Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.01.2003. In der FAZ analysiert Thomas Hettche neueste Tendenzen des pornografischen Romans. Die SZ untersucht die offensichtlich wenig rühmliche Rolle, die die USA beim Holocaust in Ungarn spielten. Die FR porträtiert Tobias Hülswitt, Stadtschreiber von Kairo. Die NZZ berichtet über eine Rückbesinnung auf nationale Werte in Japan. Die tazlerinnen feiern das Binnen-I.

SZ, 21.01.2003

Christian Jostmann berichtet von einem "mehr als akademischen" Streit, der zwischen ungarischen und israelischen Historikern ausgebrochen ist. Es geht dabei um den sogenannten "ungarischen 'Goldzug', ein spektakuläres Kapitel in der Geschichte des Holocaust, und um einen Milliardenprozess, bei dem die USA auf der Anklagebank sitzen." Der Zug mit geraubten Wertgegenständen ungarischer Holocaust-Opfer war Ende des Krieges des Amerikanern in die Hände gefallen, die seinen Inhalt "verkauften und den Erlös jüdischen Flüchtlingsorganisationen zukommen ließen. Zur großen Enttäuschung der Empfänger wurden aber nur insgesamt 3,5 Millionen Dollar erzielt, ein Hundertstel der erwarteten Summe." Der Streit geht nun darum, dass der Zug angeblich "nur einen Bruchteil des Eigentums der ungarischen Juden enthielt, und nicht einmal den wertvollsten."

Weiteres: In zwei Texten wird die offenbar abgewendete Abwanderung der Frankfurter Buchmesse nach München kommentiert. Ijoma Mangold fasst die Frankfurter Verhandlungen zusammen ("Die Kuh ist noch nicht vom Eis, aber sie hat Schlittschuhe und ein warmes Mäntelchen bekommen"), und eine "Liste weiterer Antragssteller" dokumentiert, was womöglich stattdessen nun alles nach München komme: Sylt, zum Beispiel und die Tour de France. Tobias Timm berichtet von deiner Veranstaltung des Berliner Streitraum, auf der die Völkerrechtlerin Ruth Wedgewood und der Autor und Filmemacher Tariq Ali über den Krieg diskutierten. (In der Berliner Zeitung findet sich zu diesem Anlass heute ein Interview mit Ali.) Andrian Kreye analysiert am Beispiel Venezuela die Schwierigkeit von Reformen in Lateinamerika. Susan Vahabzadeh berichtet über die Verleihung der Golden Globes (hier alle Preisträger). Hans Leyendecker wundert sich über den Kunstsammler Friedrich Christian Flick, der sich hinter dem "Urteil der Geschichte" verbarrikadiere. Petra Steinberger stellt den berühmten "Daisy"-Spot vor, mit dem amerikanische Kriegsgegner derzeit vor dem Irak-Krieg warnen. Oliver Fuchs besuchte eine "sehr lebhafte und lustige Tagung" über "das Faszinosum" Michel Houllebecq in Tutzing, die zweilen " ein wenig aus den Fugen geriet".

Über die Midem 2003 (mehr hier) beziehungsweise den Musikmarkt und die Verluste der Branche informiert Ralf Dombrowski. "Jby" kündigt den ersten Ökumenischen Kirchentag "im heidnischen Herzen der Republik" (Berlin) an, und in der Kolumne Zwischenzeit räsoniert Joachim Kaiser über die "naturrhythmische Ordnung" und "Finesse" der archaischen Maya-Bauten Mexikos. Joachim Sartorius stellt Lyrik von Ulrike Draesner vor. Auf den Medienseiten schließlich schreibt Gerd Krönke einen Nachruf auf die französische Journalistin und Schriftstellerin Francoise Giroud (mehr hier und hier).

