Vorgeblättert

Leseprobe zu Joan Didion: Blaue Stunden. Teil 1

09.02.2012.
17.


Es gibt bestimmte Momente in diesen ersten Jahren mit ihr, an die ich mich sehr deutlich erinnere.
     Diese Momente ragen heraus, sie kehren wieder, sprechen unmittelbar zu mir, auf einer bestimmten Ebene überfluten sie mich mit Freude, und auf einer anderen brechen sie mir immer noch das Herz.
     Ich erinnere mich beispielsweise sehr deutlich, dass ihre frühesten Unternehmungen etwas betrafen, das sie "Krimskrams" nannte. Sie stattete das Wort, das sie als Synonym für "Besitz" verwendete, aber von den "Krimskramsläden" in all den Hotels herzurühren schien, in die sie bereits mitgenommen worden war, mit beachtlicher Bedeutung aus; ein schwindelerregendes Hin-und Herwechseln zwischen Kindlichkeit und Reife. Nachdem sie mich eines Tages um einen Filzstift gebeten hatte, sah ich, wie sie eine leere Schachtel in "Fächer" einteilte, Bereiche, die für bestimmte Arten von "Krimskrams" gedacht waren, und sie beschriftete. Die Fächer waren folgendermaßen benannt: "Bargeld", "Reisepass", "Meine Rentenversicherung", "Juwelen" und schließlich - ich kann es kaum über mich bringen, Ihnen das zu sagen - "Kleines Spielzeug".
     Und wieder die sorgfältige Druckschrift.
     Allein die Druckschrift kann ich nicht vergessen.
     Allein die Druckschrift bricht mir das Herz.
     Ein anderer Moment, nach genauer Prüfung dem ersten nicht unähnlich: Ich erinnere mich sehr deutlich an den Weihnachtsabend im Haus ihrer Großmutter in West Hartford, als John und ich aus dem Kino kamen und sie allein und zusammengekauert auf der Treppe zum zweiten Stock vorfanden. Die Weihnachtsbeleuchtung war ausgeschaltet, ihre Großmutter schlief, alle im Haus schliefen, und sie wartete geduldig darauf, dass wir nach Hause kamen, um uns mit dem zu konfrontieren, was sie "das neue Problem" nannte. Wir fragten sie, was das neue Problem sei. "Ich habe gerade entdeckt, dass ich Krebs habe", sagte sie und schob ihr Haar zurück, um uns etwas zu zeigen, was sie als Wucherung auf ihrer Kopfhaut auslegte. In Wirklichkeit waren es Windpocken, die sie sich offensichtlich eingefangen hatte, bevor sie den Kindergarten in Malibu verließ, und die erst jetzt ausgebrochen waren, aber es war Krebs gewesen, sie hatte sich gedanklich darauf gefasst gemacht, dass es Krebs war.
     Eine Frage kommt mir in den Sinn:
     Betonte sie "neu", als sie "das neue Problem" erwähnte?
     Wollte sie andeuten, dass es auch "alte" Probleme gab, unspezifischere, Probleme, mit denen sie uns im Moment nicht belasten wollte?
     Ein drittes Beispiel: Ich erinnere mich sehr deutlich an das Puppenhaus, das sie in den Fächern ihres Bücherregals in ihrem Schlafzimmer in Malibu baute. Sie hatte mehrere Tage daran gearbeitet, nachdem sie eine ähnliche Improvisation in einer alten Ausgabe von House & Garden studiert hatte (den Prototypen nannte sie "Muffet Hemingways Puppenhaus", inspiriert vom Titel in House & Garden), aber dieser Moment war die erste Enthüllung. Hier wäre das Wohnzimmer, erklärte sie, und hier wäre das Esszimmer, hier wäre die Küche, und hier wäre das Schlafzimmer.
     Ich fragte nach einem nicht dekorierten und scheinbar noch freien Fach.
     Das, sagte sie, wäre der Vorführraum.
     Der Vorführraum.
     Ich versuchte, das zu verdauen.
