Vom Nachttisch geräumt

Schönheit ist Empathie

27.04.2016. Schönheit ist Empathie - das behauptet jedenfalls Charlie Chaplin, dessen Archiv Paul Duncan aufbereitet hat.
Das Buch habe ein einfaches Ziel, heißt es in der Einleitung: zu zeigen, wie Charlie Chaplin (1889-1977) seine Filme machte. Das sei so leicht nicht, denn Chaplin tat alles, um den Entstehungsprozess seiner Filme zu verbergen. Man kann darin allerhand Tiefenpsychologisches sehen, aber sicher spielt auch eine Rolle, dass Chaplin noch vom Variété herkam. Die Künstler dort verstanden sich als Handwerker, die ihre Kniffe und Tricks nicht nur vor den Zuschauern verbergen mussten, sondern nach Möglichkeit auch vor den Kollegen. Als Methode der Arbeitsplatzwahrung. Wie man sich prügelte, so dass es echt aussah, war sorgsam einstudiert worden und nichts verheerender, ein Konkurrent hätte einem die Technik schnell mal abgeguckt. Für uns sichtbar hat sich diese Art von Geheimnistuerei nur noch bei den Zauberern erhalten.

Der Band hat keine schnell zitierbare Antwort. Er breitet viel mehr jede Menge Material aus: Drehbücher, Einstellungslisten, Set-Fotografien, Interviews, Berichte usw. aus den frühen Tagen in den englischen Music Halls über die Erfolge und Kontroversen in Hollywood bis zu den letzten Tagen in der Schweiz. Chaplin war ein Arbeiter, ein Perfektionist. Er wusste, dass davon nichts auf die Bühne oder die Leinwand durfte. Alles musste aussehen, als passiere es ihm. Dabei war jede Bewegung, jedes Hochziehen der Augenbraue wie jeder Sturz nicht nur geplant, sondern tausendfach trainiert. Er war, lange bevor er Schauspieler wurde, Akrobat gewesen und das blieb er bis zum Ende. Dass man sich auf einander verlassen musste, das hatte er von Kind auf gelernt, auch, dass man gerade darum sich seine Mitarbeiter sehr genau aussuchen musste.


Charlie Chaplin in "City Lights", 1931

"Schönheit" habe er vor allem angestrebt, schreibt der Herausgeber dieses größten Chaplin-Buchs aller Zeiten, Paul Duncan. Er hat bei Taschen mehr als 50 Filmbücher herausgegeben. Während ich sein Buch über Chaplin lese, hat er wahrscheinlich schon wieder zwei neue abgeschlossen. Da hat er natürlich keine Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, was Chaplin mit Schönheit meint, wie sich seine von anderen Schönheiten unterscheidet. Er zitiert Chaplin mit einer Bemerkung aus dem Jahre 1955. "Schönheit ist der Geist aller Dinge, eine Feier, ein Hymnus auf Leben und Tod, auf Gut und Böse… Schönheit ist Empathie…" Die Schönheit eines Filmes besteht also nicht darin, dass er schöne Menschen mit schönen Gedanken in schönen Landschaften zeigt. Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Nicht, weil er sich schön schaut, was es nicht ist, sondern weil er schön, also mitleidsvoll schaut. Es ist der Blick von Indras Tochter, die durch Strindbergs Traumspiel geht und sagt: "Es ist schade um die Menschen". Aber so schade es ist, so lustig ist es auch. Die zwei, die da so unerbittlich auf einander einschlagen, sehen nicht, dass sie nicht voneinander lassen können, dass sie sich anfassen müssen, dass sie für einen fernen Betrachter mit einander zu tanzen scheinen. Auch wenn beide am Ende tot auf der Erde liegen, tun sie es wieder zusammen. Wie sie als Schauspieler auch wieder aufspringen, das Ganze noch einmal machen, bis es gut, bis es schön geworden ist.