Besprochen werden ein Münchner Konzertabend mit Alfred Brendel, die Uraufführung von Robert Woelfls "Wahrheit" am Stuttgarter Staatsschauspiel und die kleine Auswahl Alter Meister aus dem Rijksmuseum, die künftig in dessen "Filiale" im Amsterdamer Flughafen Schiphol zu sehen ist, und Bücher, darunter eine neue "Geschichte der Familie" und ein Gedichtband von Frieda Hughes (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 21.01.2003

In einem Essay beschreibt Manfred Schneider das derzeitige "Rasen der Vernunft", in dem erstmals ein Krieg wie ein "Indizienprozess" vorbereitet werde. Er beschreibt, wie sich die amerikanische "Paranoia" allmählich zur "Hysterie" entwickelt habe. Das könne man "psychologisch gesprochen" als einen "Fortschritt bezeichnen", denn "Die Paranoia hat es mit völlig unsichtbaren Feinden zu tun; sie bekämpft diese Phantome mit dem äußersten Aufwand an rationalen Mitteln und effektiver Technik. (...) Diese hypervernünftige Raserei haben die Staaten heute den Aufklärern ihrer Geheimdienste und Armeen übertragen." Die Hysterie dagegen "bekämpft nicht unsichtbare, sondern schlecht sichtbare Feinde. Die Hysterie ist auf verschwommene Bilder und rauschende Nachrichten spezialisiert." Sie finde ihren Ausdruck in den Dossiers "mit Analysen und Satellitenfotos" der Geheimdienste. Auf den Medienseiten erfahren wir außerdem mehr über die Propagandaflugblätter, die die USA über dem Irak abwerfen.

Daniel Gräfe erzählt sehr unterhaltsam von einem neuartigen Experiment des Goethe-Instituts, das den "hochgehandelten Nachwuchsautor" Tobias Hülswitt ("Saga", mehr hier und hier) als Stadtschreiber nach Kairo schickte. Hülswitt notierte unter anderem: "bleiben ein taxi und ein bus nebeneinander stehn. beschimpft der taxifahrer den busfahrer. schimpft der busfahrer zurück. steigt der taxifahrer aus und holt einen stock aus dem kofferraum. geht er hin und schlägt dem bus den seitenspiegel kaputt. also wenn dich jemand fragt, wie's im ramadan auf den straßen kairos zugeht, sag ihm, wie am ersten mai in berlin. punk."

Weitere Artikel: Martina Meister informiert über eine reale Muster-Familie namens Pfeiffer, die das Berliner Springerblatt BZ in diesem Jahr bei ihren Sparbemühungen medial begleiten will. Reinhart Wulisch kritisiert die "Tendenz voraussetzungsloser Debatten" in der Architektur. ("Weder Postmoderne noch ihre Nachfolgebewegung, propagandistisch New Urbanism genannt, sind satisfaktionsfähig."). Adam Olschewski schwärmt von dem jungen Jazz-Pianisten Jason Moran (mehr hier). Michael Eggers berichtet über die Tagung "Future Theatre" am Karlsruher ZKM, und Eva Schweitzer kommentiert die Verleihung der Golden Globes in Los Angeles. In der Kolumne Times mager räsoniert "schl" über Krieg, "engelsgleiche Moral" und diesbezügliche Äußerungen von "Großschriftstellern".

Besprochen werden eine Inszenierung von Sophokles' "Antigone" am Oldenburgischen Staatstheater und zwei Opern in Berlin: Carl Zellers "Vogelhändler" in der Komischen Oper und Händels "Rinaldo" an der Staatsoper.

