Vorgeblättert

Leseprobe zu Gabriele Weingartner: Die Hunde im Souterrain. Teil 3

18.08.2014.
Morgen um die Mittagszeit, so lautete die bereits schriftlich getroffene Verabredung, würden sich Felice und Sue, die nur noch ein paar Praktikanten zu verarzten hatte, Shelley"s Ghost anschauen, bevor sie sich zum Lunch in den Bryant Park verkrümelten und Sue sich auf den Weg zu den Festspielen am großen Wasserfall machte. Sie habe die Übernahme der Ausstellung aus der Bodleian Library in Oxford mit vorbereitet, hatte sie ihr stolz berichtet, und bei dieser Gelegenheit nicht nur einen Brief von Lord Byron, sondern auch eine Seite aus dem Frankenstein-Manuskript von Mary Shelley in ihren mit weißen Handschuhen versehenen Händen getragen. Verarzten, verkrümeln, dachte Felice, niemand drückt sich noch so aus. Irgendwie merkte man Sues Mails an, dass sie ihr Deutsch nicht mehr täglich benutzte. Wer weiß, wie es klang, wenn sie den Mund aufmachte und ihre in hohen Lagen leicht überkippende Stimme hören ließ, an deren ausgeprägt norddeutschen Klang sich Felice noch erinnerte.
Ob Sue überhaupt noch nach Deutschland kam? In Berlin jedenfalls war sie nach dem Mauerfall nicht wieder gewesen, wie sie erst kürzlich geschrieben hatte. Ihre Eltern waren inzwischen verstorben. Sie hatten in Niebüll gewohnt, fiel Felice ein, und dort einen mit Reet gedeckten, geradezu keimfrei wirkenden Bungalow besessen, der von einem riesigen, mit akkurat beschnittenen Obstbäumen und Blumenrabatten bestückten Garten umgeben war. Um gute, jodhaltige Luft einzuatmen, weil sie unter den Abgasen eines nicht funktionierenden Kachelofens litt, wie sie entschuldigend sagte, fuhr Sue in den Herbst- und Wintermonaten jedes Wochenende nach Hause und nahm einmal auch Felice mit, die sich - unter dem Eindruck von Siegfried Lenz" Deutschstunde stehend und Niebüll mit Seebüll verwechselnd - nur allzu gerne einladen ließ.
An dem fehlenden Nolde lag es freilich nicht, dass es zu keinem weiteren Besuch kam, sondern an Sue. Schon damals konnte sie es nämlich nicht lassen, allen Eventualitäten vorzubeugen. So durfte Felice in Gegenwart ihres Vaters, eines pensionierten hohen Bundeswehr-Offiziers, weder die Studentenunruhen noch die Wehrdienstverweigerer im Wohnheim und schon gar nicht Deutschlands Vergangenheit erwähnen. Dass ihre Tochter phasenweise Hasch rauchte und nicht ungern Lambrusco trank, sollte wiederum die Mutter nicht erfahren. Und sogar eine Nachbereitung gab es im Auto auf der holprigen Fahrt durch die DDR. Der damals noch Susanne, gelegentlich auch Susi genannten Sue war es peinlich, dass ihr Vater die Ränder des Rasens mit der Papierschere schnitt und die Teppichfransen mit einem Kamm frisierte, weshalb sie Felice bat, in Berlin bloß nichts davon verlauten zu lassen.
Immerhin, Sue war die Einzige gewesen, die Felice vor Jahr und Tag zum Erscheinen ihres ersten und letzten Gedichtbandes gratuliert und ihr einen liebevollen und sogar sehr kundigen Brief geschrieben hatte. Weiß der Himmel, wie die in keinem Feuilleton besprochene lyrische Talentprobe Raue Seelen in die Public Library geriet. Mails gab es damals noch nicht und auch keine Websites, auf denen literarische Neuigkeiten angekündigt wurden. Womöglich war das Bändchen ja nur als Mitbringsel zu Sue gelangt, überbracht von einer durch die USA reisenden ehemaligen Kommilitonin, die ihr bei der Gelegenheit erzählte, was zehn oder mehr Jahre vor der Publikation mit Ulrich,
Felices Mann, geschehen war. Vielleicht mutete Sues handgeschriebener Kommentar sie deshalb so wundersam tröstlich an, so wissend irgendwie und übergenau. Obwohl Sue gar nicht auf Ulrichs Selbstmord zu sprechen kam. Auch nicht fragte, ob sie sich schon immer als Dichterin gefühlt habe. Und wann diese zutiefst traurigen Gebilde überhaupt entstanden seien.
