Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Schnitzen von Unbegreiflichkeit

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12.11.2014. Olaf Nicolais Wiener Mahnmal für die Deserteure der NS-Zeit ist politisch indifferent, ärgert sich der Kurator Raimar Stange im Art Magazin. In Lensculture dokumentiert der isländische Fotograf Ragnar Axelsson die letzten Tage der Arktis. Der Tagesspiegel feiert Schuberts "Unvollendete", mit den Wiener Philharmonikern und Nikolaus Harnoncourt. Die FAZ bewundert Jake Gyllenhaal als bösen Nightcrawler. Literatur ist Schiffszwieback, notiert Thomas Hettche in der NZZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.11.2014 finden Sie hier

Kunst

"Harmlos und politisch indifferent" ist das neue Wiener Mahnmal für Deserteure der NS-Zeit von Olaf Nicolai, kritisiert der Berliner Kurator und Kritiker Raimar Stange im Art Magazin. "Ein überdimensioniertes dreistufiges X aus hellblauen Beton liegt da auf dem Ballhausplatz. Die Worte "all" und "alone" sind darauf zu lesen. Das X - wofür steht es? Für eine Kleidergröße? Für die Generation X? Für einen Grad von Pornografie? Für das X, das man auf seinem Wahlzettel alle vier Jahre platziert? Aber allzu viel Sinn ergibt auch das in diesem Kontext nicht."


Polar bear hunters, Hjelmer and Isak, on rough packed ice on the east coast of Greenland. The temperature was minus 35 degrees. © Ragnar Axelsson

Seit fast 30 Jahren reist der isländische Fotograf Ragnar Axelsson durch die Arktis. In dieser Zeit hat er die enormen Veränderungen der Landschaft durch den Klimawandel festgehalten. Die Lebenswelt der Inuit verschwindet jeden Tag ein bisschen mehr, schreibt Axelsson in Lensculture, wo einige seiner Fotos zu sehen sind: "The hunters of the North are a dying breed. This is the twilight of their society."

Auf Youtube findet man auch eine Reportage Axelssons über die "letzten Tage der Arktis" (mit englischen Untertiteln)



Mit einigem Vergnügen hat der Philosoph Jean-Pierre Baudet für die taz die große Schau über den Einfluss des Marquis De Sade auf die Künste im Musée d"Orsay durchschritten, auch wenn ihm einige der Illustrationen für De-Sade-Verhältnisse am Ende doch zu parfümiert erscheinen: "Die reiche Ernte an Kunstwerken, die hier zusammengetragen wurde, erweitert den Käfig, in dem man de Sade zu isolieren gedachte. Die Bevölkerung seiner Triebgenossen erweist sich als viel größer, als es der Moral recht wäre, denn die das Begehren anspornende Szenarien der Perversität sind so weit verbreitet, dass sie unweigerlich etwas über den Menschen im Allgemeinen ausdrücken."

Im Tagesspiegel berichtet Pepe Eggers von der palästinensischen Biennale in Gaza: Diese sei "eine unmögliche Biennale, die ihre eigene Unmöglichkeit zum Thema macht: Ein Gutteil der Künstler kann nicht kommen, schon weil die israelischen Behörden ihnen die Einreise verweigern (wegen eines falschen Passes, falschen Geburtsortes oder falschen Namens)." Für den Tagesspiegel hat Birgit Rieger die Berliner Künstlerin und Sängerin Michaela Meise besucht.

Besprochen wird die Ausstellung "Fette Beute: Reichtum zeigen" im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg (SZ).
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Literatur

Muss Literatur einen Zweck haben? Nein, meint der Schriftsteller Thomas Hettche in der NZZ mit Robert Louis Stevenson: Literatur braucht keinen Zweck, "weil sie ganz Mittel ist, ein Lebensmittel, Schiffszwieback auf unser aller Reise".

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Alain Claude Sulzer warnt in der NZZ vor der Abschaffung der Schreibschrift (Schnürlischrift in der Schweiz genannt): "Gewiss, eine eigene Handschrift wird man sich auch aufgrund der Basisschrift bilden können, aber ob dazu noch Zeit bleibt, jetzt, da es darum geht, den Weg vom eigenhändigen Schreiben zum getippten noch zu verkürzen?" Hans Magnus Enzensberger zum 85. Geburtstag gratulieren in der Berliner Zeitung Harald Jähner und in der FR Arno Widmann.

