orte, die im Akt der Abschiebung abgeschafft wird, wieder her und schlägt zugleich, wie der Titel des Films nahelegt, eine andere, transnationale Rahmung für die Ereignisse und das Nachspiel des 11. September vor.



Der neue Film der brasilianischen Filmemacherin Ana Vaz setzt ihre fortlaufende Befragung von Multiperspektivität-frei nach dem Anthropologen Eduardo Viveiros de Castro-im Gespräch mit dem amerikanischen Dichter Wallace Stevens und einer Lissaboner Schulklasse fort. Die Schüler*innen lesen und interpretieren in "13 Ways of Looking at a Blackbird" Stevens' gleichnamiges Gedicht, in dem Lebewesen ihre distinkten Umrisse verlieren (A man and a woman and a blackbird / Are one) oder ihr Bewusstsein vermengen (I was of three minds / Like a tree / In which there are three blackbirds). Vaz' Analogkamera sammelt dazu Eindrücke von der Schule und aus deren Umland, an die sich Nahaufnahmen ihrer Gesprächspartner*innen, oft mit geschlossenen Augen, anschließen. Die Grundsatzfragen, die sie aus dem Off oder auf dem Whiteboard stellen, greifen bald auf unsere Wahrnehmung über. Was ist Perspektive, fragt eine junge Frau, was sichtbar und was unsichtbar, ein junger Mann. Die Bilder selbst-von Korridoren, Parks, Schautafeln-werden fraglich, ihr Schwerpunkt beginnt zu vibrieren zwischen Objekt und Subjekt, looking at und seeing like: eine einfache, aber bestechende Versuchsanordnung, in der Bildpoetik und -pädagogik sich aufs Anregendste verbinden.



Anton Vidokle hat sich wieder vom russischen Kosmismus inspirieren lassen, diesmal mit dezidiert umweltpolitischer Schlagseite. Seine Gewährsleute (der Geologe Wladimir Wernadski, der Maler Vasily Chekrigin) sind unverändert faszinierend, das Setting rund um ein Volksfest im süditalienischen Oliveto Lucano ist eine Augenweide, aber je länger der Film währt, umso mehr tendiert "Autotrofia" zum Theorie-Vehikel. Erst noch geht es rein dokumentarisch zu: Eine riesige Eiche wird gefällt, auf einer Prozession durch die Straßen getragen und schließlich gleich einem Maibaum wieder aufgerichtet. Dann fängt plötzlich der Mond zu sprechen an und Menschen verwandeln sich in Bäume: magische Vorzeichen der kosmistischen Utopie, von einer zukünftigen Menschheit, die sich wie die Pflanzenwelt "autotroph", das heißt, selbstständig ernähren wird können und alle lebensnotwendigen Stoffe aus sich selbst bezieht. Ein rituelles Abendmahl der Dorfbewohner mitten im Wald, bei dem viel Wein fließt - christologisch gesprochen, das Blut der Ahnen -, wird jäh von drei Schaustellern unterbrochen, die einen apokalyptischen Sermon halten, während hinter ihnen eine Waldbrandsimulation abläuft. Dass die autotrophe Utopie eine Antwort auf die Klimakatastrophe ist, hätte man vielleicht auch ohne all das Theater verstanden, auch ohne den expliziten Off-Kommentar, der den Rest des Films dominiert und am Ende den Nachgeschmack eines verfilmten e-flux-Essays hinterlässt.



Die digitale Restaurierung von Cynthia Beatts "Böse zu sein ist auch ein Beweis von Gefühl" (1983) ist ein Geschenk an alle, die sich in Berlin manchmal fremd fühlen, eine urkomische Meditation über kulturelle Differenz, historisches Trauma und zerstörte Bausubstanz, mit Beatt und Heinz Emigholz in den Hauptrollen. Ihre deutsch-britische Freundschaft - oder Feindschaft - entfaltet sich über eine Serie Sketch-artiger Szenen, in denen Emigholz nicht ohne Gusto Versionen deutscher Boshaftigkeit zum Besten gibt, während Beatt ihr Leid klagt über die empfundene Gefühlskälte der Deutschen oder über das Deutsche als eine abweisende Sprache, deren tonale Nuancen sich der Nicht-Muttersprachlerin wie mit Absicht zu entziehen scheinen. Solche Verallgemeinerungen aus Beatts Mund, gegen die Emigholz als deutscher Pedant natürlich gleich aufbegehrt, sind die komische Waffe eines Films, der darüber hinaus - in gleitenden Kamerabewegungen über Berliner Architekturen und Fassadenornamente rund um den demolierten Potsdamer Platz - aber auch so etwas wie echte Wehmut aufkommen lässt über das beschädigte Leben in dieser beschädigten Stadt.

