Heute in den Feuilletons

Das Fremde in mir

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.10.2008. Das tschechische Magazin Respekt wirft Milan Kundera Verrat vor. Die Welt feiert die angeblich schneidende Verachtung Uwe Tellkamps fürs Proleten- und Kleinbürgertum. Die taz stellt den neuen Eigentümer des Aufbau-Verlags vor. Die NZZ spielt Liquiditätspoker. In der SZ extemporiert Ulrich Beck schon mal über den tieferen historischen Sinn der Finanzkrise. Die FAZ fürchtet vorauseilende Kooperationsbereitschaft der Buchverlage mit dem Netz.

Weitere Medien, 15.10.2008

Der Schriftsteller Milan Kundera soll 1950 einen der Spionage verdächtigen jungen Mann, Miroslav Dvoracek, an die Polizei verraten haben. Dvoracek hat dafür 14 Jahre im Arbeitslager geschuftet. Dies berichtet der Historiker Adam Hradilek im tschechischen Magazin Respekt. Respekt und das slowakische Internetmagazin Salon haben den Artikel auf Englisch ins Netz gestellt. Liest sich wie ein Roman.

Milan Kundera hat derweil alle Vorwürfe heftig bestritten. (Mehr dazu in unserem Link des Tages)

Der Perlentaucher hat den Kommentar Martin Simeckas, des Chefredakteurs von Respekt, zu den Vorwürfen gegen Kundera übersetzt: "Seine Unfähigkeit, seine vor langer Zeit begonnene Tat zuzugeben, könnte auch der Grund dafür sein, dass Kundera sich so strikt, so stur und kompromisslos von seinem Heimatland und seiner Muttersprache abgeschnitten hat. Seine emphatische Zurückweisung der eigenen Vergangenheit steht zugleich in Beziehung mit seiner leidenschaftlichen Verteidigung der Autonomie des Romans, der nicht im Zusammenhang mit dem Autor gelesen werden darf."

FR, 15.10.2008

Kilian Kirchgessner berichtet über die Reaktionen auf die Vorwürfe gegen Milan Kundera, er habe einen Spion an die tschechische Polizei verraten: "Der mögliche Verrat Kunderas ruft in Tschechien geteilte Reaktionen hervor. Sie reichen von Ungläubigkeit bis zu relativierenden Äußerungen. 'Er war damals sehr jung, und die Zeit war eine völlig andere', wird etwa der Schriftsteller Ivan Klima in der größten tschechischen Tageszeitung Mlada Fronta Dnes zitiert."

Weiteres: Zum Auftakt der Buchmesse kommentiert Ina Hartwig den Auftritt des Gastlandes Türkei: "Die Schriftsteller eines demokratischen Landes müssen die Wahrheit sagen dürfen - besser noch wäre, dies wäre auch erwünscht." In der Times mager hadert Johannes Schneider mit dem Spießer in ihm. Auf der Medienseite bereitet Gabriele Renz den Eklat um Marcel Reich-Ranicki und Helke Heidenreichs Reaktion nach. Besprochen werden die Ausstellung "Russland 1900" auf der Darmstädter Mathildenhöhe, Tomtes neues Album "Heureka", Murathan Mungans Roman "Tschador".

Welt, 15.10.2008

Auf der Meinungsseite feiert Tilman Krause den Buchpreisträger 2008, Uwe Tellkamp: "So klar antikommunistisch, so voller schneidender Verachtung für das Proleten- und Kleinbürgertum, das 40 Jahre lang im Ostteil dieses Landes sein Gift verspritzen durfte, hat noch keiner, der aus diesen Breiten kommt, den Stab gebrochen." Die Bildungsbürger dagegen "machen sich nichts vor. Sie gucken hin und erkennen ganz genau, was alles faul ist in ihrem Staat." (Und sie waren ja bekanntlich schon bei den Nazis im Widerstand.)

Im Feuilleton feiert Elmar Krekeler den Buchpreis als Erfolgsgeschichte - trotz der Nörgler: "Angeführt wurde die Kohorte der Buchpreismäkeler vom Beinahe-Buchpreisträger des Jahres 2005, Daniel Kehlmann. Von 'Schwachsinn' faselte noch in der vergangenen Woche die berühmte, aber inzwischen auch schon beinahe wirkungslose Marketingmaschine Elke Heidenreich im Zusammenhang mit dem Buchpreis. Und bewies, wie fortgeschritten eine fatale Mischung aus Betriebsblindheit und -alzheimer inzwischen ist."

