Im Kino

Dachzimmerfantasie

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Fabian Tietke
10.11.2021. Ein Mädel aus der Provinz kommt ins unwirtliche London und erträumt sich ein glamouröses Leben als ihre eigene Doppelgängerin in den Swinging Sixties. So weit macht Edgar Wright in seinem Film "Last Night in Soho" alles richtig. Dann setzt der Horror ein. Laura Reichwald dokumentiert in "Stollen" Traditionen und Gesellschaft im Erzgebirge an Weihnachten. 


Blau, weiß, rot, blau, weiß, rot - in ewiger Rotation illuminieren die Farben der französischen Nationalflagge die Dachzimmerwohnung, in die es die Modedesignstudentin Ellie Turner (Thomasin McKenzie) verschlagen hat. Die junge Frau ist eben erst aus einem kleinen Provinznest ins Herz der Großstadt gezogen, in den legendären Londoner Stadtteil Soho. Gerade noch tanzte sie im selbstgeschneiderten Ballkleid durch ihr Kinderzimmer, bereit, die Fashion-Welt im Sturm zu erobern, im nächsten Moment flüchtet sie auf ihrer ersten Collegeparty, den Tränen nah, auf die Toilette, wo sie mitanhören muss, wie ihre Komilitoninnen beim Koksen über sie herziehen: die Neue, was für ein Landei, null Style, und eingebildet außerdem, wie sie uns gleich beim ersten Gespräch den Selbstmord ihrer Mutter unter die Nase gerieben hat.

So hat sie sich das alles nicht vorgestellt, und eben deshalb flüchtet sie aus dem Studentenwohnheim in die Dachzimmerwohnung, vermietet von einer leicht schrulligen alten Dame (Diana Rigg) und eingerichtet im Stil jener Epoche, deren Mode und Musik Ellie verfallen ist: der 1960er, der Swinging Sixties, die in der populären Imagination eng verbunden sind mit ihrer neuen Heimat. Nur dass Ellie sich, wenn sie sich durch die Straßen des Soho der Gegenwart schlägt, umgeben von jungen und stylischen aber auch dauergestressten und ziemlich biestigen Menschen, diesem popkulturellen Sehnsuchtsort unendlich fern fühlt; allein auf ihrem Zimmer hingegen, gebadet im künstlichen Licht der Leuchtreklame eines französischen Bistros und beschallt von einem Best-of-Sixties-Soundtrack, scheint sie direkt Kontakt aufnehmen zu können mit der lockenden Vergangenheit.

Die Bettdecke, unter der Ellie sich in ihrem schummrig-klaustrophobischen Retronest verkriecht, wird zum immer tiefer gähnenden Schlund, und wenn sie sich wieder unter dem Laken hervortraut, ist sie plötzlich eine Andere - ein schöner Spezialeffekt, der den Film mit einem Schlag in eine neue, antirealistische Ordnung überführt. Ellie heißt plötzlich nicht mehr Ellie, sondern Sandy, ihr Haar ist nicht mehr brünett und flach, sondern blond und voluminös, außerdem ist sie nicht mehr verschüchtert, sondern voller Energie; und vor allem sind die Sixties plötzlich überall, lebendiger Alltag, und nicht nur eine trotzige, traurige Gegenwelt, die sich ein Provinzmädchen in ihrer Studentinnenbude eingerichtet hat.



Diese erste Transfiguration ist ziemlich toll. Sandy ist für Ellie nicht nur ein anderes Ich, sondern tatsächlich ein anderer, neuer Körper, nämlich der von Anya Taylor-Joy; ein echter, mondäner Filmstarkörper, der sich vor der Kamera instinktiv in Szene zu setzen versteht. Der "alte" (aber gleichzeitig jüngere, weil gegenwärtige) Körper, unbeholfen und limitiert im Vergleich, verschwindet nicht ganz aus dem Bild, sondern bleibt gegenwärtig als Sandys Spiegelbild. Wie ein unangemessenes, fast peinliches Echo begleitet Ellies Antlitz Sandy auf ihrem Weg durch das Soho der 1960er. Auf einem Weg, der zunächst nach einem regelrechten Triumphzug ausschaut. Auch Sandy ist neu in der Stadt, anders als Ellie versteht sie sich jedoch darauf, das Beste aus der Situation zu machen. Sängerin will sie werden, und kaum hat sie den ersten Nachtclub betreten, hat sie bereits einen Agenten, einen Job in Aussicht und, wer weiß, vielleicht obendrein einen Liebhaber.

Es bleibt erst einmal bei einem vielversprechenden Kuss. Ellie öffnet die Augen, sie liegt allein im Bett, draußen vor dem Fenster befindet sich immer noch das falsche, das kalte 21. Jahrhundert. Alles bloß ein Traum. Nur, was hat es mit dieser Verfärbung an ihrem Hals auf sich? Ein Knutschfleck ohne Knutschen: Das ist das erste Anzeichen dafür, dass wir uns in einem Geisterfilm befinden. Und leider, leider, geht ab diesem Zeitpunkt nicht mehr viel zusammen in diesem so schön gestarteten Film. Oder vielleicht geht genau umgekehrt viel zu viel zusammen, greifen Vergangenheit und Gegenwart zu fugenlos ineinander.