Zur gerne verschwiegenen Wahrheit dieser Betrachtungsweise gehört freilich, dass den meisten von uns, so sehr wir es wieder und wieder probieren - mit der Arbeit, mit dem Abnehmen, mit dem Muskelaufbau, mit dem Verstehen, mit dem Lernen, mit dem Zuhören, mit dem Sprechen, mit dem Schreiben, mit der Liebe - es doch niemals gut wird oder gar schön. Schon darum, weil zu der von Chaplin erstrebten Schönheit das Gefühl dazugehört. Bei jedem Schritt, bei jedem Handgriff, bei jedem Wort, bei jeder Bewegung auch nur eines Gesichtsmuskels droht Sentimentalität die Wahrheit des Gefühls und damit die Schönheit zu zerstören.


Paulette Godard und Charlie Chaplin in "Moderne Zeiten", 1936

Meine Lieblingsszene aus allen Chaplinfilmen, ja vielleicht meine Lieblingsszene aus irgendeinem Film oder Theaterstück ist die Rede, die der jüdische Friseur, der mit Hitler verwechselt wird, hält, als er vor Tausenden von Nazis, vor Hunderttausenden Zuhörern an den Radiogeräten steht und die Gelegenheit nutzt, erst den Hörern zu sagen, dass sie Menschen sind, also einander in Wahrheit nicht gerne die Köpfe einschlagen, sondern lieber einander helfen, dann aber erklärt er der Frau, die er liebt, gewissermaßen über all die Köpfe der anderen hinweg - aber eben auch in sie hinein -, dass er sie liebt.

Alle, mit denen ich über diese Szene gesprochen habe, erklärten mir, sie sei unerträglich sentimental. Der ganze Film werde dadurch ruiniert. Ich habe kein Argument dagegen. Ich weiß seitdem nur, dass in diesem Fall für mich die Schönheit exakt in dem Moment noch einmal schöner wird, wenn sie für andere in den Sirup des Sentimentalen fällt. Witz und Ironie machen den Reiz von Chaplins Film "Der große Diktator" aus. Aber ergreifend, umwerfend ist er für mich erst in dem Augenblick, da Witz und Ironie - so schön es ist, dass sie da sind - abfallen und der junge Mann es schafft, zu sagen, was er fühlt. In vielleicht abgenutzten, verbrauchten Worten. Vielleicht strengt er sich gar zu sehr an, poetisch zu sein. Vielleicht scheitert er. Aber gerade das gehört zur Schönheit dieses Augenblicks. Zu der natürlich auch die Tausenden Nazis gehören, die ihn aber nicht interessieren, die er aber gerade darum als Menschen, nicht als Nazimeute anspricht. Er will über das Radio die von ihm geliebte Frau erreichen. Er will ihr jetzt sagen, wozu wir so selten in der Lage sind: Ich liebe Dich.

Das sagt der jüdische Friseur. Das sagt aber auch Charlie Chaplin zu Paulette Goddard (1910-1990). Sie hatten seit 1932 eine Affäre. Von 1936 bis 1940 waren sie verheiratet. 1958 heiratete Paulette Goddard Erich Maria Remarque. Ich kann Chaplins Schlussrede im Großen Diktatur nicht sehen, ohne daran zu denken, dass er das seiner Frau sagte. Ich habe keine Ahnung, wie es um ihre Beziehung stand. Ob es also reine Begeisterung war oder einer - jetzt freilich gigantisch vergrößert - jener Blumensträuße, die Ehemänner - so geht die Sage - mit schlechtem Gewissen ihren Gattinnen aus dem Büro nach Hause mitbringen.

Seine Mitarbeiter rieten ihm übrigens - das lerne ich aus Duncans Buch - diese Schlußrede flacher zu halten. "Terribly pompous" fanden sie sie. Man schrieb das Jahr 1940. Die USA hatten dem Dritten Reich noch nicht den Krieg erklärt. Chaplin aber wollte beides. Die Komödie und die Tragödie, die Ironie und das große Gefühl. Ich habe ihn dafür immer geliebt.

Paul Duncan: The Charlie Chaplin Archives, mit deutschem Beiheft, Taschen, Köln 2015, 41 x 31 x 6 Zentimeter, 6 Kilogramm, 560 Seiten, 900 s/w und farbige Fotos, 150 Euro.