Weitere Artikel: "Istanbul ist eine Frau", behauptet Iris Alanyali und stellt vier türkische Schriftstellerinnen vor, deren Romane in Istanbul spielen: Halide Eidp Adivar, Esmahan Aykol, Perihan Magden und Elif Shafak. Andre Mielke hat schon den neuen Tatort gesehen und findet ihn nicht sinti- oder romafeindlich. Manuel Brug schreibt über das Krakauer Musikfestival "Sacrum + Profanum", das ganz der deutschen Musik des 20. Jahrhunderts gewidmet war. Hanns-Georg Rodek schreibt zum Tod des Schauspielers Kurt Weinzierl. Florian Stark betrachtet Goethe in seiner Lebendmaske. Der Berliner Kaufmann Matthias Koch übernimmt den Aufbau Verlag, berichtet Uwe Wittstock. Und Leni Höllerer erinnert an einen Philosophenstreit in der Antike.

TAZ, 15.10.2008

Auf der Meinungsseite kommentiert Jaroslav Sonka den Fall Milan Kundera: "Unter tschechischen Historikern tobt derzeit ein Generationskonflikt. Jüngere Historiker machen alte Akten öffentlich, weil sie meinen, dass dies der seelischen Hygiene der Gesellschaft diene, womit sie ganz sicher recht haben. Die meisten von ihnen haben den Kommunismus allerdings nur in ihrer Jugend erlebt, in den Jahren nach 1980, als sich jeder zwischen Opportunismus und Abwarten entscheiden konnte. Ältere Forscher beziehen dagegen die persönlichen Wandlungen während der kommunistischen Jahre von 1945 bis 1989 ein. Viele zentrale Figuren der tschechischen Opposition - wie Pavel Kohout, Jiri Pelikan, Ludvik Vaculik und eben Milan Kundera - huldigten als junge Komsomolzen dem Kommunismus."

Wiebke Porombka stellt den neuen Eigentümer des insolventen Berliner Aufbau-Verlags vor: den Immobilieninvestor Matthias Koch. Die inhaltlichen Entscheidungen will der Branchenneuling auch weiterhin den Geschäftsführern überlassen. Seine Räume soll der Aufbau-Verlag "in dem geplanten Kreativkaufhaus am Moritzplatz haben, das Koch mit dem Materialgroßhändler Modulor als Kultur-Zentrum im ehemaligen Bechstein-Haus aufbauen will. Ökostrom, Räume für Kulturveranstaltungen, jetzt noch ein Verlag. Klingt wie aus dem Bilderbuch."

Ansonsten steht alles im Zeichen der Buchmesse. Dirk Knipphals lobt in seiner Kolumne den sympathischen Optimismus von Börsenvereins-Vorstand Gottfried Honnefelder, der den deutschen Roman für "lebendiger denn je" hält, und bemerkt, dass "Karrieren in der Literaturkritik derzeit eher anhand von Überlegungen laufen, wie man Literatur am besten vermittelt, nicht darüber, wer welche Idee von Literatur hat".

Die Literataz stellt die wichtigsten Neuerscheinungen des Bücherherbsts vor.

Besprochen wird schließlich der Fantasy-Film "Hellboy - Die Goldene Armee" von Guillermo del Toro.

Und hier Tom.

NZZ, 15.10.2008

Mit den Theorien des Soziologen Erving Goffman zum Vertrauensspiel erklärt uns Dirk Baecker, dass wir keine unwissenden Opfer des "Gesamtbetrugs" der Finanzkrise waren. Unter dem Eindruck, einem besonders günstigen und einmaligen Angebot zu unterliegen , haben wir vielmehr freudig mitgemacht. "Es ist nicht der Kapitalismus, der hier versagt hat oder gar sein wahres Gesicht der 'Gier' gezeigt hat. Wir haben es mit einem Liquiditätspoker um die dominierende Rolle in der Weltwirtschaft zu tun, die für viel zu viele Beteiligte viel zu überraschende Gewinnmöglichkeiten bot, um es einer hinreichenden Zahl von Behörden, Banken und Kunden zu erlauben, der ganzen Sache nicht zu trauen und sich nicht an ihr zu beteiligen."

Paul Jandl befürchtet, mit Jörg Haiders Tod könnte eine Zeit der expliziten Kritik am Rechtspopulismus enden: "Nie hat sich die österreichische Zivilgesellschaft so deutlich artikuliert wie zu Haiders stärksten Zeiten."