Nikolaus Perneczky

Das diesjährige Forum Expanded findet im Rahmen der Sommerberlinale vom 9.-20. Juni statt.

---

Szene aus "Nu jeans e 'na maglietta"


Fast wie ein Schutzheiliger schaut der italienische Musiker Nino d'Angelo von einem 12 Meter hohen Wandgemälde auf das neapolitanische Viertel San Pietro a Patierno herunter, und angesichts der Monumentalität dieses im September 2020 fertiggestellten Bildes beginnt man zu ahnen, dass der kleine und so gar nicht den männlichen Schönheitsidealen praktisch aller Zeiten entsprechende Mann jedenfalls für Neapel deutlich mehr ist als nur ein Schlagersänger aus den 80er-Jahren. Diese begannen für d'Angelo, obgleich er bereits seit einigen Jahren erfolgreich im Popmusik- wie Filmgeschäft war, mit dem größten Erfolg seiner Karriere. "'Nu jeans e 'na maglietta", eine Jeans und ein T-Shirt, hieß sein 1982 veröffentlichtes Album mit tief in der neapolitanischen Kultur verankerten Liedern im regionalen Dialekt, das ihn endgültig zum Superstar machte und ein Jahr später unter dem entregionalisierten Titel "Un jeans e una maglietta" auch als Kinofilm adaptiert wurde. Sein Leinwand-Alter-Ego Nino Esposito entwickelte er dann in einer Reihe von meist von d'Angelos Stammregisseur Mariano Laurenti inszenierten Musikkomödien weiter, die sich durch die gesamten 80er-Jahre zieht und von denen fünf jetzt auf Netflix erschienen sind - und somit zum ersten Mal überhaupt im deutschsprachigen Raum veröffentlicht wurden.

Der Film, mit dem diese Reihe ihren Auftakt nimmt, ist eine im schönsten Sinne klassische Sommerkomödie, der wie eigentlich allen Filmen des Teams d'Angelo/Laurenti gleichwohl ein rudimentäres Klassenbewusstsein eingeschrieben ist. Wie auch im noch im selben Jahr produzierten Folgefilm "La discoteca" geht es in "Un jeans e una maglietta" (1983) um Arbeitsmigration aus dem armen Süden in die wohlhabenden touristischen Gebiete Italiens, an den Strand (Capri und Positano) sowie in die Südtiroler Wintersportgebiete. Nino jobbt dort in der Feriensaison, als Eisverkäufer oder Hotelangestellter, lässt mal eine Geliebte in Neapel zurück und findet ein anderes Mal eine andere, Tochter aus gutem Hause, versteht sich, am Strand oder an der Loipe, muss wohlhabenden Eltern seinen Wert beweisen, sich gegen arrogante Nebenbuhler behaupten und es ab und an auch mal mit cholerischen Chefs mit Nazifetisch (Enzo Cannavale als "Ghitler" in "La discoteca") aufnehmen.

Sowohl der schöne "Un jeans e una maglietta" als auch der etwas zu spürbar auf die Schnelle nachgeschobene "La discoteca" bearbeiten als luftig-leichte Disco-Sommerferienkomödien ein ähnliches Terrain wie im deutschsprachigen Raum die Früh-80er-Produktionen der österreichischen Lisa Film - und verströmen ähnlich viel Lebensfreude, was eher noch dadurch gestärkt wird, dass d'Angelo eine so ungewöhnliche Besetzung als romantischer Held ist. Seine strohblonde, jürgendrewshafte Bobfrisur mag ihn noch glaubhaft im Schlagersängermilieu verorten, sein sonstiges Erscheinungsbild widersetzt sich allerdings den meisten Klischees. Drahtig fast bis zur Magerkeit, mit etwas eingefallenen Gesichtszügen und meist kleiner als seine Leinwandpartnerinnen, punkten seine Protagonisten mit Witz und Charme, und durchaus auch mit ein wenig eher pfiffiger als krimineller Verschlagenheit, gegen eine ökonomisch wie körperlich überlegen scheinende Gesellschaft.

Szene aus "Uno scugnizzo a New York"


Der Konflikt zwischen einander fremden Schichten desselben Landes, der "Un jeans e una maglietta" und "La discoteca" eingeschrieben ist, spitzen Laurenti und d'Angelo in "Uno scugnizzo a New York" noch einmal zu - und schwächen ihn, etwas paradox, gerade dadurch auch etwas ab, indem sie ihn in die etablierte Form der Culture-Clash-Komödie überführen. In dem 1984 inszenierten Film verschlägt es Nino als Immigranten nach New York, wo er sich gemeinsam mit seinem besten Freund, dem afroamerikanischen Boxer Matumba, durchschlägt - und sich in die Tochter einer erneut gutbetuchten, überassimilierten neapolitanischen Familie verliebt. Ziel der folgenden Plotkapriolen ist es, genug Geld für eine Rückkehr nach Neapel nebst dortiger Eheschließung zu verdienen - und auch Matumba, trotz fehlender ethnischer Verwurzelung, ins gelobte Land Süditalien mitzunehmen.

