Im Kino

Schnappschüsse des Entgleisens

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Sebastian Markt
13.07.2017. Ein grandios flirrendes Kino der nicht-Identität: João Pedro Rodrigues' "Der Ornithologe" folgt seinem Protagonisten bis zum letzten Mysterium der Nacht. Und Jon Watts' "Spider-Man- Homecoming" nährt einen schrecklichen Verdacht: Das Marvel Cinematic Universe ist im Kern weder Kino noch Fernsehen - sondern ein Lego-Todesstern.


"Du bist frei / und ich bin frei / und eine Nacht / will verbracht werden / also warum / verbringen wir sie nicht zusammen / wollen wir nicht teilnehmen / am Abenteuer unserer Sinne?"


So in etwa, singt António Variações am euphorischen Ende dieses Abenteuers, oder zumindest am Ende der Zeit, die wir daran teilhaben dürfen, über dem letzten Bild des Films, während die Credits zu rollen beginnen und die Helden aus der Geschichte verschwinden. Dabei hatte das Abenteuer ganz nüchtern begonnen, in der nordportugiesischen Wildnis, mit einem Forscher, der in einsamer Natur Vögel belauert. "Der Ornithologe" lässt sich viel Zeit für das ausgedehnte Beobachten des Beobachters; und für das, was er in seinem fernglasverstärkten Blick, den der Film sich immer wieder zu seinem Eigenen macht, zu sehen bekommt.

Ein erster Spalt tut sich in der disziplinierten Grammatik des Films auf, wenn die Blicke des Naturkundlers von seinen Mitgeschöpfen erwidert werden, und die Kamera für Momente auf den Mann herabblickt; aus Winkeln, die, wenn nicht himmlisch, doch auch nicht ganz irdisch sind. Gegenschüsse aus der Vogelperspektive: Tiere sehen Dich an. Als Vorboten des späteren Flirrens der Form bleiben diese Widerblicke, die den Film bis an sein Ende begleiten werden, noch verhalten, künden aber von einer Enthierarchisierung der Bilder- und Bedeutungswelten, die João Pedro Rodrigues' Film, wie auch sein Werk insgesamt kennzeichnen.



Der Vogelforscher telefoniert noch mit seinem Freund, aber der schlechte Empfang macht Kommunikation zusehends unmöglich. Verbundenheitsbekundungen werden ausgetauscht, und der Mann wird erinnert, seine Medikamente zu nehmen, die für ihn lebensnotwendig zu sein scheinen. Während er auf einem Fluss treibt und den Blick gebannt in Richtung der Vögel richtet, steuert sein Kanu auf eine Strömung zu, die ihn in die Fluten hinabreißt und verschwinden lässt. Während er vorübergehend verloren geht, nimmt der Film die Fährte zweier chinesischer Christinnen auf, die ihrerseits den Pfad ihrer Pilgerreise verloren haben und nun ziellos durch den Wald stapfen. Zwischendurch zieht der Fotostream ihrer Handykamera über die Leinwand, Schnappschüsse einer Entgleisung. Sie werden den reglosen Mann finden, aus der Rettung wird aber bald eine Gefangennahme, da der Genesene von seiner eigenen Mission nicht ablassen will. So findet er sich nackt und an einen Baum gebunden wieder - in kunstvoller Shibari-Fesselung als Fetisch präsentiert.

Dieser Ornithologe wird die Hauptfigur des Films bleiben, verkörpert vom französischen Schauspieler Paul Hamy, während Rodrigues selbst ihm die Stimme leiht, und spät im Film, in einem Augenblick transzendenter und doch ganz konkreter Verwandlung ganz für ihn einstehen wird. Die Figur trägt den Namen Fernando, genau wie ein historischer Portugiese des 13. Jahrhunderts, der heute als heiliger Antonius verehrt wird. Man darf sich die Geschichte, die der Film erzählt, auch als wohlwollende Blasphemie auf die Heiligen-Vita des Antonius vorstellen, die sich in Korrespondenzen und Verschiebungen präsentiert: das besondere Verhältnis zu Tieren, die Rettung vom Schiffbruch, Sprechen in fremden Sprachen, die Erweckung eines Toten durch einen Atemzug und schließlich eine Ankunft in Padua, wo der, der einmal Fernando hieß, schon Antonius ist.



