9punkt - Die Debattenrundschau

Das Vorbild für alle

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.03.2017. Die Kommentatoren sind sich uneins: Wird Theresa May ein neues schottisches Referendum zulassen oder nicht? Laut taz funktioniert die Trennung zwischen Staat und Kirche beim Evangelischen Kirchentag in Berlin so: Die Kirche macht Missionsarbeit, der Staat bezahlt. In der Welt erklärt Seyran Ates, warum sie eine "Ibn Rushd-Goethe-Moschee" gründen will. Die Avantgarde der Fake-News-Bekämpfung hat ihren Sitz in der Ukraine, informiert politico.eu. Deutschland muss eine Perspektive für die jungen Leute entwickeln, ruft Timothy Snyder in der FR.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.03.2017 finden Sie hier

Gesellschaft

Im Interview mit der FR erklärt der amerikanische Historiker Timothy Snyder, warum er für seine Landsleute ein Buch über Widerstand geschrieben hat. Snyder sieht in Trumps Amerika manche Parallele zum Faschismus der dreißiger Jahre. Er plädiert dafür, die demokratischen Institutionen zu verteidigen und schlägt dann eine überraschende Volte: Die Deutschen, sagt er, sind heute "da, wo die Amerikaner in den fünfziger Jahren waren: Sie sind das Vorbild für alle. Wenn es kein deutsches Vorbild mehr gibt, können wir die Demokratie vergessen. Aber es ist nicht genug, immer nur Demokratie schützen zu wollen. Man muss auch eine visionäre Idee entwickeln, von Deutschland, von Europa, sogar von Patriotismus haben, damit die jungen Leute stimuliert werden. Immer nur wie ältere Leute zu sagen, es wird schlecht, ist zu wenig. Man braucht eine positive Perspektive für die jungen Leute. Sie müssen sehen, wie Deutschland und Europa besser und attraktiver aussehen könnten."

Das Gespräch im Freitag mit der amerikanisch-türkischen Sozialphilosophin Seyla Benhabib kreist etwas vage um Menschenrechte und Demokratie. In einem Punkt ist Benhabib jedoch sehr deutlich: Die Demokraten müssen jetzt ihre Institutionen unterstützen, selbst in Europa, das sie für sehr viel weniger gefährdet hält als Amerika: "Europa ist doch anders. Marine Le Pen kann, falls sie gewählt wird, nicht einfach wie Charles de Gaulle damals vorgehen. Was diese populistischen Figuren tun, wenn sie an die Macht kommen, ist, zu versuchen, die Grenzen der Legalität ein bisschen weiter zu verschieben. Das wird auch Le Pen versuchen. Vielleicht ist sie gefährlicher, als ich vermute. Ja, das ist ein historischer Test. Nur werden die Institutionen auch nicht stark genug, wenn wir sie nicht verteidigen."

Der seit 1994 in den Niederlanden lebende Komiker Greg Shapiro denkt im Interview mit der NZZ über falsche Toleranz und falsche Gefühle in seiner Wahlheimat nach: "Letzten Dezember gab es eine Umfrage: Was glauben Sie, wie viele von 100 Menschen im Land Muslime sind? Der durchschnittliche Niederländer tippte auf 19. Tatsächlich sind es nur 6 Prozent. Weil die muslimische Bevölkerung wächst, lautete die zweite Frage: Wie viele Muslime werden 2020 hier leben? 26 Prozent, schätzten die Befragten. Selbst die Wähler linker Parteien glauben, dass bald mehr als ein Viertel der Bevölkerung Muslime sein werden. Die tatsächliche Antwort ist aber nicht 26 Prozent 2020, sondern 6,9. Die Frage ist also: Warum hat diese Gesellschaft so ein falsches Selbstbild?"

Wir erleben derzeit in ganz Europa einen "Kulturkampf um die 'Narrative Authority'" zwischen Modernisierungsverlierern und -gewinnern, meint im Interview mit dem Tagesspiegel  der Münchner Soziologe Armin Nassehi. "Im Lebensmitteleinzelhandel etwa kann man seit kurzem beobachten, dass in manchen ost- und südosteuropäischen Ländern nur noch einheimische Produkte verkauft werden können. Vor einigen Jahren war das noch völlig anders. Auch der Brexit, dieser Hass auf Europa, lassen sich ökonomisch nicht erklären. Es geht um ein Distinktionsbedürfnis. In diesen Kulturkampf ist die Flüchtlingskrise wie ein Verstärker hereingebrochen. Auch wenn es sich böse anhört: Auch die extreme Willkommenskultur hatte nicht nur die Flüchtlinge im Blick, sondern bediente auch ein Abgrenzungsbedürfnis gegen kleinbürgerliche Ängste und Enge."