Besprochen werden Barbara Yelins Comic "Irmina" (Tagesspiegel),zwei neue Bücher über Werner Scholem (Freitag), Kjell Westös "Das Trugbild" (SZ) und der von Larissa Bender herausgegebene Band "Innenansichten aus Syrien" (FAZ).
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Architektur

Die Feuilletons berichten auch weiterhin von der Eröffnung des von Philippe Prost entworfenen Mahnmals für die Gefallenen aller Nationalitäten des Ersten Weltkriegs in Notre-Dame-de-Lorette (mehr dazu hier). Schade findet es etwa Nikolaus Bernau (Berliner Zeitung), dass unter der Anlage für den offiziellen Empfang zur Eröffnung Gras ausgerollt wurde: "Auch die von den Architekten geplanten netten Blumenanlagen sind überflüssig: Der nackte, schwere Boden Flanderns, der bis heute Leichen- und Uniformteile, Munition und Waffen ausspuckt, sollte bis in das Denkmaloval herrschen." Ergriffen berichtet Bernhard Schulz (Tagesspiegel) von seiner Begehung der Anlage: "Wer das Innere der Ellipse durchschreitet, die mal auf dem Boden liegt, mal in ihn einschneidet, mal über ihm schwebt, wie es die leicht hügelige Landschaft mit sich bringt, der findet keinen Anfang und kein Ende. Nur die Endlosigkeit des Sterbens, das auf nichts hinführt, kein geschichtliches Ziel erreicht." (Bild: Mémorial international de Notre-Dame-de-Lorette - Philippe Prost, architecte/AAPP©adagp, 2014 ©Aitor Ortiz)

Weitere Artikel: In der NZZ hofft Marc Zitzmann, dass der Pariser Stadtrat in fünf Tagen für die 180 Meter hohe Tour Triangle von Herzog und de Meuron stimmen wird, die im Parc des Expositions, ganz am südlichen Stadtrand von Paris stehen soll. Eine großzügige Privatspende ermöglicht die Umsetzung des von Peter Zumthor konzipierten, wagemutigen Neubaus des Los Angeles County Museum of Art, berichtet Patrick Bahners in der FAZ. Besprochen werden Wolfgang Sonnes Buch "Urbanität und Dichte im Städtebau des 20. Jahrhunderts" (FR) und eine Ausstellung über junge finnische Architekten im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt (SZ).
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Bühne

Warum eigentlich inszeniert Andriy Zholdak nicht an zentraler gelegenen Häusern, fragt sich ein verwunderter Martin Krumbholz (SZ) nach Zholdaks "großartiger Inszenierung" von Kafkas "Verwandlung" am Theater Oberhausen: "Der Abend ist voller Arabesken, Feinheiten, Slapstick-Einfälle, und an seinen Rändern lässt er genügend Leerstellen, Raum für Deutungen."

Bei Spex finden wir einen bearbeiteten Mitschnitt von Schorsch Kameruns "Frankfurter Rendezvous", einer Theateraktion im öffentlichen Raum des Frankfurter Willy-Brandt-Platzes (mehr dazu hier).


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Musik

Mit einer Hommage feiert das Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt den 85. Geburtstag des Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, der zum Dank mit den Wiener Philharmonikern Schuberts "Unvollendete" und die "Rosamunde"-Bühnenmusik spielte. Frederik Hanssen vom Tagesspiegel war hingerissen: "Wo er verdeutlichen will, wählt er eine drastische Hell- Dunkel-Dramaturgie. Aber er lässt der Musik in den bukolischen Passagen auch Raum zum Fließen ... Mit atemberaubender Intensität gestaltet Harnoncourt die Details, ohne Hast, bis der Schlussakkord schmerzvoll schön verglüht wie das Abendsonnenlicht im August." Auch Jan Brachmann (FAZ) verfiel bei soviel unnahbarer, geheimnisvoller Schönheit in stimmungsvolle Weiheandacht: "Musizieren [ist] für ihn wohl ein Schnitzen von Unbegreiflichkeit, die uns packt." Die Zeit bespricht unterdessen eine neue, von Harnoncourt dirigierte Mozart-CD.

Taylor Swift hat kürzlich den Streamingdienst Spotify verlassen, mit der Begründung, sie verdiene dort mit ihrer Musik zu wenig Geld. Jetzt hat Spotify-Gründer und CEO Daniel Ek in seinem Weblog öffentlich gemacht, wie wenig Swift in diesem Jahr über Spotify eingenommen hat, meldet Heise: Sechs Millionen Dollar. Mehr dazu auch in der New York Times.

