Efeu - Die Kulturrundschau

Nioi to Seki. Nuuska ja Yskä

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07.01.2020. Der Guardian erzählt, wie Hilke Wagner Nazis und Kunstfeinde in Dresden entwaffnet. Der Standard feiert die Rückkehr des Antwerpener Theaterkollektivs Tg Stan nach Wien. Dort entdeckt auch Tex Rubinowitz das geheime Band zwischen Finnland und Japan. SZ und Tagesspiegel resümieren die Golden-Globes-Verleihung, bei der Hollywood noch einmal Netflix auf den Rang verwies. Die Feuilletons trauern um den großen Nonkonformisten,  Lakoniker und Antiperfektionisten John Baldessari.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.01.2020 finden Sie hier

Kunst

John Baldessari, All Z's (Picabia/Mondrian): Zap, 2017. Bild: Marian Goodman Gallery

In seinem Nachruf auf John Baldessari würdigt Peter Richter in der SZ den mit 88 Jahren verstorbenen amerikanischen Kunsttitanen von der West Coast für seinen Bildreichtum, kunsthistorischen Referenzreichtum und seine Lakonie - als "Technik der Entwaffnung durch demoralisierende Knappheit bei der Beantwortung pathetischer Drohgebärden". In der FR weiß Ingeborg Ruthe, dass er mit dem allseits verehrten Abstrakten Expressionismus und dem automatisierten Action Painting nichts zu tun haben wollte. In der Welt betont Marcus Wollner: Baldessari war nicht so emotionskalt und spröde wie die New Yorker Kollegen. Er hatte Witz." In der NZZ weist Kerstin Stemmel auf Baldessaris Nonkonformismus hin: "Antiperfektionismus und Verzicht auf Konventionen gingen für Baldessari mit Skepsis gegenüber Autoritäten einher, auch im Hinblick darauf, wie Kunst gelehrt wird: 'Wenn ich Kunst mache, stelle ich infrage, wie man dies tut', schrieb Baldessari." Weitere Nachrufe in FAZ, Tagesspiegel und Standard.

Selbst im Guardian nötigt es Eliza Apperly Respekt ab, wie Hilke Wagner, Direktorin des Dresdner Albertinums, den Nazis und Kunstfeinden der Stadt Paroli bietet: "Am Anfang wollte Wagner nichts damit zu tun haben. 'Ich dachte, ich könne hier nicht bleiben', erinnert sie sich. Aber griff sie zum Telefon und rief einen der Pöbler an. 'Dieser erste Anruf entsprang ehrlich gesagt, dem reinen Ärger. Und es gab dieses egoistische Element, diesen Wunsch, Dinge zu klären. Aber dann wurde es eine wirklich positive Unterhaltung. Ich merkte, wie gut es tat - mir, aber auch der anderen Person. Gestärkt machte Wagner weiter und rief jeden einzelnen an, der sie mit Hass-Mails oder Anrufen ins Visier genommen hatte. Alle außer einer Person waren Männer. 'Es gab keinen expliziten Sexismus', fügt sie hinzu, 'aber es spielt sicherlich mit hinein'."

Weiteres: taz-Kritiker Ingo Arend blickt skeptisch auf Dauerausstellung "about:documenta", mit der die Kasseler Kunstschau in die Nachrkriegsmoderne eingeschrieben werden soll. Warum, fragt er, findet sich nichts über Julia Friedrichs Recherchen zur NS-Biografie einer der Leitungsfiguren?

Besprochen werden die Ausstellung "Kaiser und Sultan" über die Begegnung von osmanisch-islamischer und christlich-mitteleuropäischer Kultur im 17. Jahrhundert im Badischen Landesmuseum Karlsruhe (SZ) sowie die Schau über den Realisten Wilhelm Leibl noch im Kunsthaus Zürich, demnächst in der Wiener Albertina (Welt).
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Film

Sah nach den Golden Globes dann doch wieder ziemlich alt aus: "The Irishman" (Bild: Netflix)

Netflix ging als Favorit in die Golden-Globes-Verleihung und war am Ende des Abends nicht nur bei den Kinofilm-, sondern auch bei den Serien-Auszeichnungen der große Verlierer. Das alte Hollywood hat nochmal seine Muskeln gezeigt, so das Fazit der Kritiker (hier alle Auszeichnungen im Überblick). "Es wäre jedoch voreilig, jetzt schon durchzuatmen", kommentiert Andreas Busche im Tagesspiegel. "Auch wenn die alten Akteure Sony, Universal und HBO noch einmal die Gewinner des Abends waren, dürfte sich die Unterhaltungslandschaft in den kommenden Jahren drastisch verändern." Dass die beiden großen Netflix-Arthaus-Vehikel von sechs Nominierungen nur eine (Noah Baumbachs "Marriage Story"), beziehungsweise von fünfen gar keine (Martin Scorseses "The Irishman") in eine Auszeichnung verwandeln konnten, ist für SZ-Kritikerin Susan Vahabzadeh "insofern wichtig, als dass diese Filme bei Netflix die Kronjuwelen sind - bei den traditionellen Studios steht alles, was keinen Superhelden oder wenigstens ein Raumschiff zu bieten hat, ein wenig im Abseits." Im wesentlichen folgten die Preisvergaben "geschmacklich wieder dem Erwartbaren", schreibt Daniel Kothenschulte in der FR.