"Die 'Fremden', die in der modernen Gesellschaft Deutschlands angekommen sind und tatsächlich in Europa und nicht in Parallelgesellschaften leben, zum Beispiel Frauen, die Fahrrad fahren, Männer, die den Kinderwagen schieben, sind selten sichtbar", sagt die Berliner Juristin Seyran Ates in der Welt. Für sie möchte sie  deshalb eine Moschee gründen, die "Ibn Rushd-Goethe-Moschee", in der sich moderne Muslime wiederfinden können. "In unserer Moschee soll es auf keinen Fall eine Geschlechtertrennung geben, keinen Kopftuchzwang und neben dem Imam auch eine Imamin, die vorbetet und die Freitagspredigt spricht. Zudem sollen sich bei uns alle Rechtsschulen des Islam treffen, austauschen und zusammen beten." (Es wäre in dem Zusammenhang sicher auch hilfreich, deutsche Medien würden nicht jeden Artikel zum Islam stereotyp mit einer verschleierten Frau bebildern.)
Archiv: Gesellschaft

Religion

Getrennt, wie sie sind, teilen sich Kirche und Staat in Deutschland gern die Aufgaben: die Kirchen machen Missionsarbeit - etwa in Form von Kirchentagen -, und der Staat bezahlt: Ab 24 Mai findet in Berlin der Evangelische Kirchentag statt, schreibt Claudius Prösser in der taz: Zwar gehörten "wenig mehr als 16 Prozent der BerlinerInnen 2016 noch einer evangelischen Kirche an, die KatholikInnen kamen auf unter 9 Prozent. Der Rest gehört einer anderen oder - größtenteils - gar keiner Religion an. Andererseits übernehmen Berlin, Brandenburg und der Bund zusammen über die Hälfte der mit 23 Millionen Euro veranschlagten Kosten. Die Evangelische Landeskirche schießt nur 3,7 Millionen Euro zu, weniger als die Hälfte des Betrags, den der als Verein eingetragene Deutsche Evangelische Kirchentag (DEKT e. V.) selbst über Eintrittskarten, Spenden und Sponsoring hereinholt." Ähnliche Diskussionen gab es vor ein paar Monaten auch anlässlich des Katholischen Kirchentags in Leipzig (unser Resümee).
Archiv: Religion

Europa

Die Kommentatoren sind sich uneins, ob Theresa May ein erneutes Referendum über eine schottische Unabhängigkeit verhindern kann oder nicht. Tom McTague und Charlie Cooper meinen in politico.eu, dass sie es letztlich politisch nicht kann: "Von der Verfassung ist sich die Downing Street zwar im Klaren, dass sie über eine Abstimmung entscheiden kann. Aber inoffiziell gibt man zu, dass man eine Abstimmung nicht verhindern kann, falls die schottische Regierung wirklich entschlossen ist, sie abzuhalten. Es wäre politisches Gift. Millionen Schotten das Recht auf Selbstbestimmung zu verwehren, würde die Regierung des Vereinigten Königreichs, das gerade neue Freunde auf der Welt sucht, schlecht aussehen lassen." Dominic Johnson meint dagegen in der taz, dass die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon gerade auf diese Ablehnung aus der Downing Street spekuliert: "Schottland setzt von vornherein darauf, von London missachtet zu werden, um sich dann hinterher über Missachtung beschweren zu können."

