Essay

Das Gegenteil des Bilderrauschs, Teil 2

13.11.2015.
4.


Markus Brunetti - Façades - Kathedralen, Kirchen, Klöster in Europa. 1. Auflage. Herausgegeben von Markus Hartmann. Ausstellungspublikation. MAKK, Köln 2014. Mit einer Einführung von Andreas Langen. 23 x 27,6 cm. 72 S. mit 29 Farbtafeln. Fester Einband. Text in deutscher und englischer Sprache. Hartmann Special Projects.

Die Bechers, die die Indexikalität von Fotografie zum Kult gemacht haben, sind paradoxerweise auch für die Autoren der Texte zur Kunst ein Hauptbezugspunkt. Ihre Fotografie ist gegen den Moment gerichtet. Die ganze Becherschule charakterisiert bei allen Unterschieden der einzelnen Fotografen eine Ästhetik der Starre. Durch ihre größeren Formate und ihr konzeptuelles Vorgehen, ihre Serien, haben die Bechers die Fotografie in den Kunstmarkt gebracht - wo sie nun ganz anders und zu ganz anderen Preisen zirkulieren als die allermeisten fotografischen Fotografien.

Dass sie und ihre Schule eine ganz neue Reflexion über Fotos in Gang gesetzt haben, lässt sich andererseits nicht leugnen. Und eine Figur wie Andreas Gursky ist dem Kunstdiskurs eines Benjamin Buchloh nun als "widerwärtig verführerisch" suspekt.

Markus Brunetti und seine Frau Betty Schöner sind keine Becher-Schüler. Aber es kann nicht sein, dass sie sich mit ihren "Fassaden" nicht direkt auf die Bechers beziehen. "Beiden geht es um präzise, sachliche und serielle Darstellung von Architektur", schreibt Andreas Langen in der Einleitung des Bandes. Und "beide zeigen ihre Sujets stets in gleichmäßigem, indirektem Licht".

Der große Unterschied liegt allerdings in der Digitalisierung. Brunettis Fassaden sind keine möglichen Fotos. Er setzt sie zusammen aus Tausenden Einzelbildern in Verfahren, die er und Schöner als Pioniere der Digitalisierung lange Zeit für Werbefotos einsetzten, bis sie sich entschlossen, das viele Geld, das sie damit verdient hatten, in einen Lastwagen zu investieren, den sie umbauten, um damit durch Europa zu fahren, darin zu wohnen und zu arbeiten und Kirchen zu dokumentieren. Man sieht diese Fassaden in den Fotos (wenn man sie so nennen kann) in einer Reinheit vor sich, als wären sie schematische Architekturzeichnungen, und doch sind sie Abbilder, die einen anblicken wie Porträts.

Natürlich waren auch die Wassertürme der Bechers dem Moment entrissen. Ihre Fotos sind ja eine Hymne auf das Ruhrgebiet und auf eine Industriearchitektur, die in vielen Fälle vor dem Abriss stand. Die Fotos der Bechers sind alles, was von diesen Wassertürmen geblieben ist. Das macht Brunettis Fotos so unheimlich: Kann es sein, dass diese Kirchen dem Untergang geweiht sind?


5.


René Groebli: "Early Work", first edition 2015, 160 pages, 30 cm x 29 cm, hardcover, german/english. Sturm & Drang publishers 2015.