Weitere Artikel: Joachim Güntner befasst sich mit dem Beginn der 60. Frankfurter Buchmesse. Besprochen werden eine Doppelausstellung im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt über Sinan und Istanbul, das historische Buch "Die Türkei, die Juden und der Holocaust" von Corry Guttstadt, der Prosaband "Das Fenster zur Luft" von Bruno Steiger und der Roman "Scherbenpark" von Alina Bronsky (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 15.10.2008

Ulrich Beck extemporiert schon mal über den tieferen historischen Sinn der Finanzkrise und operiert dabei mit Carl Schmitts Begriff des "Ausnahmezustands", den dieser allerdings nur auf den nationalen Rahmen bezogen hatte: "Vielleicht ist das das herausragende Merkmal der Globalrisiken (Weltwirtschaft, Klimawandel, Terrorismus), dass an die Stelle der nationalstaatlichen Begrenzung die Entgrenzung des Ausnahmezustandes tritt, und zwar in sozialer, räumlicher und zeitlicher Hinsicht."

Der iranische Autor Amir Cheheltan schildert die immer noch finsteren Zustände in der Islamischen Republik, wo Gerichte jüngst verhinderten, dass ein zum Tode verurteilter 16-Jähriger durch Spenden freigekauft wurde: "In Iran ist die Regierung für alles zuständig, sie hat alles unter Kontrolle, sie entscheidet und verfügt über das Wohl und Wehe der Allgemeinheit. Ihr obliegt es, die Grenzen zu bestimmen, innerhalb derer sich die Bürger frei bewegen dürfen, und die Bürger müssen den Staat für jedes noch so kleine, noch so private Vorhaben um Erlaubnis bitten."

Weitere Artikel: Mounia Meiborg berichtet, dass das Grazer Magazin schreibkraft ein Stipendium an Leser vergibt. Reinhard J. Brembeck schreibt noch einmal über den Leipziger Opernskandal, der durch Videosequenzen in einem "Holländer" ausgelöst wurde ("Gogotänzerin, Goldenes Kalb und Senta in der Duschkabine gaben den Besuchern dann wohl den Rest") und vorerst zur Absetzung von Michael von zur Mühlens Inszenierung führte. Fritz Göttler schreibt zum frühen Tod des französischen Schauspielers und poete maudit Guillaume Depardieu. Willi Winkler gratuliert der großen Reporterin Marie-Luise Scherer zum Siebzigsten. Oliver Herwig inspiziert eine neue Kirche des Architekten Andreas Meck in München. Günter Kowa verfolgte eine Tagung über Beutekunst und Provenienzforschung in Dresden. Jürgen Berger erhofft sich von dem Leitungsteam Barbara Weber und Rafael Sanchez neue Impulse für das Zürcher Theater am Neumarkt.

Auf der Literaturseite äußert sich Bernd Lunkewitz im Interview mit Ijoma Mangold erleichtert über den Verkauf des Aufbau-Verlags an den Berliner Unternehmer Matthias Koch. Stephan Speicher stellt die Pläne Kochs vor, der will, dass Aufbau in das ehemalige Bechstein-Gebäude in Berlin-Kreuzberg umzieht. Volker Breidecker trägt die Meldung vom Buchpreis für Uwe Tellkamp nach, die er im übrigen mit Freuden begrüßt. Auf der Medienseite liest Gustav Seibt die Memoiren des Bertelsmann-Prinzipals Reinhard Mohn ("Seine Sprache ist so trocken und lakonisch wie jenes von Caesar verwendete Patrizieridiom, in dem Führungsschichten sich zeitsparend und inhaltsreich verständigen"). Und Willi Winkler empfiehlt ein heute auf Arte laufendes Porträt über Henry Kissinger. Auf der Meinungsseite zeichnet Thomas Steinfeld anlässlich der beginnenden Buchesse ein Stimmungsbild der Branche.

Besprochen werden Joseph Vilsmaiers Verfilmung der "Geschichte vom Brandner Kaspar" und eine Aufführung eines Oratoriums über Jeanne d'Arc von Arthur Honegger und Paul Claudel in Rom.