Wie kaum anders zu erwarten, kehren Ellies Träume wieder, Nacht für Nacht und bald nicht nur nachts. Sandys Streifzüge durch Soho nehmen außerdem schnell eine düstere Wendung und alsbald sieht sich Ellie von gesichtslosen Männern heimgesucht, die ihr, beziehungsweise in Wahrheit Sandy, an die Wäsche wollen. "Last Night in Soho" wird zum Horrorfilm, oder vielleicht eher zum Schaulaufen von Horrorfilmzitaten. Regisseur Edgar Wright, inzwischen fast schon ein Altmeister des popkulturellen Remixkinos, versteht sich darauf, die Schockeffekte eines Dario Argento oder Roman Polanski einigermaßen effektiv nachzustellen. Die schrillen Farben und phallischen Messer des Giallo, der aus den Fugen geratene perzeptive Apparat des Psychothrillers, die jump scares des Geister- und Spiegelhorrors sowieso. Nur dass das alles nie, wie bei den Vorbildern, in genuinen Terrorbildern resultiert.



"Last Night in Soho" ist entgrenztes Kino mit Sicherheitsnetz. Die Heldinnen bei Argento, Polanski oder auch Brian de Palma werden zu Komplizinnen ihrer eigenen Korruption. Ellie hingegen kopiert Sandy nach den ersten Träumen zwar äußerlich, in Frisur, Haarfarbe und Kleidungsstil, innerlich jedoch distanziert sich von den psychosexuellen Untiefen, in die sie von ihrer Sixties-Doppelgängerin geführt wird, wo sie nur kann. Die beiden Erzählebenen entwerten sich gegenseitig: Sandys Leid wird zum eindimensional abjekten Anderen einer Normie-Existenz, die schon fast, aber komplett unfreiwillig, selbstparodistische Züge trägt. So findet sich etwa auch für Ellie bald ein potentieller Liebhaber, allerdings ein superbraver, ultraöder. Wo Sandy von einem schönen Mann zu Prostitution und Messermord verführt wird, trinkt Ellies Boyfriend ihr höchstens einmal eine Dose Cola weg.

Die Errettungsfantasie, auf die der Film hinausläuft, ist in ihrer Naivität fast schon wieder sympathisch: Vielleicht ist es doch möglich, das scheint "Last Night in Soho" weniger ernsthaft zu glauben als sich selbst einzureden, von der Vergangenheit nur die schönen, heimeligen Seiten zu nehmen, den lässigen Vintagestil und den warmen, melodiösen Vinylpop, und alles andere, die bösen Geister historischen Unrechts, sozial ungebändigter Begierde und individueller Traumata, in einem rein fantasmatischen, erstunkenen und erlogenen Feuer in Rauch aufgehen zu lassen. Im Wunsch nach einem solchen Schlussstrich steckt ein Stück Ehrlichkeit und vor allem Bescheidenheit: Es ist schlichtweg nicht die Aufgabe des Kinos, die Welt in einen besseren, gerechteren Ort zu verwandeln, beziehungsweise, wie in den feministischen und antirassistischen woke-Filmen der Gegenwart, reale Probleme einer doch bloß symbolischen Lösung zuzuführen. Als Dachzimmerfantasie versponnener junger Frauen, das hat dieser insgesamt eher misslungene Film schon richtig erkannt, macht es zumeist eine bessere Figur.

Lukas Foerster

Last Night in Soho - GB 2021 - Regie: Edgar Wright - Darsteller: Thomasin McKenzie, Anya Taylor-Joy, Matt Smith, Diana Rigg, Aime Cassettari, Rita Tushingham, Michael Ajao - Laufzeit: 116 Minuten

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Gut sieht er aus, fluffig, schöne Poren, ein paar Rosinen zu wenig, aber man will ja nicht streiten. Schwer zu glauben, dass der Anschnitt des Weihnachtsstollen wirklich viel mit Bergbau zu tun hat und doch behauptet genau das die Legende - hell und duftend der eine, dunkel und ungemütlich der andere. In der Gegenwart existiert ohnehin nur noch der eine, der mit den Rosinen, der andere, aus dem im Erzgebirge bis vor 30 Jahren noch Uran gefördert wurde, den gibt es nur noch als Relikt. Ein Relikt, das die Landschaft und Bräuche geprägt hat. Wobei es nicht nur der Uranabbau ist, der geprägt hat, sondern der Bergbau insgesamt, auch der lange vor der Uranförderung.

Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde im Erzgebirge Silber abgebaut. Dann wurde die Goldwährung eingeführt und der Silberabbau unrentabel. In den Weltkriegen wurde der Bergbau im Erzgebirge jeweils reanimiert. In der DDR wurde der Uranabbau der SDAG Wismut (Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut) für den Export in die Sowjetunion zu einem ebenso gesundheitsschädlichen wie lukrativen Geschäft. Die Zeiten der Wismut sind das Früher, das sich durch die Erzählungen nahezu aller Menschen von Laura Reichwalds Dokumentarfilm "Stollen" zieht.

