Heute in den Feuilletons

Und die Emotionen suchen blind

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.01.2012. "Wir schaffen es nicht, uns von uns selbst zu befreien", seufzt Michail Schischkin in der NZZ. Die FR hat herausgefunden: Man kann noch billiger produzieren, als wo Apple produziert. Die taz hat herausgefunden: Julian Assange arbeitet in Moskau mit einem Kreml-treuen Sender zusammen.  Die SZ sieht Lana del Rey als "erzkonservative Männerfantasie". Ach was, sie inszeniert sich selbst, widerspricht die Welt. Und: Carta ist wieder da!

NZZ, 27.01.2012

"1991 haben wir uns vom Kommunismus befreit, doch wir schafften es nicht, uns von uns selbst zu befreien", seufzt der russische Schriftsteller Michail Schischkin in einem schweren Anflug von Resignation: "Das Problem Russlands liegt nicht darin, dass es bei den letzten Wahlen Unregelmäßigkeiten gab, sondern darin, dass, auch wenn die Wahlen ohne Unregelmäßigkeiten durchgeführt worden wären, trotzdem die Partei Putins gesiegt hätte. Das bestreitet nicht einmal die Opposition. Der wichtigste Wert in Russland ist noch immer Stabilität."

Ueli Bernays kann nicht anders, als vor Lana del Rey auf die Knie zu gehen: "Wenn die Sirene Lana Del Rey, dieses schlanke, feingliedrige Geschöpf mit hübschem Gesicht, mit spitzer Nase, grotesk großen Lippen und einem lasziven Kiffer-Blick, singend durch solche Klangsphären schweift, fühlt man sich wie angefixt, verführt und verloren in Nostalgie."

Weiteres: Andreas Ernst empört sich über die Entlassung des serbischen Nationalbibliothekars und Schriftsteller Sreten Ugricic. Susanne Bickel berichtet von der Entdeckung eines unversehrten Grabes im Tal der Könige. Bettina Spoerri liefert ein Stimmungsbild von den Solothurner Filmtagen. Martin Schäfer hört die neue CD "Old Ideas" von Leonard Cohen.

Aus den Blogs, 27.01.2012

Carta ist wieder da! Das Blog war seit dem Tod Robin Meyer-Luchts nicht mehr aktiv. Aber es war immer als Autorenblog geplant, und nun haben Autoren es reorganisiert (mehr hier von Tatjana Brode). Wolfgang Michael stellt ein Flatrate-Modell aus der Slowakei vor: "Knapp drei Euro kostet es in der Slowakei, rund ein Dutzend Medien 'exklusiv' einen Monat lang zu lesen. Erfunden hat das Flatrate-System - eine gelungene Mischung aus App, Abo und Pay Wall - Thomas Bella. Seine Firma Piano Media organisiert die Flatrate so ähnlich wie Apple iTunes oder iBooks. 30 Prozent der Einnahmen verbleiben als Provision bei Piano Media, die restlichen 70 Prozent werden gemäß der Zeit, welche die Nutzer auf den Webseiten verbringen, an die angeschlossenen Medien ausgeschüttet."
Stichwörter: Piano, Slowakei, Itunes

Welt, 27.01.2012

Gutes Album, meint Christina Hoffmann über Lana del Reys Debütalbum "Born to die". Die Kritik an der Musikerin findet sie dagegen so vorhersehbar wie heuchlerisch: "Nach dem Hype folgen nun Hysteriekaskaden. Man versucht möglichst viel Lautstärke zu produzieren um ein paar Skandale: Sie war zuvor als Musikerin nicht erfolgreich! Hat sie etwa aufgespritzte Lippen? Damit wollen wir nichts zu tun haben! Unglaublich, sie kommt aus reicher Familie! Sie ist gar nicht wie J. Lo 'from the block'! Der immer gleiche Vorwurf an Lana del Rey in unterschiedlicher Ausformung: fehlende Authentizität. Dabei ist sie ein Popstar - ihre Aufgabe ist Inszenierung, und die beherrscht sie".

