Vorgeblättert

Leseprobe zu W. von Sternburg: Joseph Roth. Teil 1

23.02.2009.
(S. 437 ff)

Drei Dichter in Nizza

Im Juli 1934 reist Roth von Marseille nach Nizza. Hermann Kesten hat ihn und Andrea Manga Bell eingeladen. Sie mieten ein Haus an der Promenade des Anglais. Es wird ein Aufenthalt, der für Roth - von kleinen Unterbrechungen abgesehen - insgesamt acht Monate dauert. Ein literarischer Zirkel findet sich zusammen. Im gleichen Haus leben neben den Roths das Ehepaar Hermann und Toni Kesten sowie Heinrich Mann und seine Gefährtin Nelly Kröger: im Erdgeschoss die Kestens, im 1. Stock die Roths und im 2. die Manns. Bald kommen vertraute Besucher, vor allem Stefan und Friderike Zweig. Auch Rene Schickele, der im nahen Fabron wohnt, ist ein regelmäßiger Tischgenosse in diesen Monaten. Es werden Wochen intensiver Arbeit. Die Abende in Nizzas Cafes und Bars sind ausgefüllt mit Gesprächen, Diskussionen und Trinkereien mit Nelly Kröger, die Alkoholikerin ist. Hermann Kesten wird später aus der Erinnerung ein allzu friedliches Bild überliefern: "An blauen Abenden standen wir auf unseren Balkons und sahen wie die Sonne im Meer unterging und ihr Abschein die Wellen und den Himmel und die Wangen unserer Frauen rötete. Heiter verbrachten wir die folgenden Monate zusammen, trafen uns um die Ecke in einem kleinen Bistro zum Essen oder Trinken oder saßen vor dem Cafe de France oder auf dem Place Massena im Cafe Monnot unter den Arkaden und wanderten zuweilen unterm Sternenhimmel am Meer entlang in unser Haus zurück, in eifriger Diskussion über die Gesetze des historischen Romans." Das klingt in den Briefen Roths aus diesen Monaten allerdings ganz anders. An der Côte d?Azur durchlebt er eine seiner schweren Lebenskrisen. "Ich bin außer mir, ich bin am Ende meiner Kräfte, ich bin nahe am Selbstmord, zum ersten Mal in meinem Leben", schreibt er an Zweig. Die finanziellen Bedrängnisse belasten nun auch sein Verhältnis zu Andrea Manga Bell mehr und mehr.

Aber diese Monate in Nizza sind auch so etwas wie eine kleine Sternstunde in der deutschen Literaturgeschichte. Drei deutsche Exilautoren arbeiten gleichzeitig und in engster Nachbarschaft an historischen Romanen. Heinrich Mann sitzt am Manuskript des "Henri Quatre", Hermann Kesten schreibt "Ferdinand und Isabella" und Roth den Napoleon-Roman "Die Hundert Tage". Im Zentrum der beiden Werke von Roths Kollegen stehen königliche Herrscher. Beide Romane sind eine Auseinandersetzung mit dem Geschehen im Dritten Reich. Heinrich Mann erzählt die Geschichte eines "guten Königs", zeichnet also ein Gegenbild zu den Hitlers und Görings, die in Deutschland eine Schreckensherrschaft errichtet haben. Kestens Roman spielt im Spanien des späten 15. Jahrhunderts, einer Zeit, in der die Inquisition ihr grausames Geschäft betreibt und die spanischen Juden verfolgt werden. Die Parallele zum nationalsozialistischen Deutschland ist offenkundig. Und Roth? Auch der Roman "Die Hundert Tage" erzählt vom Schicksal eines Herrschers, und er ist auf seine Weise ebenfalls eine Antwort auf die Hitler-Diktatur.

Roth ist zunächst keineswegs begeistert von der Aussicht, auf engstem Raum mit anderen Menschen zusammenleben zu müssen. Er befürchtet Einschränkungen seiner Unabhängigkeit und wehrt sich gegen zu viel Intimität und Nähe. "Mein guter Kamerad Hermann Kesten hat mich eingeladen, weil er gesehen hat, wie miserabel ich bin", schreibt er unmittelbar vor Reiseantritt an Zweig. "Ich werde es nicht bei ihm aushalten. Er hat Frau und Mutter. Ich werde nach zwei Tagen in ein Hotel gehen. Ich kann nicht gemeinsam mit Bekannten Toiletten benützen und im Pyjama gesehen werden und die Anderen so sehen. Grauenhaft!"