FAZ, 15.10.2008

Oliver Jungen berichtet von der Buchmesseneröffnung. Glänzend gefallen hat ihm Orhan Pamuks regimekritisch akzentuierte Rede. Nicht recht einverstanden ist er aber mit Gottfried Honnefelder, dem "Vorsteher des Deutschen Buchhandels". Er "nannte ... eine Radiomeldung, die E-Books stünden in diesem Jahr im Mittelpunkt der Messe, schlicht 'Unsinn' - um dann in einen einzigen Hymnus auf diese Geräte auszubrechen. Der 'Open Access', der in Honnefelders Diktion immer auch an Exzess denken ließ, setze sich durch, nichts zu machen. Man müsse indirekte Entlohnungsmodelle entwerfen. Die E-Books sind auf dem europäischen Markt noch nicht einmal wirklich angekommen. Aber um jeden Preis will man in der Buchbranche gewappnet sein, nicht die Fehler der weitgehend zusammengebrochenen Musikindustrie wiederholen - und zeigt daher weit vorauseilende Kooperationsbereitschaft. "

Weitere Artikel: Patrick Bahners und Alexander Cammann unterhalten sich mit Wolfgang Schäuble, Bahners allein spricht mit Hans-Jochen Vogel über Wirtschaftskrise, 1968, Terrorismus und mehr. Darüber, wie sie lesen, ob sie Anstreichungen machen oder nicht, auch darüber, ob sie sich die Lektüre an neuen digitalen Lesegeräten vorstellen können, schreiben A.L. Kennedy, Charles Simic, Hans Magnus Enzensberger, Walter Moers und Javier Marias. Für würdiges Verhalten bei der Buchpreisverleihung wird Uwe Tellkamp in der Glosse von Hubert Spiegel belobigt. Ausführlich blättert Kerstin Holm durch die russische Ausgabe des Esquire, in der nicht nur der Ex-Oligarch Michail Chodorkowski in einem ausführlichen Interview befragt wird, sondern auch der Exorzist des Vatikans erklärt, wie er der westlichen Welt den Teufel austreiben will. Gina Thomas porträtiert den plötzlich wieder gefragten Finanzkrisen-Klassiker Walter Bagehot, im 19. Jahrhundert Chefredakteur des Economist.

Jordan Mejias stellt die New Yorker Tierhandlung vor, die der Künstler Banksy eröffnet hat (einen Netzauftritt hat sie auch). Dass man Plattenbauten gerade durch Nicht-Verhübschung ansehnlich gestalten kann, hat Arnold Bartetzky in Leipzig gelernt. Matthias Hannemann war dabei, als Friedrich Merz sehr unverdrossen sein neues Buch "Mehr Kapitalismus wagen" vorstellte. Wie man im noch vor kurzem als "Marktwirtschaftswunder"-Land bezeichneten Island mit dem drohenden Staatsbankrott umgeht, darüber berichtet Martin Wittmann. Sehr ernst gemeint sind, wie Dirk Schümer neuen Aussagen verhafteter Camorristi entnimmt, die Drohungen gegen Leib und Leben des "Gomorrha"-Autors Roberto Saviano. Konstanze Crüwell gratuliert dem Maler Brice Marden zum Siebzigsten (noch gibt es die Bildersuche bei Google). Hannes Hintermeier schreibt zum Tod des Schauspielers Kurt Weinzierl. Auf der Medienseite erklärt sich der Drehbuchautor Markus Stromiedel ("Tatort", "Stubbe") das niedrige Niveau vieler Fernsehfilme nicht zuletzt mit der Verachtung, mit der viele Verantwortliche den AutorInnen begegnen.

Für die DVD-Seite hat sich Verena Lueken Audiokommentare zu Neuerscheinungen wie "Tödliche Entscheidung" und "Schmetterling und Taucherglocke" angehört. Hans-Jörg Rother stellt frühe Antimationsfilme von Lutz Dammbeck vor. Nicht gerade wärmstens, aber irgendwie doch empfohlen wird die DVD von Luigi Comencinis Film "Die Sonntagsfrau". Michael Althen schreibt zum allzu frühen Tod des Guillaume Depardieu.

Außerdem gibt es heute auch die große Buchmessen-Literaturbeilage: Dietmar Dath bespricht im Aufmacher Christian Krachts Roman "Ich werde hier sein...": "Christian Kracht ist, neben vielen anderen netten Dingen, der abgebrühteste Waffenlose, den die Militärschriftstellerei je erlebt hat." In einer ebenfalls beigelegten 23-seitigen Buchmessezeitung (hier komplett als pdf) sieht Felicitas von Lovenberg das Buch keineswegs durch elektrische Lesegeräte bedroht. Elke Heidenreich stellt Herrn Carl vom Frankfurter Hof vor. Vom Empfang des Berlin Verlags berichtet Julia Encke.

Besprochen werden Emily Atefs Film "Das Fremde in mir" und Bücher, darunter der Nachlassband von Niklas Luhmann über die "Liebe" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).