Wahrscheinlich hätte sie Suizid gesagt oder Freitod, dachte Felice, nachträglich irritiert von der psychologischen Korrektheit, mit der man in den letzten zwanzig Jahren des vorigen Jahrhunderts die vermeintliche Autarkie eines Lebensmüden schönreden wollte. Das war Mode gewesen in jener Zeit der grassierenden Sehnsucht nach Selbstverwirklichung. Das Wort diente nicht nur als technischer Begriff für das von eigener Hand herbeigeführte Ende einer weder durch Psychopharmaka noch Therapie aufzuhellenden Gemütslage. Aber Ulrich hatte wirklich einen Mord begangen, fand Felice, so rabiat, wie er sich vom Leben in den Tod befördert hatte, der sanftmütige Ulrich, nicht nur einen, sondern mehrere Morde sogar, weil er nichts, aber auch gar nichts dem Zufall überlassen wollte.
Heute schämte sich Felice für das dünne, in ihren Augen viel zu luxuriös mit einem Lesebändchen ausgestattete Büchlein, mit welchem sie - wie sie dachte - auf geradezu skandalöse Weise ihr Innerstes nach außen gekehrt hatte. Dass dies die meisten taten, die sich in Poesie versuchten, wie Adolf, ein ihr seit einem Mittelalter-Tutorium zutiefst ergebener und durch keinerlei Schroffheit abzuhaltender Studienkollege behauptete, wollte sie nicht als Entschuldigung gelten lassen. Er war es jedenfalls gewesen, auf dessen Veranlassung hin eines ihrer Gedichte - ein gut gebautes Sonett mit komplizierter Binnenreimstruktur - in eine wichtige, jährlich erscheinende Anthologie aufgenommen wurde. Und ihm gelang es auch, den Kontakt zu dem renommierten kleinen Verlag herzustellen, in dessen bibliophilem Programm viele von ihr bewunderte Schriftsteller ihre lyrischen Nebenprodukte auf den Markt brachten. Vermutlich wollte Adolf, der sich für seinen Vornamen schämte, aber dennoch nicht vor ihm davonlaufen wollte, nur ihre Eitelkeit kitzeln, wenn er ihr in seinen öden Ansprachen abwechselnd entweder falsche Bescheidenheit oder Koketterie unterstellte. In Wahrheit war er nur scharf auf mich, als er mich eine neue Mascha Kaléko nannte, dachte Felice, während sie ihre Blicke über Sues aufgerüstete Küche gleiten ließ und eine Sekunde lang überlegte, sich die glutenfreie Pizza aus dem Tiefkühlfach zu holen. Tapfer und trotzig, mit einer Spur von Destruktion im Humor. Hatte er gesagt. Trotzig und tapfer! Dass sie das war, wusste sie selbst - wenn auch sternenweit davon entfernt, poetisches Kapital daraus zu schlagen.
Der Stolz, den sie anfänglich empfand, wenn sie in ihren Gedichten blätterte, verflüchtigte sich jedenfalls schnell, nicht nur, weil beim Verlagsempfang keiner der Kollegen ein Wort mit der späten Debütantin wechselte und der Verleger sie links liegen ließ. Sie selbst konnte es bald kaum mehr ertragen, über den Ausdruck ihrer ureigensten Gedanken zu reden, auch mit Adolf nicht, der sie noch einige Zeit mit den abwegigsten Interpretationen belästigte und zu neuen Versuchen ermutigte. Nie wäre sie auf die Idee verfallen, jemandem Raue Seelen zu schenken. Bei Einladungen brachte sie lieber eine Flasche Portwein mit. Und in den tristen Räumen der Stadtteilbüchereien, wo sie nach Ulrichs Tod arbeitete, nachdem sie sich auf seiner Beerdigung entschlossen hatte, die akademische Welt zu verlassen, bestand ohnehin keine Gefahr, dass man sie darauf ansprach - weder auf den Gedichtband, noch auf ihren Ehemann, dessen Suizid eine Zeitlang die Klatschgeschichten der Dahlemer Institute beherrscht hatte, wie Felice zu wissen glaubte. So lange wenigstens, bis sich nur zwei Wochen später Ingrid, eine von Ulrichs Kolleginnen, vom Funkturm stürzte. Sie selbst hatte in einem Bericht der Berliner Abendschau davon erfahren. Auch Ulrichs Freitod wurde darin erwähnt und die Frage gestellt, wie es komme, dass sich an der Freien Universität so viele vielversprechende junge Wissenschaftler das Leben nähmen.