Es geht dann doch. Kesten ist seit vielen Jahren ein vertrauter Freund. Heinrich Manns Werk hat Roth schon als junger Mann geschätzt. Obwohl Mann zu den prominentesten Befürwortern der Volksfrontpolitik gehört, bleibt Roths Hochachtung für den Autor des "Untertan" doch ungebrochen. Es gibt manches Gemeinsame. Beide lieben Frankreich, empfinden das Land als zweite Heimat, sprechen die Sprache, fühlen sich der französischen Kultur tief verbunden. Der Senatorensohn aus Lübeck und der Sohn einer Kleinbürgerin aus Brody haben mit großer Zuneigung über Emile Zola geschrieben. Als Schriftsteller neigen beide, Mann und Roth, zu satirischen Überspitzungen. Beide engagieren sich im "Schutzverband Deutscher Schriftsteller", der 1933 in Paris gegründet wird. Heinrich Mann hat den europäischen Antisemitismus schon vor 1933 immer wieder öffentlich gegeißelt. "Für die deutschen Flüchtlinge sind Heinrich Mann, Feuchtwanger, Arnold Zweig bedeutende Schriftsteller." Auch wenn diese Bemerkung gegenüber Stefan Zweig nicht freundlich gemeint ist, sondern auf die Erfolgsaussichten eines gerade erschienenen eigenen Romanes gemünzt ist, Roth bleibt Heinrich Mann trotz dessen "linker" Haltung gewogen.

Hermann Kesten reist im Herbst nach Sanary-sur-mer weiter, es wird einsam. Roth zieht Anfang 1935 mit der Geliebten in das Hotel Imperator am Boulevard Gambetta. Für die Arbeit sucht er ein eigenes Domizil. "Befreit hat mich ein wenig nur das Hotel. Ich habe mir heute ein kleines Arbeitszimmer genommen, um die Illusion der Zelle zu haben und nicht mehr im Cafe zu sitzen. Mit 10 francs täglich, ohne Störung durch meine kontrollierenden Freunde und mit einer Flasche Marc ist es billiger. Heute nacht beginne ich von Neuem den zweiten Teil (von "Die Hundert Tage" - WvS). Ich habe den Mut der Verzweifl ung. Ich habe nur noch den Mut, den die Verzweiflung gibt."


Die Hundert Tage

Auch wenn viele seiner Geschichten in der Vergangenheit angesiedelt sind, das Buch über Napoleons Rückkehr nach Frankreich und seine letzte und entscheidende Niederlage auf dem Schlachtfeld von Waterloo ist das einzige unter Roths Werken, das er selbst einen "Historischen Roman" nennt. Für viele Exilautoren ist die Geschichte zum großen Thema geworden. Sie leben nicht mehr in der Gemeinschaft, von der sie vor 1933 in ihren Romanen erzählt haben. Es fehlt ihnen das unmittelbare Beobachten der gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland, das früher ihre literarische Phantasie angeregt hat. Sie müssen sich jetzt neue Themen suchen. Viele heimatlos gewordene deutsche Schriftsteller weichen auf historische Stoffe aus, deuten das so Ungeheuerliche, das im Deutschland der Gegenwart geschieht, mit Beispielen aus der Vergangenheit. So gibt es nicht viele Exil-Werke, deren Handlung zumindest in wichtigen Passagen im Dritten Reich spielt. Zu den bekanntesten zählen Feuchtwangers "Die Geschwister Oppermann", später dann Anna Seghers? "Das siebte Kreuz", Remarques "Arc de Triomphe" oder Arnold Zweigs "Das Beil von Wandsbek".