Dies Buch ist aus irgendeinem Missverständnis in der Perlentaucher-Post gelandet und für mich eine riesige Entdeckung. René Groebli ist der andere große Schweizer Fotograf neben Robert Frank. Im Buch gibt es ein frühes unbekanntes Porträt Franks. Groebli, geboren 1927, ist einer jener Fotografen, die alles gemacht haben: Reportage, Akte, Industrie- und Werbefotografie, Landschaften, Städte, Kriegsfotografie, Schwarzweiß, Farbe, Fotomontagen. Schon diese wilde Experimentierlust ist ein Gegensatz zur sortenreinen Becher-Schule, die zwar vielleicht experimentiert, aber nur in der Kunst, nicht im Leben. Und tatsächlich: Nicht zufällig war Otto Steinert - der tatsächliche Antipode der Bechers an der Folkwang-Schule - ein früher Fan Groeblis. Er liebte Groeblis rauschhafte Tanz- und Bewegungsbilder und erst recht seine sehr frühen Lichtzeichnungen und Abstraktionen, die er Anfang der fünfziger Jahre in seine berühmten "subjektive fotografie"-Ausstellungen aufnahm. Groebli ist auch ein Pionier des Fotobuchs, so wie Robert Frank, und brachte schon mit Anfang zwanzig im Selbstverlag Sammlungen heraus, "Magie der Schiene" und "The Eye of Love", eine Liebeserklärung an seine Frau, die er gerade geheiratet hatte.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass ausgerechnet die "subjektiven" Fotografen die Fotografie auch so häufig in die Abstraktion führten. Otto Steinert ist mit seinen Fotogrammen selbst ein bekanntes Beispiel. Aber viele andere "fotografische" Fotografen experimentierten auch mit Abstraktion - oder Konkretion, denn durch Lösung vom Gegenstand wird das Bild zum Objekt.


6.


Lichtbild und Datenbild. Spuren Konkreter Fotografie. Herausgeber: Gottfried Jäger, Henrike Holsing. 240 Seiten, 142 Farbabb., Deutsch/Englisch, Kehrer Verlag, Heidelberg 2015, 32,90 Euro.

Und so schließt sich der Kreis: Wenn das Bild durch Lösung vom Gegenstand selbst zum Gegenstand wird, dann muss es sich auch materialisieren! Im Mai fand im Würzburger Kulturspeicher eine Ausstellung mit "Konkreter Fotografie" statt. Der vorliegende Band ist der Katalog. Vielleicht sind die Tendenz zum Fotobuch und die starke Tendenz vieler Fotografen zur Abstraktion Parallelen. Abstraktion (oder Konkretion, was soll's) war eine Mode der Nachkriegszeit, die später vielleicht nicht unzutreffend als eine Kunst der Verdrängung betrachtet wurde. Sie war allerdings auch ein radikaler Bruch. Nun kehrt sie zurück - als Spiel mit Licht, mit fotografischen Materialien oder mit digitalen Formeln. Gottfried Jäger ist einer der Protagonisten der konkreten Fotografie und führt mit anderen Autoren durch diese Geschichte, die sich seit jüngstem wieder beschleunigt.

Das Coverbild, das wie eine kolorierte Architektur aus einem expressionistischen Film aussieht, ist von dem wunderbaren finnischen Fotografen Ola Kolehmainen, der zwar ganz andere Fotos macht als Go Itami, aber auch durch fragmentarische Blicke auf Architektur zur Abstraktion kam. Die Tendenz liegt also in der Fotografie selbst!

Und die Fotografen nähern sich ihr aus den unterschiedlichsten Positionen, Wolfgang Tillmans, der eigentlich aus einer tagebuchähnlichen, anekdotischen Sicht kommt, und Thomas Ruff, dessen Hintergrund der strenge Kanon der Bechers ist. Beide mit überwältigenden Wirkungen, der eine, indem er zuweilen einfach die Schattierungen der Dämmerung abfotografiert, der andere, indem er mit Algorithmen den bildnerischen Raum umstülpt. Tillmans ist eher geneigt, in Büchern davon zu erzählen, die er auf seiner Website zum Teil kostenlos zum Download bereit hält. Wünschenswerte Demokratisierung! Beide lösen mit ihren Erfindungen jenen Schrecken aus, den nur ein ganz neues Bild erzeugt. Und polemisieren damit gegen abgebrühte Kunstdiskurse, die diesen Schrecken nur noch abmoderieren.

Thierry Chervel