Felice fand Ingrid sofort überwältigend, damals im September 1973 bei der Vernissage in der Knesebeckstraße, schon weil sie so ungeniert über Leute herzog, die sich im gleichen Raum aufhielten. Sie hatten sich in die Augen geschaut und zugezwinkert, erinnerte sie sich jetzt in Brooklyn, während der mockingbird blökte wie ein Schaf und dann wieder schepperte wie das Telefon aus einem frühen Ingrid-Bergman-Film. Es war von der Gattin eines Professors die Rede gewesen, die - in Ermangelung eigenen Geldes und eines eigenen Bankkontos - frühmorgens den Tagesspiegel austrug und sich so ein paar Mark dazuverdiente. Und Ingrid hatte ihren Spott natürlich nicht - wie die meisten anderen - über die solcherart gegen ihre Ohnmacht kämpfende Frau ausgegossen, sondern über deren stockkonservativen, im Grunde noch tiefbraun gefärbten Mann, der keiner Auseinandersetzung mit den militanten Studentinnen des Fachbereichs aus dem Weg ging und ihretwegen mit schöner Regelmäßigkeit und gegen das Votum seiner Kollegen die Polizei ins Institut rief. Wobei Felice bezweifelte, ob Ingrid wusste, mit wem sie gerade das Einverständnis hergestellt hatte. Vielleicht reagierte sie auf jeden so, mit dem sich zufällig ihre Blicke kreuzten. Felices Ehemann jedenfalls hatte sie sich kurz zuvor vehement in die Arme geworfen, seinen Kopf zwischen ihre beiden Hände genommen, ihm zu seinem Forschungsstipendium in Harvard gratuliert und mit Kassandra-Stimme eine große Veränderung in seinem Leben prophezeit. Den Durchbruch sozusagen. Die Lösung. Darauf würde sie ihr Leben verwetten. Und seines auch.
Wie konnte eine Frau, die sich so selbstbewusst, ja, fast herrisch als kühle Intellektuelle inszenierte, einfach so Schluss machen, hatte Felice sich damals - auf den Fernsehmoderator starrend - gefragt, nur um dann nächtelang von Ingrids Höhensturz zu träumen. Eine Politikwissenschaftlerin, die sich so wenig um Konventionen scherte, ein so loses Mundwerk besaß, sich die Haare wie ein Junge schneiden und den Nacken ausrasieren ließ. Ihr schwarzer Hosenanzug hatte gewiss ein Vermögen gekostet, er war von unvergleichlicher Eleganz, das weiße Krägelchen, das ihren schlanken Hals umschloss, von schneidender Akkuratesse. Und für das Augen-Make-up, das ihr durch die kunstvolle Verlängerung der Lider das Aussehen einer ägyptischen Prinzessin verlieh, musste Ingrid einige Zeit vor dem Spiegel verbracht haben. Ihre Erscheinung bekam etwas so furchterregend Entrücktes dadurch, dass Felice Mühe hatte, ihre Irritation zu unterdrücken und sie nicht einfach nur hemmungslos anzustarren.
Damals, in der Galerie, machte Ulrich seiner Frau das erste Geschenk nach der Hochzeit: eine Radierung des ausstellenden Künstlers, der nicht nur der Schule der Neuen Prächtigkeit angehörte, sondern auch der Erfinder einer Sprache namens Starckdeutsch war, die sich vor allem durch exzessive Diphtongierung und Konsonantenhäufung auszeichnete. Felice aber hatte nur Augen für Ingrids Extravaganz gehabt und kaum für Matthias Koeppel, dem sie später - nach der Rezitation seiner Gedichte - noch vorgestellt worden war. Sollte Ulrich sich über ihre Gleichgültigkeit geärgert haben, so ließ er es sich nicht anmerken. Nach der Veranstaltung kehrten sie auf dem schnellsten Weg nach Hause zurück und landeten ohne Umstände im Bett. Um in schöner Ausführlichkeit die Leute auseinanderzunehmen, die sie gerade getroffen hatten. Aber auch, um sich zu verlustieren, wie sie es gerne nannten. Unausgesprochene Konflikte lösten sich da noch ganz einfach in Luft auf. In Luft auch insofern, als vor allem die gemeinsam gerauchte Zigarette danach dazu beitrug, die gute Stimmung wiederherzustellen. Es konnte sogar vorkommen, dass Ulrich zu singen anfing bei solchen Gelegenheiten, irgendwelche Opernarien, so laut, so fröhlich und so falsch, dass Felice noch heute die Tränen in die Augen traten, wenn sie daran dachte.