TAZ, 21.01.2003

Auf den Tagesthemenseiten wird das "taz-Binnen-I" gewürdigt, das aus der Zeitung selbst zwar fast verschwunden sei, aber ansonsten allerorten sein Wesen treibe. Ute Scheub wirft einen Blick auf seine Geschichte, und der Germanist Thomas Niehr konzediert zwar keine "Bewusstseinsänderung", aber doch seinen inzwischen "eingeschliffenen" und unschädlichen Gebrauch. Ulrike Winkelmann berichtet schließlich von einem Berliner Kongress, auf dem nach "20 Jahren Binnen-I" und "gendersensibler Sprache" Bilanz gezogen wurde. Dort lobte Marlis Hellinger, eine der führenden LinguistInnen Deutschlands, die 1980 die ersten "Richtlinien für nichtsexistischen Sprachgebrauch" mitverfasste, das -In als "hochproduktiv und konkurrenzlos". Konsens sei, dass es immerhin den "Sprachfrieden gestört" habe: Heute fühlten "sich viele Frauen nicht mehr mitgemeint, wenn von Autofahrern die Rede ist." Was die "realen Machtverhältnisse" angehe, gelte allerdings immer noch: "Warum von ProfessorInnen reden, wo nur Männer auf den wichtigen Stühlen sitzen?"

Auf der Politisches-Buch-Seite bespricht Robert Misik das bisher nur auf englisch erschienene Buch "Bush at War" des Watergate-Reporters Bob Woodward, eine Hagiografie, aber gut geschrieben und informativ, meint er: "Der Titel ist fast irreführend. Das Buch ist kein Großporträt, sondern schildert das Mikromanagement des innersten Machtzirkels um Bush. Detailversessen behandelt es die ersten hundert Tage nach den Anschlägen vom 11. September und während des Krieges in Afghanistan, in großen Linien die darauf folgenden neun Monate." Hier ein ausführlicher Auszug.

Im Kulturteil porträtiert Helmut Höge einen Berliner Swinger-Club als "sexualtherapeutische Anstalt" (Credo: "Wir haben Verständnis für Toleranz!"). Katrin Bettina Müller besuchte das dritte Festival Internationaler Neuer Dramatik in der Berliner Schaubühne, auf dem es um "Krieg, Sex und das Theater dazwischen" ging. Und Georg Patzer stellt die Ausstellung "(dis)simile" in der Kunsthalle Baden-Baden vor, in der sich Künstler am Thema Europa abarbeiten.

Außerdem viele Buchbesprechungen, darunter die gesammelten Interviews mit dem Schweizer Künstler Dieter Roth, der neue Roman des Mexikaners Jorge Volpis , eine Dokumentation des Srebrenica-Prozesses gegen General Krsti und ein Standardwerk über die Verfolgung der DDR-Oppositionellen (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier Tom.

FAZ, 21.01.2003

Thomas Hettche hat für die Bücher-und-Themen-Seite eine Reihe moderner pornografischer Romane gelesen - von Christine Angot, Nelly Arcan, Marie Darrieussecq, Virginie Despentes, Catherine Millet und Michel Houllebecq. Das Ergebnis ist freudlos: Die Literatur der sexuellen Erregung ist an ihr Ende gekommen, glaubt Hettche. Nicht Verführung, sondern Wahrheit sei das Ziel. "Christine Angot sieht ihr Buch als eine Beichte, in der sie sich selbst als ein 'riesiges Stück Scheiße' präsentiert. Und das ehemalige Callgirl Nelly Arcan, das mit dem Roman 'Hure' zur Bestsellerautorin wurde, gesteht, sie könne es 'kaum ertragen, aus ihrem Buch öffentlich vorzulesen, weil der Text so abstoßend' sei ... Und weil diese Abwendung eine von der Verführungskraft des Textes selbst ist, hat sie - trotz der Skandalerfolge, die diese Bücher einreihen in die Geschichte der Pornografie - etwas Endgültiges, denn sie markiert einen Bruch mit der Form des Romans selbst."

Weitere Artikel: Gina Thomas berichtet, dass die London Book Fair sich inzwischen als Lizenzmesse etabliert habe. Andreas Platthaus hat bei der Hotline der englischen Mail on Sunday angerufen, um die Information loszuwerden, dass Bundeskanzler Schröder am vorletzten Wochenende nicht bei Sabine Christiansen aufgetreten ist. Mark Siemons stört sich am pazifistischen Kitsch der deutschen Antikriegsbewegung, verlangt aber auch nach Beweisen für eine Bedrohung durch den Irak. Julia Spinola meldet eine "zarte Aufbruchsstimmung" bei den Münchner Philharmonikern, die gerade begonnen haben, mehr zeitgenössische Stücke zu spielen - zuletzt Karol Szymanowskis dritte Symphonie.