     Einige unserer Bekannten in Los Angeles lebten tatsächlich in Häusern mit Vorführräumen, aber soweit ich wusste, hatte sie nie einen gesehen. Die Leute, die in Häusern mit Vorführräumen lebten, gehörten zu unserem "Arbeitsleben". Sie, so hatte ich mir vorgestellt, gehörte zu unserem "Privatleben". Unser "Privatleben", hatte ich mir weiter vorgestellt, war getrennt davon, süß, unberührt.
     Ich ging über diese Unterscheidung hinweg und fragte sie, wie sie den Vorführraum einzurichten plane.
     Es müsste einen Tisch für das Telefon zum Filmvorführer geben, sagte sie, dann hielt sie inne, um über das leere Fach nachzudenken.
     "Und was ich sonst noch so für Dolby Sound brauche", ergänzte sie.
     Während ich diese sehr deutlichen Erinnerungen beschreibe, bin ich erstaunt über das, was ihnen gemeinsam ist: Jede handelt davon, wie sie versuchte, das Erwachsenenleben zu meistern, wie sie versuchte, eine überzeugende Erwachsene zu sein in einem Alter, in dem sie noch das Recht hatte, ein kleines Kind zu sein. Sie konnte über "Meine Rentenversicherung" reden, und sie konnte über "Dolby Sound" reden, und sie konnte darüber reden, dass sie "gerade entdeckt" hatte, Krebs zu haben, sie konnte Camarillo anrufen, um herauszufinden, was sie tun musste, falls sie verrückt würde, und sie konnte Twentieth Century Fox anrufen, um herauszufinden, was sie tun musste, um ein Star zu werden, aber sie war nicht wirklich darauf vorbereitet, den Antworten entsprechend zu handeln, die sie erhielt. "Kleines Spielzeug" konnte noch immer eine gleichwertige Bedeutung annehmen. Sie konnte noch immer ihren Kinderarzt konsultieren.
     War die Verwirrung darüber, wo sie sich innerhalb der Chronologie der Dinge verorten sollte, unser Werk?
     Verlangten wir von ihr, erwachsen zu sein?
     Forderten wir von ihr, Verantwortung zu übernehmen, bevor sie das überhaupt konnte?
     Hielten unsere Erwartungen sie davon ab, wie ein Kind zu reagieren?
     Ich erinnere mich, wie ich sie mit vier oder fünf Jahren die Küste hinauf nach Oxnard mitnahm, um den Film Nicholas und Alexandra anzuschauen. Auf der Rückfahrt von Oxnard bezeichnete sie den Zar und die Zarin als "Nicky und Sunny" und sagte, als sie gefragt wurde, wie ihr der Film gefallen habe: "Ich glaube, es wird ein großer Hit."
     Mit anderen Worten, obwohl ihr gerade eine wahrhaft erschütternde Geschichte erzählt worden war, wie mir schien, als ich den Film sah, eine Geschichte, die sowohl Eltern als auch Kinder in unvorstellbarer Gefahr zeigte - wobei die Gefahr für Kinder noch unvorstellbarer war, weil sie aus dem Unglück herrührte, gerade mit diesen Eltern geboren worden zu sein -, hatte sie ohne Zögern bei der hiesigen Standardantwort Zuflucht gesucht, die in einer sofortigen Einschätzung des Zuschauerpotentials bestand. Einige Jahre später, als ich sie nach Oxnard mitnahm, um Der weiße Hai zu sehen, hatte sie ähnlich entsetzt zugeschaut und war dann, noch während ich in Malibu das Auto auspackte, hinunter zum Strand gesprungen und in die Brandung getaucht. Bestimmten Bedrohungen gegenüber, die ich für real hielt, blieb sie furchtlos. Als sie acht oder neun war, hatte sie sich bei den Junioren-Rettungsschwimmern angemeldet, ein Kurs, der vom Seerettungsdienst des Los Angeles County angeboten wurde und darin bestand, dass sie wiederholt auf einem Rettungsboot über die Sturzwellen der Brandung von Zuma Beach hinaus ins Meer gefahren wurde und zurückschwimmen musste. Als John und ich eines Tages dort ankamen, um sie abzuholen, fanden wir den Strand leer. Endlich sahen wir sie, allein, in einem Handtuch zusammengekauert hinter einer Düne. Die Rettungsschwimmer hatten, wie es schien, "völlig grundlos", darauf bestanden, alle nach Hause zurückzuschicken. Ich sagte, es müsse einen Grund dafür geben. "Nur die Haie", sagte sie. Ich sah sie an. Sie war sichtbar enttäuscht, sogar ein bisschen angewidert, sie konnte die Wendung nicht leiden, die dieser Morgen genommen hatte. Sie zuckte mit den Schultern. "Es waren doch nur blaue", sagte sie dann.