Roth braucht einen finanziellen Erfolg, und vielleicht hat er auch deswegen ein zu dieser Zeit modisches literarisches Feld betreten. Die Niederschrift fällt ihm jedoch ungewöhnlich schwer. Er arbeitet - für seine Verhältnisse jedenfalls - lang an dem Manuskript, und die mit de Lange vereinbarten Abgabetermine werden überschritten. "Das ist das erste und das letzte Mal, daß ich etwas 'Historisches' mache", schreibt er fluchend an Rene Schickele. "Der Schlag soll es treffen. Der Antichrist persönlich hat mich dazu verführt. Es ist unwürdig, einfach unwürdig, festgelegte Ereignisse noch einmal formen zu wollen - und respektlos. Es ist was Gottloses drin - ich weiß nur nicht genau, was?" Auch gegenüber dem Freund und Schweizer Schriftsteller Carl Seelig spricht er über seine Unsicherheit, deutet aber zugleich den Reiz an, den das Projekt für ihn hat: "Ich schreibe übrigens zum ersten Mal einen historischen Roman - gewiß nicht, weil ich 'Erfolg' haben will - muß ich das noch sagen? Aber weil ich im Stoff ein Mittel gefunden habe, mich direkt auszudrücken. Und ich bin im größten embarras (Unbehagen, Verlegenheit - WvS): weiß die gemeinen Mittel des historischen Romanschreibers zu verachten und 'privat' zu werden, ich meine privat im Sinne des Romanciers!" An Blanche Gidon schreibt er sehr überhöhte, das Historische völlig beiseiteschiebende Sätze, die verdeutlichen, worum es ihm in diesem Buch geht: "Er interessiert mich, dieser arme Napoleon - für mich geht es darum, ihn zu verändern: ein Gott wird wieder zu einem Menschen - der einzige Abschnitt (Roth meint die 100 Tage zwischen der Abreise von Elba und der Schlacht von Waterloo - WvS) seines Lebens, in dem er menschlich und zugleich unglücklich ist. Es ist das einzige Mal in der Geschichte, wo man sieht, daß ein 'Ungläubiger' SICHTBAR klein, ganzklein wird. Und es ist genau das, was mich fasziniert. Ich möchte aus ihm einen Bescheidenen als einen Großen machen. Das ist offensichtlich die Strafe Gottes, das erste Mal in der Geschichte. Napoleon erniedrigt: das ist das Symbol einer menschlichen absolut irdischen Seele, die sich erniedrigt und sich gleichzeitig erhebt."

De Lange hat zugesagt, ihm sieben Monate lang als Vorschuss eine Monatsrate in Höhe von 750 Reichsmark zu zahlen. Zusätzlich werden Roth in dieser Zeit vom Verlag monatlich 200 Österreichische Schillinge für die Anstaltskosten gezahlt, die er für seine Frau nach Wien schickt. Da Roth nicht rechtzeitig fertig wird, muss er immer wieder um eine Verlängerung der Zahlungen kämpfen. "Ich kann meinen Roman vor den ersten Tagen des Januar absolut nicht fertig machen, obwohl ich 8 - 10 Stunden am Tag arbeite. ? Ich bin in höchster Verzweiflung, weil Sie mir noch nicht geschrieben haben, ob ich noch auf die Januar-Rate rechnen kann, oder nicht."

Sie wird ihm gewährt, aber mit den bereits vereinbarten Zahlungen für seinen nächsten Roman verrechnet. "Es war mein Fehler, einen billigen Vertrag für sieben Monate abzuschließen. Ich allein bin schuldig. Aber ich habe in der Panik gehandelt, die mein Leben bestimmt und aus törichter Freundschaft für die beiden Jünglinge vom Kurfürstendamm." Als das Buch schließlich im September 1935 erscheint, ärgert sich sein Autor sofort darüber, dass Landauer es zunächst nur in den Niederlanden ausliefert.

Am 18. Oktober schreibt Roth recht unwirsch an Zweig, der in einem Brief sehr positiv über den Roman geurteilt hat: "Ich habe selbst überhaupt keine Ahnung von dem Roman, selbst die Correcturen habe ich nicht lesen können, ich habe das Buch kaum aufgeschlagen, jedes Wort und jeder Beistrich wecken in mir schreckliche Erinnerungen an schreckliche gemeine Qualen, an Rechnungen von
Portiers und Kellnern und an demütigende Demarchen. ? Außerdem schreibe ich am zweiten Roman ("Beichte eines Mörders" - WvS) und bin davon vollkommen gefangen. Was den Erfolg betrifft, bin ich jedenfalls keineswegs optimistisch."

Den äußeren Rahmen der Handlung bildet die Rückkehr des von der Insel Elba geflohenen Imperators nach Frankreich. In Paris empfängt ihn ein jubelndes Volk: "Es lebe der Kaiser." Der Bourbone-König Ludwig XVIII. hat die Hauptstadt wenige Stunden vorher in Richtung England verlassen. Am Ende steht die verlorene Schlacht von Waterloo, die Napoleons endgültigen Sturz besiegelt und in das Exil auf St. Helena führt. Als der Kaiser unmittelbar nach seinem triumphalen Einzug in Paris im Empfangszimmer seines Pariser Schlosses steht, lästert er Gott: "Sie haben vergessen, den Altar zu entfernen, dachte der Kaiser. Hier hat jeden Morgen der König gekniet. Und Christus hat ihn nicht erhört! 'Ich brauche keinen!' sagte der Kaiser plötzlich laut. Und: 'Weg mit ihm!' Er hob die Hand. Und es war ihm in diesem Augenblick, als müßte er knien. Und er fegte dennoch in diesem gleichen Augenblick mit einer flachen, wie zur Ohrfeige geöffneten Hand das Kruzifix vom Altar zu Boden. ? Das Kreuz war zerbrochen."