Weitere Artikel: Im taz-Gespräch mit Dirk Schneider gesteht Thurston Moore, einst bei Sonic Youth, jetzt mit einem neuen Album solo unterwegs, dass es wohl sein Schicksal sei, dass seine Musik stets nach der seiner alten Band klinge. Für Secret Thirteen unterhält sich Paulius Ilevicius mit der angesagten Noise-Musikerin Pharmakon. In der FR schwärmt Christian Schlüter von der Spieltechnik des Tappings, mit denen Virtuosen des Gitarrespiels wie etwa Eddie van Halen oder Vittorio Camardese Notenfolgen in rasendem Tempo spielen. Und in der FAZ dreht Wolfgang Schneider allen Unkenrufer, die das neue letzte Album "The Endless River" von Pink Floyd im Genre der plätschernden Fahrstuhlmusik-Musik verorten, eine lange Nase: "Pink Floyd gehören zu den wenigen Bands, die die Menschen auch noch in hundert Jahren hören werden."
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Film

Danny Gilroys böse Psychothriller-Mediensatire "Nightcrawler" über einen Verlierer, der sich mit spekulativen und schließlich manipulierten Videoaufnahmen von Straßenunfällen ein goldenes Näschen verliert, begeistert die Filmkritik - nicht zuletzt wegen Jake Gyllenhaal, vor dessen Leistungen alle den Hut ziehen. Für FAZ-Filmkritiker Bert Rebhandl gelingt Gilroy hier ein ganz exzellenter Nachtfilm über Los Angeles, der sich gut an Michael Manns Neo-Noir-Tradition anlehnt: Gilroy gelingt "zugleich ein konventioneller Thriller und eine faszinierende Studie über die porösen Grenzen zwischen Innenleben und Außenwelt ... [Gyllenhalls Bloom] ist eine Kreatur der distanzlosen Medienwelt, und es ist einmal mehr das Kino, das sich hier als Instanz eines zugleich faszinierten wie reflektierten Blicks auf die Systeme erweist, in die hinein es sich selbst aufzulösen droht."

In der SZ bejubelt Tobias Kniebe Gyllenhaals "unvergessliche Performance": "Er wirkt beinah wie ein Geist aus Stummfilmzeiten, bis hinein in die Körpersprache, man denkt an einen Wolf. Oder an eine Hyäne."

Weitere Artikel: Für ZeitOnline spricht Wenke Husmann mit dem Regisseur Xavier Dolan, dessen (von Christina Bylow in der Berliner Zeitung als "intensivster Film des Jahres" bezeichnete) neuer Film "Mommy" diese Woche ins Kino kommt. Für epdFilm hat Sascha Westphal ein Porträt über Dolan geschrieben, eine weitere Besprechung des Films gibt es auf critic.de. Jan Küveler schreibt in der Welt einen genervte Brief an Regisseur Christopher Nolan: ""Interstellar" ist komplett unwitzig, dafür selbstverliebt und bedeutungsschwanger."

Besprochen werden die Fortsetzung des Komödienklassikers "Dumm und Dümmer" mit Jim Carrey und Jeff Daniels ("heute [wirkt] eher angestrengt, was einst mühelos erschien", winkt Barbara Schweizerhof in der taz ab), Hélène Cattets und Bruno Forzanis kunstvoll avantgardistischer Experimentalfilm-Thriller "The Strange Colour of your Body"s Tears" (critic.de) und der Fußball-Dokumentarfilm "Die Mannschaft" (Berliner Zeitung).
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Design


Elodie Palasse-Leroux stellt in slate.fr die beiden beiden rebellischen Designerinnen Hoda Baroudi und Maria Hibri aus Beirut vor, die mit ihren Möbelbezügen (inzwischen selbst in Mailand angesagt!) unter der Marke Bokja zuweilen politische Statements verbinden: "Im Jahr 2012 war die Beiruter Luft von giftigem Rauch brennender Reifen verpestet, deren Anblick als Protest gedacht war. Die Antwort von Borkja hat von sich reden machen und die libanesischen Twitter-Freunde erregt: Sie steckten Reifen in knallbunte Stoffe und errichten farbige Barrkaden in der Stadt mit dem Slogan: "We are tyred.""
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Stichwörter: Beirut, Bokja, Designerinnen