In einem kurzen Interview erklärt Dieter Schormann, Vorsteher des Börsenvereins, warum die Frankfurter Buchmesse durch die "turbulente Diskussion" über einen möglichen Umzug nach München nicht beschädigt worden ist. Siegfried Stadler meldet die Entdeckung eines Wandbilds von Hermann Kirchberger in Erfurt. Und Jürg Altwegg berichtet von einer Petition, mit der französische Schriftstellerinnen für die Freiheit der Prostitution streiten - Innenminister Nicolas Sarkozy will das Anschaffen auf der Straße eindämmen.

Auf der Medienseite schreibt Joseph Hanimann den Nachruf auf die französische Journalistin und Mitbegründerin des "Express" Francoise Giroud. Zhou Derong berichtet, dass Rupert Murdochs Star TV als erster ausländischer Fernsehkanal in China senden darf. Auf der letzten Seite beschreibt Dieter Bartetzko den Streit in Leipzig, ob die 1968 gesprengte Paulskirche, auf deren Platz heute die Leipziger Universität steht, wiederaufgebaut werden soll, Christian Schwägerl hat im "Ausland", einem Club in Prenzlauer Berg, einer Diskussion über Biopolitik zugehört, und Verena Lueken porträtiert Golden Globe Gewinnerin Nicole Kidman.

Besprochen werden Graciane Finzis Oper "La-bas peut-etre" in Lille, die Uraufführung von Roebert Woelfls Theaterstück "Wahrheit" in Stuttgart und die Aufführung von Hofmannsthals "Elektra" im Wiener Kasino.

NZZ, 21.01.2003

In Japan gibt es eine "Rückbesinnung auf nationale Werte und die japanische Identität", schreibt Florian Coulmas. "So konnte Shintaro Ishihara, Rechtsaußen der konservativen LDP, der sich seit langem beredt und lauthals am japanischen Selbstbehauptungsdiskurs beteiligt, 1999 Gouverneur von Tokio werden, obwohl in der Metropole junge, modern denkende Wähler das Sagen haben ... Unübersehbar etwa ist der Prestigegewinn der Selbstverteidigungsstreitkräfte, wie das Militär in Japan heißt. Noch bis vor kurzem stand alles Militärische in schlechtem Ansehen. Heute gibt es keinen Mangel an Rekruten, und militärische Themen sind nicht mehr tabu. Soldatenlieder aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05 erfreuen sich plötzlich großer Popularität, werden auf zahlreichen CDs neu herausgebracht und massenhaft verkauft. Das sind in der Tat neue Töne ..."

In Wien macht man sich Gedanken darüber, was mit den bis zu 50 Meter in den Himmel ragenden Flaktürmen (mehr hier) geschehen soll, die Hitler 1940 bei dem Schweriner Architekt Friedrich Tamms in Auftrag gegeben hatte, berichtet Paul Jandl. "Im Sommer letzten Jahres hat die Wiener Stadtplanung eine Studie erstellen lassen, mit der man neue Möglichkeiten der Nutzung ausloten wollte. Jetzt sind die Ergebnisse der höchst detailreichen Untersuchung des Architektenbüros Bernstein und Pieler da, doch Wien wird der Unverwüstlichkeit der Zweckbauten weiterhin mit synchroner Haltung begegnen: Man wartet ab."

Besprochen werden Rossinis Oper "Il viaggio a Reims" in der Inszenierung von Dario Fo in Helsinki, Hofmannsthals "Elektra" in Wien, ein Liederabend mit Anne Sofie von Otter in Zürich, eine Ausstellung, die an die deutschsprachigen Baukünstler Tschechiens erinnert, in der Prager Galerie Jaroslav Fragner und Bücher, darunter Jedediah Purdys "Das Ende der Ironie" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).