Wenn ich mich an den "Krimskrams" erinnere, bin ich gezwungen, mich an die Hotels zu erinnern, in denen sie vor ihrem fünften oder sechsten Lebensjahr gewesen war. Ich sage, ich bin "gezwungen, mich zu erinnern", weil die Bilder, die ich von ihr in diesen Hotels habe, verfänglich sind. Einerseits überleben diese Bilder als meine wahrste Erinnerung an das Paradox, das sie war - das Kind, das nicht wirken wollte wie ein Kind, die Anstrengung, mit der sie versuchte, überzeugend einen Erwachsenen darzustellen. Andererseits sind es genau solche Bilder - dieselben Bilder -, die eine Sicht unterstützen, die sie als "privilegiert" zeigt, als irgendwie einer "gewöhnlichen" Kindheit beraubt.
     Oberflächlich betrachtet, hatte sie in diesen Hotels nichts zu suchen.
     Das Lancaster und das Ritz und das Plaza Athenee in Paris.
     Das Dorchester in London.
     Das St. Regis und das Regency in New York und ebenso das Chelsea. Das Chelsea war für jene Reisen nach New York gedacht, für die wir keine Spesen geltend machen konnten. Im Chelsea trieben sie im Keller ein Kinderbett für sie auf, und John holte ihr im White Tower auf der anderen Straßenseite Frühstück.
     Das Fairmont und das Mark Hopkins in San Francisco.
     Das Kahala und das Royal Hawaiian in Honolulu. "Wo ist der Morgen hin-", fragte sie im Royal Hawaiian, als sie noch der Zeit auf dem Kontinent entsprechend aufwachte und den dunklen Horizont sah. "Stellt euch vor; eine Fünfjährige, die zur Korallenbank läuft", sagte sie ekstatisch im Royal Hawaiian, als wir sie bei den Händen hielten und sie durch das flache Wasser schwenkten.
     Das Ambassador und das Drake in Chicago.
     Es war um Mitternacht in der Trinkhalle des Ambassadors, als sie zum ersten Mal Kaviar aß, ein zwiespältiger Erfolg, da sie ihn danach zu jeder Mahlzeit essen wollte und den Unterschied zwischen "auf Spesen" und "nicht auf Spesen" noch nicht ganz verstand. Sie war um Mitternacht in dieser Trinkhalle, weil wir sie am Abend ins Chicago Stadium mitgenommen hatten, um die Band zu hören, der wir folgten, Chicago, eine Recherche für den Film A Star is Born. Sie saß während des Konzerts auf der Bühne, auf einem der Verstärker. Die Band hatte "Does anybody really know what time it is" und "25 or 6 to 4" gespielt. Wenn sie von der Band redete, sagte sie "die Jungs".
     Als wir an jenem Abend mit den Jungs das Chicago Stadium verließen, brachte die Menschenmenge die Limousine zum Schaukeln, was sie entzückte.
     Sie wollte am nächsten Tag nicht zu ihrer Großmutter nach West Hartford, hatte sie mir erklärt, als wir ins Ambassador zurückkamen, sie wollte mit den Jungs nach Detroit gehen.
     So viel dazu, unser "Privatleben" von unserem "Arbeitsleben" zu trennen.