Rodrigues, der Biologie studiert hat und in seiner Jugend selbst leidenschaftlicher Vogelkundler war, schöpft stets aus der populären Kultur im engeren wie weiteren Sinn, um etwas Singuläres und Individuelles darzustellen. Der Film wechselt seine Register, fließend und sprunghaft. In den Naturalismus treten allegorische Figuren und Mythen, die Natur wird beseelt und die Blicke auf die Natur immer schwelgerischer. Die Bilder laden sich symbolisch und mystisch auf, in den sich anhäufenden und immer ekstatischeren Verunreinigungen der Form halluziniert sich der Film zu einer sinnlichen Konkretheit. Auf der Handlungsebene folgt "Der Ornithologe" Fernando auf einer transformierenden Reise, wo er, den Pilgerinnen entflohen, einem stummen Hirten namens Jesus begegnet; eine Leidenschaft der Körper erlebt, die von zärtlichem und leidenschaftlichem Begehren zu einem Akt der Gewalt gerät; auf Amazonen trifft und sich findet indem er sich verliert. Profanierung des Jenseitigen und Sakralisierung der Leiber und ihrer flüchtigen Verschmelzung.

Man könnte die Sorgen und Freuden, von denen Rodrigues' Filme zu sprechen und die sie zu zeigen wissen, die Verhältnisse, die seine Figuren zur Welt und zu sich selbst eingehen, vordergründig unter dem Begriff der Identität fassen. Es ist aber viel mehr ein Kino der Nicht-Identität. Auf seiner Reise von Fernando zu Antonius verliert der Ornithologe seinen Personalausweis, letzte Insignie seiner bürgerlichen Identität. Wenn er ihn wiederfindet, sind in die Augen seines staatlich versicherten Porträts Löcher gebrannt, schließlich wird der Ausweis ganz vom Fluss fortgetragen. Das ist mehr als der Abfall einer übergestülpten Zurechenbarkeit von einem bleibenden Kern; vielmehr geht es um einen Prozess, in dem Fernandos Bild selbst ins Schillern gerät.



Es gehört zur Radikalität dieses Kinos, mit seinen Dopplungen, Verwandlungen, Vertauschungen und Verausgabungen, dass es die Wandlungen eines Selbst nicht immer wieder an einen treuen Körper rückbindet und versichert, sondern dieses Selbst genau dort entzündet und entgrenzt wird. Das letzte Mysterium der Nacht wird Fernando/Antonius in einem finster-grellen Bilderreigen wieder mit dem Hirtenjunge zusammenführen, der bereits ein anderer ist. Und es wird ihm auch ganz buchstäblich zu Leibe rücken, weil Veränderung eine untergründige Verwandtschaft zum Tod hat.

Es geht um einen Blick auf die Welt, der die Aporien des Selbst-Seins in Bildern zelebriert (ohne ihre Tragik zu verschleiern), anstatt zu versuchen, sie erzählerisch zu schließen. Ein Abenteuer der Sinne - das Kino ist der privilegierte Ort, an dem es nicht nur aufgehoben und aufgezeichnet wird, sondern eigentlich stattfindet. "Ich bin auf der Suche nach jemand / der das Ziel dieser Energie sein wird / der ein Körper der Lust sein wird", singt Variações. Und dann wird das Bild schwarz.

Sebastian Markt

Der Ornithologe - Portugal 2016 - Originaltitel: O Ornitólogo - Regie: João Pedro Rodrigues, Darsteller: Paul Hamy, Xelo Cagiao, João Pedro Rodrigues, Wen Han, Suan Chan, Julaine Elting - Laufzeit: 117 Minuten.

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(1) Der neue "Spider-Man"-Film ist vermutlich schon okay. Er wird überall freundlich bis enthusiastisch besprochen, und ich verstehe auch, warum, zumindest teilweise. Tom Holland ist in Zivil, als nervöser, blutjunger, fast noch pubertärer Peter Parker ziemlich toll, und wenn er in voller Superheldenmontur noch nicht viel hermacht, dann ist das fast schon konsequent: Er muss das ja alles noch lernen, darum geht es im Film. Die Nebenrollen sind teils noch besser besetzt (Marisa Tomei, die Peters Tante May spielt, wertet eh jeden Film, in dem sie mitmischt, automatisch um zwei Klassen auf), die Sequenzen, die in Richtung High-School-Komödie gehen, funktionieren erstaunlich gut, und als Bonus gibt es ab und an einen Hauch von location shooting in Queens, dem schönsten Stadtteil New Yorks. Insgesamt ein wirklich ziemlich okayer Film, und jedenfalls deutlich sorgfältiger gemacht als die große Mehrzahl der Blockbuster der letzten paar Jahre.