Besprochen werden Zhang Yimous "Shadow" (SZ) und das Judy-Garland-Biopic "Judy" mit Renée Zellweger in der Hauptrolle (Presse, mehr dazu bereits hier).
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Bühne

"Que sera sera / Hitchcock Truffaut Cavett Godard / Pour qui pour quoi" Foto: Tim Wouters / Tg Stan

Im Standard freut sich Margarete Appenzeller, dass nach siebzehn Jahren Absenz das Antwerpener Theaterkollektiv Tg Stan endlich wieder einmal nach Wien kommt, mit der Produktion "Que sera sera / Hitchcock Truffaut Cavett Godard / Pour qui pour quoi". Appenzeller stellt Tg Stan als belgisches Pendant zu Forced Entertainment vor: "Tatsächlich ging es den Gründungsmitgliedern Jolente De Keersmaeker, Damiaan De Schrijver, Waas Gramser und Frank Vercruyssen um Theater, das ohne Regisseur oder Regisseurin auskommt und das das Schauspiel in den Mittelpunkt rückt. Es geht dabei um die lustvolle Vergrößerung der Illusion, die Übertreibung im Spiel, die Suche nach dem exzessiven Punkt und die persönliche Auseinandersetzung jedes Einzelnen mit dem Stoff. Zur Eigenwilligkeit der Truppe gehört auch, sich Widersprüchen gezielt auszuliefern. Zum Beispiel innerhalb eines Dramentextes; da gibt es keinen Kompromiss zu 'runden Sachen'. Das Repertoire hat eine sozialkritische Stoßrichtung, vielleicht ist das aber schon zu viel gesagt."

Besprochen wird Milo Raus Inszenierung "Familie" am NT Gent (SZ).
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Literatur

Im Standard-Essay versucht der Schriftsteller Tex Rubinowitz seiner Faszination für Finnland und Japan, in denen er heimliche Geistesverwandte auszumachen glaubt, auf den Grund zu gehen. Als er nach einer feuchtfröhlichen Nacht im afrikanischen Asmara mit einem Schnupfen erwacht, fällt der Groschen: "Ich schaute nach, was Schnupfen und Husten eigentlich auf Japanisch und Finnisch heißt, und da war wieder alles vom vorigen Abend, klar und deutlich stand es vor mir, die zwei Worte (verbunden durch das 'und'), die so unähnlich und dann doch so ähnlich sind: Nioi to Seki. Nuuska ja Yskä. Und dieser Vergleich ist nicht unzuverlässig, er trifft onomatopoetisch genau das, was beide Worte in beiden Sprachen beschreiben, die verstopfte Nase (Nioi und Nuuska) und das ausgehustete Seki und Yskä. Japaner und Finnen denken einfach onomatopoetisch, das ist die Klammer und Schnittmenge, so einfach ist das."

Weiteres: Für die FAZ begibt sich die Schriftstellerin Olga Martynova auf Hölderlins Spuren nach Bordeaux, wo der Dichter 1802 vier einschneidende Monate verbrachte, nach denen er nach einem langen Fußmarsch in einem desolaten Zustand wieder in seiner Heimat aufschlug. Im Nachtstudio des BR fragt sich Thomas Palzer, warum es um den Schriftsteller Rainald Goetz zuletzt so still geworden ist.

Besprochen werden der Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Dolf Sternberger (taz), die in Nazi-Deutschland geschriebenen Tagebücher des Sowjet-Botschafters Iwan Maiski ("eine Sensation", meint Bernhard Schulz im Tagesspiegel), Ali Smiths "Herbst" (SZ), das Romandebüt "Upstate" des Literaturkritikers James Wood (NZZ), Hideo Yokoyamas Band "2" mit zwei Kriminalerzählungen (FR) und Véronique Olmis "Bakhita" (FAZ).

Mehr in unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau. Alle besprochenen Bücher und viele mehr finden Sie natürlich in unserem neuen Online-Buchladen Eichendorff21.
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Musik

Zum 150-jährigen Bestehen des Wiener Musikvereins spricht Standard-Musikkritiker Ljubiša Tošic mit dessen Leiter Thomas Angyan. Björn Springorum plaudert im Tagesspiegel mit der Popmusikerin Balbina.

Besprochen werden ein Konzert des Jazztrompeters Lorenz Raab mit dessen Septett (Presse) und zahlreiche Veröffentlichungen zum Beethoven-Jahr (SZ).
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Stichwörter: Musikkritik

Design

Erst nostalgische Instagram-Filter, dann für die Onlinekommunikation förderliche Stromlinienförmigkeit: Donna Schons resümiert in der taz das zurückliegende Designjahrzehnt. Insbesondere mit dem Siegeszug der Kardashian-Promis ging ein besonders wegweisender Trend einher, fällt ihr dabei auf: "Die Kardashians verheimlichen niemals die Anstrengungen und die Konstruiertheit, die ihrer Schönheit zugrunde liegt. ... 'Faking beauty meant keeping the falsification a secret', schreibt die Modekritikerin Natasha Stagg über die Prä-Kardashian-Ära. In den 2010ern, die von konstanter Transformation und Selbstoptimierung geprägt waren, wurde diese Regel hinfällig. Als besonders geeignet für die Zurschaustellung des sorgsam geformten Körpers und des ihm zugrundeliegenden Arbeitsethos erwies sich der Athleisure-Trend, der eng anliegende Sportbekleidung als Alltagsbekleidung zweckentfremdete und so eine ständige Bereitschaft zur körperlichen Betätigung suggerierte."

Außerdem bespricht Brigitte Werneburg einen Band mit Peter Lindberghs Fotografien französischer Mode im New Yorker Stadtbild.
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