Nach der erzwungenen Abdankung, kurz bevor er das englische Kriegsschiff "Bellerophon" betritt, hat Napoleon einen Wachtraum, und ein Greis betritt den Raum. Es ist der "Heilige Vater". Zwischen ihm und dem Kaiser entwickelt sich ein Dialog, in dem der Autor seine katholische Botschaft verkündet. "'Du bist nur ein Kaiser', sagte der Greis. 'Nichts verstehst du von den Sternen! Gewalt hast du mir angetan. Gewalt tust du allen an! ? Ich bin der einzige Gewaltlose, der dir gehorcht - und daran wirst du untergehen. ? Der Schwache wird den Starken besiegen!' 'Ich werde', sagte der Kaiser, 'die Kirche Christi groß und mächtig machen!' 'Die Größe und die Macht der Kirche kann der Kaiser Napoleon nicht sichern', erwiderte der Greis. 'Die Kirche braucht keine gewaltsamen Kaiser. ? Die Kirche ist ewig, der Kaiser ist vergänglich.' 'Ich bin ewig!' rief der Kaiser. 'Du bist vergänglich', sagte der Greis, 'wie ein Komet.'"

Nimmt man die ideologische Glaubensbotschaft weg, dann entdeckt der Leser auch in diesem Roman ein altes Thema Roths: Der Mächtige fi ndet erst im Abstieg und im Scheitern Erkenntnis und die Fähigkeit zu Humanität und Liebe. Das trifft auf Tarabas nicht weniger zu als auf Roths Napoleon. Auch der Bezirkshauptmann von Trotta wacht aus der menschlichen Erstarrung auf, als das Leid über den Tod des Sohnes über ihn kommt.

Roth vermittelt kein historisches Napoleon-Bild, sondern beschreibt das Innenleben eines der Großen in der Geschichte, der am Ende seiner Laufbahn erkennen muss, dass nichts bleibt. Aus dem Staatenlenker wird ein Marc Aurel, aus dem ungläubigen Feldherrn ein Gottessucher. 100 Tage: Napoleons mächtigster Feind ist die Zeit. "Deutlicher als die Rufe der Menge vor den Fenstern und die vielfältigen Geräusche seiner Dragoner in den Gärten und im Haus hörte er das zarte, aber unbarmherzige Ticken der Standuhr auf dem Kamin hinter seinem Rücken. Er hatte keine Zeit mehr zu strafen. Er hatte nur noch Zeit, zu verzeihen und sich lieben zu lassen, zu schenken und zu geben: Gnaden, Titel und Ämter, alle armseligen Gaben, die ein Kaiser zu vergeben hat. Die Großmut verlangt weniger Zeit als der Zorn. Er war großmütig."

Roth hat nichts Gewichtiges über den historischen Napoleon zu sagen, dafür umso mehr und Klügeres über Masse und Macht, Diktatur und Volk. Napoleon ist ein Aufsteiger, nicht ein Monarch, der aus altem Königshaus kommt und durch Geburt Anspruch auf den Thron hat: "Er stammte aus einem unbekannten Geschlecht. Und selbst seinen namenlosen Vorfahren verlieh er noch Ruhm. Er schenkte Glanz seinen Ahnen, statt ihn von ihnen zu empfangen wie die geborenen Kaiser und Könige. Also ward er allen Namenlosen ebenso verwandt wie den Trägern altererbter Würden. Indem er sich selbst erhob, adelte, krönte, erhob er alle Namenlosen im gemeinen Volk, und also liebte es ihn. Erschreckt, besiegt und im Zaum gehalten hatte er eine geraume Zeit die Großen dieser Erde, und deshalb hielten ihn die Kleinen für ihren Rächer und anerkannten ihn als ihren Herrn. Sie liebten ihn, weil er ihresgleichen zu sein schien - und weil er dennoch größer war als sie. ? Er verhieß den Menschen Freiheit und Würde - aber wer in seine Dienste trat, verlor die Freiheit und ergab sich ihm vollends. Er schätzte das Volk und die Völker gering, und er buhlte um die Gunst des Volkes.

? Beglücken wollte er die Welt, und er verschaffte ihr Plage." Roth spricht in diesen Sätzen vom legendären Kaiser der Franzosen, aber zumindest seine damaligen Leser werden gewusst haben, welches Volk und welchen Diktator er hier auch vor Augen hat: die Deutschen und ihren Führer Adolf Hitler.

Teil 2