(2) Dennoch hat mich "Spider-Man: Homecoming" so sehr gelangweilt wie lange nichts mehr im Kino. Das deutet darauf hin, dass ich ein grundsätzlicheres Problem habe mit der Marvel-Superheldenindustrie, in die nun auch der vorher dank eines lizenzrechtlichen Zufalls verhältnismäßig unabhängige Spider-Man integriert ist. Ich fühle mich von diesen Filmen in meiner, beziehungsweise um meine Schaulust betrogen. Sie stellen in fast jeder einzelnen Szene klar, dass sie nicht das geringste Interesse haben an den audiovisuellen Sensationen, für die ich zuvorderst ins Kino gehe. Im Fall von "Spider-Man: Homecoming" fällt zum Beispiel auf, dass ausgerechnet die herausragende Fähigkeit seiner Titelfigur, die Art, wie er seine Netze auswirft, um rasant von Hochhaus zu Hochhaus zu schwingen, kaum eine Rolle spielt. Die älteren Spider-Man-Filme, die guten (von Sam Raimi) wie die schlechten (von Marc Webb), waren geradezu besessen von solchen Szenen - mit gutem Grund, schließlich steckt in ihnen eine genuin filmische Kinetik, die außerdem auf den filmhistorischen Vorläufer Tarzan verweist. "Spider-Man: Homecoming" dagegen desavouiert die wenigen Versuche in diese Richtung gründlich: Wenn es Hollands Spider-Man überhaupt einmal gelingt, mehr als zwei, drei Meter vom Boden abzuheben, dann kann man sicher sein, dass er im nächsten Moment in einen Bretterzaun knallt oder anderweitig gedemütigt wird.



Derartig unelegante Tollpatschigkeiten sind einerseits das, was in Marvel-Land als Humor durchgeht; andererseits hat die "Erdung" des einstmals federleicht zwischen Wolkenkratzern schwebenden Spinnenmenschen System. Denn es geht auch darum, Spider-Man eine Lektion beizubringen: Nicht Du bist der Star, sondern Dein Anzug.

Tatsächlich zeigt ein zentraler Handlungsstrang des Films, wie Peter Parker die Spezialfunktionen seines neugefertigten Kostüms kennenlernt, wie ihm beigebracht wird, elektrische Netze werfen, "Netzbomben" zu produzieren, und noch allerlei Unfug mehr. Das Kostüm erhält sogar eine - der I-Phone-Assistentin Siri nachempfundene - Stimme. Das passt insofern ins Schema, als alle Marvel-Filme das Übermenschliche am Superhelden in den Hintergrund drängen und sich stattdessen auf aufwändig designte Gadgets konzentrieren, die von außen auf die Superheldenkörper appliziert werden. Nicht zufällig ist der in den Comics eher nebenrangige Iron Man - ein Superheld, der sich ausschließlich über seine High-Tech-Rüstung definiert - im Marvel-Filmuniversum zum Oberboss avanciert; auch in "Spider-Man: Homecoming" fliegt er in regelmäßigen Abständen vorbei und schaut oberlehrerhaft nach dem Rechten.

Superheld zu sein bedeutet in den Marvel-Filmen nicht mehr, mit etwas Unerklärlichem in sich selbst konfrontiert zu sein, sondern lediglich, den eigenen Körper als Ausgabegerät einer weitgehend extern ablaufenden Programmierung zu begreifen. Aus einer technophilen Perspektive mag man das sogar sympathisch finden (der Erhabenheitskitsch eines Zack Snyder ist mir zwar deutlich lieber; allzu ernsthaft verteidigen will ich ihn trotzdem nicht) - aber es bleibt der Eindruck, dass die Filme alles daran setzen, dem fantastischen Kino noch die letzte Ahnung von Überschreitung und Exzess auszutreiben.



(3) In den Marvel-Filmen fließen alle überschüssige Elemente in den den einzelnen Filmen übergeordneten Masterplan. Wen interessiert es eigentlich, ob wir uns gerade in der zweiten oder der dritten Phase des Marvel Cinematic Universe befinden? Offensichtlich ziemlich viele, sonst würden diese und ähnliche Fragen, die eigentlich niemanden außerhalb der studiointernen Strategieabteilung kümmern sollten, nicht in zahllosen Filmkritiken behandelt. Zweifellos ist dieses Cinematic Universe in erster Linie ein - zweifellos genialer - Marketing-Schachzug; oder genauer gesagt: eine Methode, das Marketing von seinem Objekt ununterscheidbar zu machen.