Nachdem der Wechsel des Schauplatzes in "Uno scugnizzo a New York" den bereits vorher in "La discoteca" etwas redundant erscheinenden gesellschaftlichen Grundkonflikt entschärft, aber filmisch durchaus erfrischend wirkt, kehren Laurenti und d'Angelo zwei Jahre später für "Fotoromanzo" auf scheinbar vertrautes Terrain zurück. Um seine geliebte Anna nicht zu verlieren, die mit ihrer Familie Neapel in Richtung Mailand verlässt, reist Nino ihr gen Norden nach, wo er sich erneut als armer Junge aus dem Süden durchzuschlagen gezwungen sieht. Die Verachtung ihrer Familie einer- sowie ein Missverständnis andererseits treiben die Liebenden auseinander, und nur eine große (und durch und durch klassische) melodramatische Plotvolte zum Ende hin vermag sie wieder zusammenzubringen. Die Gefühle sind spürbar größer in "Fotoromanzo", und der jungenhafte Hedonismus der früheren Filme wird jedenfalls zum Teil durch ein Pathos verdrängt, das auch die melodramatischeren Aspekte von d'Angelos Songs gut ins Licht setzt.

Szene aus "Quel ragazzo della Curva B"


Am durchsichtigsten in seinen emotionalen Strategien, aber in gewisser Hinsicht auch am interessantesten im bisher fünf Filme umfassenden d'Angelo-Netflix-Corpus kommt der nicht mehr von Laurenti, sondern von Romano Scandariato inszenierte "Quel ragazzo della Curva B" (1986) daher, der ein Thema aufgreift, das wohl 1986 in Neapel überall in der Luft liegt: Calcio. Fußball. Diego Armando Maradona. Die italienischen Fußballstadien der 80er sind, dies wohl nicht ganz unrealistisch, von gewalttätigen, drogendealenden Ultra- und Hooligangruppen kontrolliert, denen Nino als Vorsitzender des SSC-Neapel-Fanclubs und mithilfe der katholischen Kirche eine "saubere Fankurve" entgegensetzen möchte.

Narrativ ist das etwas arg aufdringliches Botschaftskino, aber was "Quel ragazzo della Curva B" einzigartig und faszinierend macht, ist, wie schwärmerisch und ungebrochen er sich auf die Liebesaffäre einlässt, die Neapel und Maradona in den 80er-Jahren miteinander erlebten, wie er die Magie und das Glück erfahrbar macht, die Maradona für diese stolze und, auch davon vermitteln die Kinofilme von Nino d'Angelo bei aller Leichtigkeit einen Eindruck, durchaus gedemütigte Stadt für einige Jahre in ihrer Geschichte bedeutet hat. Entstanden ist er noch vor dem Höhepunkt der Maradonamania, deren ungeheure Wucht Asif Kapadia 2019 in seinem Dokumentarfilm "Diego Maradona" aufs eindrucksvollste nachgezeichnet hat - den ersten italienischen Meistertitel der Vereinsgeschichte, von dem im Film oft die Rede ist, gewann der SSC Neapel erst ein Jahr später, am Ende der Saison 1986/87. Zum Zeitpunkt der Produktion und des Kinostarts von "Quel ragazzo della Curva B" erträumt der Film sich diesen nur, verkörpert Maradona noch das große Versprechen, dessen Einlösung unmittelbar bevorstand.

Für Nino Esposito hingegen, diesen ewigen Migranten im eigenen Land, dem Glück nach Capri, Meran, Positano, Mailand oder einmal sogar über den großen Ozean nach New York nachjagend, und an all diesen Orten doch nur ewig das heimische Neapel vermissend, bedeutet dieses Versprechen, dass er für einmal, einen Film lang, zuhause bleiben darf. So wie die Neapolitaner das Geschenk, das Diego Armando Maradona ihnen machte, als eine Wiederkehr von Stolz, Würde und Selbstbewusstsein in ihre arme Stadt verstanden, so muss der kleine, erratische Argentinier auch erst in die Kinowelt von Nino d'Angelo Einzug halten, damit Nino Esposito einmal, von ein paar Auswärtsspielen abgesehen, einen Film lang nicht in die Fremde ziehen muss. So gesehen hat Maradona nicht nur der Stadt Neapel einen Fußballtraum geschenkt, sondern sie auch wieder zum Schauplatz ihrer eigenen Geschichten gemacht.

Jochen Werner

Die besprochenen Filme mit Nino d'Angelo sind verfügbar auf netflix.de.