     In Wahrheit war sie untrennbar mit unserem "Arbeitsleben" verbunden. Unser "Arbeitsleben" war der einzige Grund dafür, dass sie in diesen Hotels war. Als sie fünf oder sechs war, nahmen wir sie beispielsweise nach Tucson mit, wo der Film Das war Roy Bean gedreht wurde. Das Hilton Inn, wo sich die Produktionsfirma für die Zeit der Dreharbeiten in Tucson eingemietet hatte, schickte einen Babysitter, der auf sie aufpasste, während wir die Aufnahmen vom Vortag anschauten. Der Babysitter bat sie darum, ihr ein Autogramm von Paul Newman zu besorgen. Von einem gelähmten Sohn war die Rede. Quintana bekam das Autogramm, überbrachte es dem Babysitter, brach dann in Tränen aus. Mir ist nie klargeworden, ob sie über den gelähmten Sohn weinte oder darüber, vom Babysitter ausgenutzt worden zu sein. Der Kameramann von Das war Roy Bean war Dick Moore, aber sie schien keine Verbindung herzustellen zwischen dem Dick Moore, dem sie im Hilton Inn von Tucson begegnete, und dem Dick Moore, dem sie an unserem Strand begegnete. An unserem Strand war jeder zu Hause, auch sie. Im Hilton Inn von Tucson war jeder bei der Arbeit, auch sie. "Arbeit" war eine Lebensweise, das hatte sie im Kern verstanden. Als sie neun war, nahm ich sie auf eine Lesereise durch acht Städte mit: New York, Boston, Washington, Dallas, Houston, Los Angeles, San Francisco, Chicago. "Wie gefallen dir unsere Denkmäler", hatte Katharine Graham sie in Washington gefragt. Sie schien verblüfft, aber neugierig. "Welche Denkmäler", hatte sie interessiert gefragt, in völliger Unkenntnis dessen, dass den meisten Kindern, die nach Washington kommen, das Lincoln Memorial gezeigt wird, statt National Public Radio und The Washington Post. Ihre Lieblingsstadt dieser Reise war Dallas gewesen. Die Stadt, die sie am wenigsten mochte, Boston. Boston, hatte sie sich beschwert, wäre "ganz weiß".
     "Du meinst, du hast in Boston nicht viele Schwarze gesehen", hatte Susan Traylors Mutter nachgehakt, als Quintana nach Malibu zurückkehrte und von ihrer Reise berichtete.
     "Nein", sagte Quintana, in diesem Punkt sehr bestimmt. "Ich meine, es ist nicht in Farbe."
     Sie hatte auf dieser Reise gelernt, eine dreifache Portion Lammkoteletts beim Zimmerservice zu bestellen.
Sie hatte auf dieser Reise gelernt, für den Kindercocktail Shirley Temple dem Zimmerservice ihre Zimmernummer aufzuschreiben.
     Wenn auf dieser Reise ein Wagen oder ein Interviewer nicht zum verabredeten Zeitpunkt auftauchten, wusste sie, was zu tun war: den Terminplan prüfen und "Wendy anrufen", Wendy war die Leiterin der Abteilung für Presse und Öffentlichkeitsarbeit bei Simon & Schuster. Sie wusste, welche Buchläden welchen Bestsellerlisten Meldung machten, und sie kannte die Namen ihrer wichtigsten Einkäufer, und sie wusste, was ein "Green Room" war, und sie wusste, was Agenten machten. Sie wusste, was Agenten machten, weil ich sie, als sie vier war, zu einer Besprechung im Büro von William Morris in Beverly Hills mitgenommen hatte, als mein Plan zur Organisation einer Haushaltshilfe eines Tages nicht aufging. Ich hatte sie darauf vorbereitet, hatte ihr erklärt, dass es bei der Besprechung darum ging, das Geld zu verdienen, mit dem die dreifache, beim Zimmerservice bestellte Portion Lammkoteletts bezahlt werden konnte, hatte ihr eingeschärft, wie wichtig es war, dass sie nicht dazwischenredete oder fragte, wann wir gehen könnten. Diese Vorbereitung war, wie sich herausstellte, vollkommen unnötig. Sie war viel zu interessiert, um dazwischenzureden. Sie nahm ein Glas Wasser, als ihr eines angeboten wurde, kam mit dem schweren Baccarat-Glas zurecht, ohne es herunterzuwerfen, hörte aufmerksam zu, sprach aber nicht. Erst als die Besprechung beendet war, stellte sie dem Agenten von William Morris die Frage, die sie offenbar ganz in Anspruch zu nehmen schien: "Aber wann geben Sie ihr das Geld?"
     Als wir ihre Verwirrung bemerkten, zogen wir da unsere eigene in Betracht?
     Die Schachtel mit "Krimskrams" habe ich immer noch in meinem Schrank, so beschriftet, wie sie sie beschriftet hatte.

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