Im Guardian konstatiert der Publizist Joris Luyendijk ein großes Versagen niederländischer Politiker, die nie offen waren für echten Dissens. Viele Fragen wurden nie diskutiert: "Wie kann eine offene und sozial liberale Gesellschaft Hunderttausende von Einwanderern aus Ländern integrieren, die zutiefst konservativ sind? Wie soll sie umgehen mit doppelten Staatsbürgerschaften, wenn diese zu widerstreitenden Loyalitäten führen, wenn beispielsweise das Herkunfsland einen offenen Konflikt mit dem Einwanderungsland ausficht? Man betrachte nur den Zusammenstoßen zwischen Niederländern türkischer Herkunft und der Polizei am Wochenende. Oder das Europäische Projekt - was für eine Art von EU wollen die Europäer? Die großen niederländischen Parteien scheinen nicht die Fähigkeit, Courage und Vorstellungskraft zu haben, diese Fragen direkt anzugehen und ihren Wählern alternative Visionen anzubieten, die sowohl realistisch wie auch inspirierend sind. In diese Leerstelle stößt erfolgreich Wilders als Tabus zerschmetternder Ikonoklast."
Archiv: Europa

Medien

Die Welt kann von der Ukraine lernen, schreibt Vijai Maheshwari bei politico.eu: Als Russland mit seinen "grünen Männchen" die Krim überfiel, produzierten russische Medien im Akkord Berichte über den angeblichen Faschismus in der Ukraine. "Eine Gruppe von Professoren und Studenten beschloss sich zu wehren und schrieb, ohne es zu wissen, Geschichte, als sie StopFake.org ins Leben riefen, die erste Website, die dazu da ist, russische Propaganda aufzugreifen und zu widerlegen. Jetzt, da sich auch der Rest der Welt mit den Desinformationstaktiken des Kreml konfrontiert sieht, ist die Crew von der Journalistenschule der große Zampano in einer Welt volle Fake News."

In der SZ fasst Alex Rühle empört die sexistische Kampagne der Kronenzeitung gegen die österreichische Autorin Stefanie Sargnagel zusammen und schließt mit einer kräftigen Dosis Bewunderung für die standfeste Autorin: "Künstlerisch steht sie dem Wiener Aktionismus genauso nah wie dem Bachmannwettbewerb. Sie zeigt außerdem, wie man sich gegen Beschimpfungen zur Wehr setzt. Und wie man Österreich überlebt. Am Montagmorgen twitterte sie: 'Von der Krone verhetzt zu werden ist marktwerttechnisch wie in Malerei an Überdosis zu sterben. Da freun sich die Galeristen auch immer.'" Eine Stunde später schrieb sie: 'Treff Mama zum Frühstück im Cafe. Sie liest zufriedn Zeitung (Krone).'"
Archiv: Medien

Ideen

Nach "kultureller Aneignung" gilt es aus dem Wörterbuch der allerneuesten Linken noch ein neues Wort zu lernen: "Intersektionalität". Die postkolonialen Forscher Aram Ziai und Franziska Müller erklären in der taz in Antwort auf Mark Lilla (unser Resümee) und andere Autoren, die linke Identitätspolitik für den Aufstand der "Abgehängten" verantwortlich machen: "Dabei sollte klar sein, dass Ausgrenzung und Ausbeutung und deswegen auch Identitätspolitik und soziale Gerechtigkeit nicht als konkurrierende Prioritäten gedacht werden dürfen. Das Zauberwort dafür heißt Intersektionalität: die Überschneidung verschiedener Unterdrückungsformen wie Rassismus, Sexismus und Klassismus ist zu untersuchen. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass die identitätspolitische Ausgrenzung von anderen immer auch dazu gedient hat, ihnen Arbeitsrechte oder gleiche Löhne vorzuenthalten und sie leichter auszubeuten." Die Autoren beziehen sich besonders auf einen Artikel Winfried Thaas, der letzte Woche in der taz erschien.
Archiv: Ideen

Geschichte

Eine diskriminierende Einwanderungspolitik, wie sie die Trump-Regierung anstrebt, ist beileibe nichts Neues, schreibt der Sozialhistoriker Hartmut Berghoff in der FAZ: "1924 untersagte der 'Immigration Act' jedwede Einwanderung aus Japan und anderen Teilen Asiens. Zugleich entstand das bis 1965 bestehende, von Johnson aufgehobene System, das die jährliche Zahl der Einwanderer aus einem bestimmten Land auf zwei Prozent der bis 1890 eingewanderten Landsleute begrenzte. Diese Quoten drosselten die Immigration allgemein und diskriminierten gezielt bestimmte unerwünschte Gruppen wie Süd- und Osteuropäer, Araber und Afrikaner."
Archiv: Geschichte