Dennoch kann man sich fragen, was der ästhetische Gehalt dieser Strategie sein könnte. Zum Beispiel könnte man versuchen, das Marvel Cinematic Universe als Antwort auf den Boom der Fernsehserie in den letzten Jahren zu beschreiben. Die Filme sind zwar auch als Einzelwerke rezipierbar, aber ihre volle Komplexität entfaltet sich erst, wenn man sie auf die Gesamtheit des MCU hin konzipiert - so wie die einzelnen Episoden einer Serie stets die Gesamtheit des Serienuniversums im Blick behalten müssen. Passend dazu engagiert Marvel mit Vorliebe Filmemacher mit TV-Erfahrung; der "Spider-Man: Homecoming"-Regisseur Jon Watts ist da keine Ausnahme.

Die Analogie stößt freilich schnell an ihre Grenzen. Den narrativen Sog einer dramaturgisch durchstrukturierten Fernsehserie, gar einer aus dem Bereich des sogenannten Quality TV, kann und will das Marvel Cinematic Universe (zumindest was die Kino-Produktionen angeht) nicht simulieren. Die Erzählmuster der Filme sind durchweg schematisch und auf endlose Wiederholbarkeit angelegt. Der recht erbärmliche Cliffhanger am Ende von "Spider-Man: Homecoming" ist nur ein Beispiel dafür, wie unbeholfen die Filme in erzählerischer Hinsicht gestrickt sind: entscheidend ist nicht die Frage, wie es weitergeht, sondern der dafür umso lautstarker vorgetragene Hinweis darauf, dass es weitergehen wird, weitergehen muss, um jeden Preis.

Wenn die Marvel-Studios ihre diversen Superheldenfilme in einem geteilten Universum integrieren, dann nicht, um raffinierte dramaturgische Effekte zu produzieren. Stattdessen geht es darum, die bloße Ausdehnung dieses Universums als einen Wert an sich zu zelebrieren. Zu sich selbst kommt das Marvel Cinematic Universe an den textuellen Rändern, in kleinen, fast schon ausgestellt banalen, im Modus des intertextuellen Augenzwinkerns vorgetragenen Querverbindungen: In der "post credit sequence" von Film X schaut überraschend Superheld Y vorbei, und Film Z enthält ein easter egg, das womöglich erst drei Filme später ausgebrütet werden wird.



(4) In "Spider-Man: Homecoming" gibt es ein marketingtechnisch besonders raffiniertes easter egg: Peter Parkers nerdiger Kumpel Ned (Jacob Batalon) schleppt in einer Szene einen Lego-Todesstern durch die Gegend. Da haben die Produzenten gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Zum einen dürfte sich Lego die Szene einiges gekostet haben lassen (nebenbei: noch vor wenigen Jahren hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ausgerechnet der früher hoffnungslos bieder wirkende dänische Spielwarenhersteller einmal zum heimlichen Zentrum der Popkultur avancieren würde); zum anderen wird gleichzeitig noch das "Star Wars"-Franchise mitbeworben - das genau wie Marvel inzwischen zum Disney-Konzern gehört.

Mich hat die Szene auf einen anderen Gedanken gebracht: Das Marvel Cinematic Universe ist keine Qualitätsserie, sondern ein Lego-Todesstern. Zum einen gibt es eine Vielzahl miteinander kombinierbarer Elemente. Zum anderen einen Bauplan, der dafür sorgen wird, dass am Ende jedes Teil an seinem richtigen Platz ist. Aufgrund meiner eigenen Lego-Vergangenheit kann ich durchaus den Lustgewinn nachvollziehen, der sich aus der Kombination aus beidem, aus morphologischer Vielfalt und der Kohärenz eines architektonischen Entwurfs, ergibt (und zwar eben ganz unabhängig davon, wie scheiße das Ergebnis aussieht; der Lego-Todesstern ist allerdings selbst für Lego-Verhältnisse spektakulär hässlich). Nur liegt es mir leider nach wie vor fern, diese Art von Lustgewinn ausgerechnet im Kino zu suchen.

Lukas Foerster

Spider-Man: Homecoming - USA 2017 - Regie: Jon Watts - Darsteller: Tom Holland, Michael Keaton, Robert Downey Jr., Marisa Tomei, Jacob Batalon, Laura Harrier, Zendaya - Laufzeit: 133 Minuten.