Damals, vierzehn Tage vor ihrem Abflug in die Vereinigten Staaten, hatte er auch Nur nicht aus Liebe weinen vor sich hingesummt und sie mit Karten für das letzte Zarah-Leander-Kon-zert im Theater des Westens überrascht. Felice war sofort ein Zitat aus Tonio Kröger dazu eingefallen, eines, das sie beide gerne benutzten, wenn in ihrem Bekanntenkreis wieder einmal eine Beziehung bröckelte. Wer am meisten liebt, ist der Unterlegene und muss leiden, sagte sie also, betont langsam. Wobei sie es dieses Mal wagte, schnell eine - in ihren Augen - rhetorische Frage nachzuschieben: Bei uns scheint es diesbezüglich noch ziemlich ausgeglichen zuzugehen, nicht wahr, mein Liebster? Zur Zeit jedenfalls ist es nicht ausgemacht, wer von uns beiden mehr leiden muss. In ferner Zukunft. Irgendwann vielleicht einmal.
Ulrich zwickte sie leicht in die Brustwarze und antwortete mit einer Gegenfrage. Ob sie darunter leide, dass sie immer die Jüngste sei, wollte er wissen. Unter den alten Zauseln, denen sie heute begegnet seien, beispielsweise. Unter all den Professoren, vor denen er selbst sich immer noch am meisten fürchte. Und ob sie, nunmehr mit ihm verheiratet, nicht ihre Freunde vermisse? Den Revolutionär mit dem Prinz-Eisenherz-Schnitt und den knarrenden Schaftstiefeln womöglich, dem sie ja vielleicht sogar ein bisschen näher als nahe gekommen sei. Ja, der, der mich in meinem eigenen Komintern-Seminar einen Volksverräter genannt hat, wurde er deutlicher, als Felice ihn ratlos anschaute. Wie hast du nur seinen Fanatismus ertragen? Und sein grässliches Schuhwerk?

In einem zwar geplanten, beziehungsweise Tage vorher gut ausgekundschafteten, dann aber wohl doch spontan vollzogenen Sprung habe Ingrid F. ihrem Leben ein Ende gesetzt, behauptete der Sprecher in dem ramponierten kleinen Fernsehgerät, das Felice nicht sehr viel später zum Elektromüll gab. Das lasse sich aus den Äußerungen des Fahrstuhlführers schließen, der tags zuvor erlebt hatte, wie sie mit einem alten Ehepaar in Streit geriet und dessen kläffenden Königspudel eine widerliche Töle nannte. Und an einigen Nachmittagen war Ingrid auch einer Kellnerin aufgefallen, weil sie sich partout nicht ihren Regenmantel hatte abnehmen lassen und einfach so sitzen blieb an immer demselben, eigentlich reservierten Tisch am Fenster. Durchnässt, mit tropfendem Haar, Rotwein trinkend, rauchend. Dabei verlor der Moderator natürlich kein Wort darüber, an welcher Stelle der Aussichtsplattform sich Ulrichs Kollegin entschlossen hatte, die Welt zu verlassen. Und wo genau sie aufgekommen war.
Da hatte Felice sich schon entschlossen, auf die sogenannte Trauerpost, die ihr täglich den Briefkasten verstopfte, nicht zu reagieren, ja überhaupt den Kontakt zu den Menschen einzustellen, die sie bei Ulrichs Begräbnis so dicht umringten, dass sie nicht hätte umfallen können. Ingrid war auch da gewesen, zwei Wochen vor ihrem Sprung, drei Wochen vor ihrer eigenen Beerdigung. In der Schlange, die sich durch die schmalen Friedhofswege wand, hatte sie geduldig darauf gewartet, ihr - nur ihr - die Hand zu drücken, bevor sie mit Verve eine Schaufel Erde auf den Sarg warf und an der Phalanx der übrigen Trauernden vorbei dem Ausgang zustrebte.

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Auszug mit freundlicher Genehmigung des Limbus Verlages
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