Die polnische Biologin und Schriftstellerin Magdalena Tulli spricht im Interview über ihren neuen Roman "Wloskie szpilki" (Italienische Stöckelschuhe), über ihre Mutter, die im KZ saß, und warum es leichter ist, Schuld zu tragen als Leid: "Wer Leid trägt, will nicht Opfer sein; so entstand die Institution der Rache. Aber manchmal ist Rache nicht möglich, wenn Sie zu schwach sind oder verstehen, dass Rache keine Lösung ist. Dann haben Sie eine lebenslange Aufgabe. Sie könnten mit Ihrem Leben etwas anderes, Attraktiveres anfangen, aber nein, die Vergangenheit hält Sie fest, zieht Sie zurück. Und die Emotionen suchen blind nach einer Lösung."

Weitere Artikel: Lucas Wiegelmann amüsiert sich über die Deutsche Oper Berlin, die ausgerechnet an Führers Geburtstag dessen Lieblingsoper "Rienzi" angesetzt hatte. Anne Waak stellt die erste deutsche Ausgabe von Andy Warhols Zeitschrift Interview vor. Eine sehr wütende Julia Varadi, Kulturredakteurin beim ungarischen Klubradio, erklärt im Interview, warum der orbankritische Sender seine Lizenz zu verlieren droht. Marc Reichwein denkt über "H wie Hauptstadt" nach. Hanns-Georg Rodek schreibt einen sehr schönen Nachruf auf den Schauspieler Vadim Glowna. Im Forum macht sich die Autorin Cora Stephan Gedanken über die Rolle der Bundeswehr in einer Gesellschaft, "die kein existenzielles Motiv hat, sich mit den Gründen auseinanderzusetzen, warum es sie gibt".

Besprochen werden Stefan Herheims Inszenierung der "Boheme" in Oslo und Daniel Millers ethnologische Studie über Facebook, "Das wilde Netzwerk".

FR/Berliner, 27.01.2012

Die Globalisierung zieht weiter: Chinas regionale Metropolen wie Chengdu oder Chongqing haben von der rabiaten Modernisierung bisher kaum profitiert. Jetzt schlägt ihre Stunde als Superbilligkonkurrenz, berichtet Werner Girgert: "Der Computerchip-Hersteller Intel hat sich 2003 für Chengdu entschieden und seither rund 400 Millionen Euro in seinen neuen Produktionsstandort investiert. Der Apple-Zulieferer Foxconn, der immer wieder wegen miserabler Arbeitsbedingungen in die Schlagzeilen gerät, verzichtete auf eine Erweiterung seines Standorts in Shenzhen und lässt seine iPads seit Herbst 2010 in Chengdu zusammenbauen. Denn in der Hauptstadt der Provinz Sichuan liegen die Lohnkosten im Schnitt um rund ein Viertel niedriger als in Küstenstädten wie Shenzhen oder Shanghai, wie das McKinsey Global Institute ermittelt hat."

Weiteres: Ulrike Simon stellt das neue Hochglanzmagazin Interview vor, das sich - vor allem anzeigentechnisch - zwischen Vogue und Monopol platzieren möchte. Daniel Kothenschulte schreibt zum Tod des Schauspielers Vadim Glowna. Besprochen werden die Ausstellung "Roads of Arabia" im Berliner Pergamonmuseum, ein Batman-Spektakel in der Frankfurter Festhalle, ein Liederabend mit Andreas Scholl und Ian Kershaws NS-Studie "Das Ende" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 27.01.2012

Klaus-Helge Donath klärt über den Kreml-treuen Satellitensender RT auf, bei dem Wikileaks-Gründer Julian Assange ab März zehn Interviews "mit politischen Schlüsselfiguren, Intellektuellen und Revolutionären aus aller Welt" führen will: "Die russischen Journalisten wurden von den Kremlpropagandisten handverlesen und auf unbedingte Loyalität geprüft. Die ausländischen Mitarbeiter stellen einen seltsamen Mix aus Abenteurern, unerfahrenen Berufsanfängern, Ahnungslosen, ausgemusterten Westjournalisten oder Geldkarrieristen dar."

Weiteres: Rudolf Walther resümiert eine Veranstaltung in Essen, bei der unter anderem Claus Leggewie, Wolfgang Kraushaar und Micha Brumlik darüber diskutierten, wer das "Wir" von Gemeinschaften von den WGs bis zu den Netz-Communitys bildet. Besprochen werden die laut Anke Leweke exzentrische, aber erkenntnisreiche Selbstbefragung des koreanischen Regisseurs Kim Ki-duk "Arirang", das Debütalbum "Fin" des spanischen Produzenten John Talabot und das Album "Racing With The Sun" des Trios Chinese Man aus Marseille.

Und Tom.

SZ, 27.01.2012

Jens-Christian Rabe hört sich rasch satt am Debütalbum des YouTube-Popstars Lana del Rey. Dafür stört ihn aber doch umso mehr die "erzkonservative Männerphantasie", die der ringsum sorglos bejubelten Veröffentlichung zugrunde liege: "Wir sehen: ein Exemplar aus dem Menschenzoo. Wir hören: eine starke Frau, die so weit sediert wurde, dass sie ihrem Mann nicht mehr gefährlich werden kann. Er kann sich furchtlos mit ihrer Aura schmücken."

Weitere Artikel: Niklas Hofmann berichtet von den unter-budgetierten Plänen zur Digitalisierung des deutschen Kulturerbes. Franziska Augstein besuchte eine Diskussion der beiden Historiker Norbert Frei und Ulrich Herbert über die Möglichkeit deutscher Geschichtsschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Ökonom und Marketingmensch Tim Leberecht schreibt über die wirtschaftliche Relevanz von Sinnstiftung für Marken. Christopher Keil schreibt den Nachruf auf Vadim Glowna.

Besprochen werden Christian Stückls Inszenierung von Rolf Hochhuths "Der Stellvertreter" am Münchner Volkstheater, Kim Ki-Duks Berghüttenfilm "Arirang", eine Ausstellung mit Objekten aus der Sammlung des Weltkulturenmuseums in Frankfurt und Bücher, darunter Orlando Figes historische Darstellung des Krimkrieges (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 27.01.2012

Eine allzu pauschale Kritik an der chinesischen Kulturoffensive in diesem Jahr, die Ende Januar mit einem großen Konzert in Berlin beginnt, findet Mark Siemons den einzelnen Künstlern gegenüber ungerecht: "Nicht jeder, der schweigt, ist ein Büttel des Systems." Frank Schirrmacher bereitet auf die heutige Rede von Marcel Reich-Ranicki im Bundestag vor. Peter Urban-Halle stellt den dänischen Autor Herman Bang vor. Cornelia Ganitta erhofft sich von einem neuen, niederländischen Film über Walter Süskind, dass dieser den Retter tausender Juden im "Dritten Reich" in Deutschland bekannter macht (hier dessen niederländischer Wikipedia-Eintrag, einen deutschen gibt es nicht). Hannes Hintermeier schwelgt in süßen Erinnerungen an Helmut Dietls Münchner TV-Klassiker "Kir Royal", dessen quasi Berliner Fortsetzung "Zettl" (von Andreas Platthaus auf derselben Seite enttäuscht beseufzt: "Hinter tausend Figuren keine Welt") jetzt anläuft. Hans Rudolf Vaget präsentiert einen bislang verschollen geglaubten Brief Thomas Manns an den Komponisten Roger Sessions über den "Faustus". Dieter Bartetzko schreibt den Nachruf auf den Schauspieler Vadim Glowna.

Besprochen werden eine Ausstellung über "Demonstrationen" im Frankfurter Kunstverein, Kim Ki-Duks Selbstporträt-Film "Arirang", Stefan Herheims "La Boheme" an der Nationaloper Oslo und Mansura Eseddins Roman "Hinter dem Paradies" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).