Reichwald zeigt in ihrem Abschlussfilm an der Filmuniversität Babelsberg die Bewohner des südsächsischen Mittelgebirges bei den Vorbereitungen auf die Weihnachtszeit. So schrubben in klassischer Rollenverteilung die Männer im Städtchen Pöhla eine Lore des Besucherstollens. Die Mütter und Großmütter bereiten den Stollenteig vor, lassen den Teig in der Bäckerei kneten und tragen den fertigen Stollen wieder zurück nach Hause. Die Lore fährt Bier für die vorweihnachtlichen Besuchermassen in den Stollen, die junge Gemeinde probt ein Christspiel. Die Traditionen und insbesondere die der Weihnachtszeit sind das, was nach dem Wegfall der Arbeitsplätze geblieben ist.

"Den Städten und Dörfern ist eines gemein: sie haben eine große Vergangenheit, eine kleine Gegenwart und fast keine Zukunft." Anfang der 1960er Jahre reisten Hans Rolf Strobel und Heinz Tichawsky durch das bayerische Altmühltal. "Notizen aus dem Altmühltal" zeigt eine Landschaft im Wandel. "Landflucht", "Fortschritt": Entlang von Schlagworten arbeitet sich der Offkommentar durch die Strukturprobleme. Reichwald hingegen setzt in ihrem Film ganz auf das, was die Menschen vor der Kamera erzählen. Das zahlt sich vor allem in den Szenen alltäglicher Verrichtungen aus. Die Beobachtungen des Stollenbackens, der Verrichtungen im Besucherstollen, der Kirchengemeinde sind präzise und stellen zugleich Empathie her.



Weniger gut gelingt das Redenlassen bei der Auseinandersetzung mit den problematischeren Teilen der Traditionspflege. "Er singt noch ein Liedchen von 'deutsch und von frei', das kann doch nur ein echter Erzgebirgler sein". Was klingt wie ein Gedicht der völkischen Romantik des 19. Jahrhunderts ist von heute und wird von seinem Verfasser für vollkommen normal gehalten. Manchmal hat Reichwald dennoch Glück: Eine bierselige Diskussion nach dem Singen der Erzgebirgshymne des Volkslieddichters Anton Günthers, aus der die Zeile mit dem "deutsch und frei" stammt, verläuft immerhin nicht ohne Kritik.

Während zwei der Stammtischler glauben, das Lied sei unproblematisch, weil es 1908 entstand und "da gab es noch keinen Adolf, keinen Nationalsozialismus, gar nichts", widerspricht ein dritter. Die beiden Apologeten des Lieds glauben, es reiche, den Faschos, die das Lied auf den Marktplätzen der Umgebung gröhlen, zu raten, sich "mit Geschichte zu befassen". Wer sich mit Anton Günther befasst, stellt fest, dass dessen oft kolportierte Abgrenzung zum Nationalsozialismus nicht so eindeutig ist, wie gern behauptet wird. Wer sich mit jüdischem Leben im Erzgebirge befasst, stellt fest, dass dieses nach der kurzen Blüte in den 1910er Jahren schon in der Weltwirtschaftskrise stark schrumpfte. Völkische Deutsche waren und sind über alle Zeiten hinweg gut darin, anderen das Leben zur Hölle zu machen.

"Stollen" zeigt die Grenzen des Redenlassens. Die Abwendung von den strukturellen Großerzählungen, die bei Strobel/Tichawsky die Form des Offkommentars angenommen hatten, führt in aktuellen Dokumentarfilmen wie "Stollen" in die Abwesenheit von allem, was nicht vor der Kamera gesagt wird. Der Kontext des Gezeigten bleibt unklar, die PLausibilität dessen, was gesagt wird, ist nicht zu beurteilen. Auf der anderen Seite hat ein Film wie Ute Adamczewskis "Zustand und Gelände" erst unlängst bewiesen, dass ein Offkommentar nicht notwendigerweise die Rückkehr zu Großerzählungen bedeuten muss.

Dass diese formale Schwäche "Stollen" letztlich nicht schadet, verdankt der Film neben den empathischen Alltagsbeobachtungen den klugen Gesprächspartnern. So zerlegt eine Familie vom Sofa aus die Errichtung eines neuen Stollen, um Wolfram zu gewinnen. Die Umweltfolgen seien angesichts der lockenden Arbeitsplätze einfach ignoriert worden. Beim Pflanzen einer Eberesche sinniert ein Mann darüber nach, was möglich gewesen wäre, wenn nur ein Bruchteil der Fördergelder für die Renaturierung in die Infrastruktur des Städtchens geflossen wäre. Die renaturierte Landschaft dient demnächst zum Abkippen von Haldenmasse des neuen Bergbaus.

Reichwalds Film zeigt einen Landstrich und seine Bewohner in Nahaufnahme. Durch den vorweihnachtlichen Alltag hindurch macht "Stollen" den fortwirkenden Verlust sichtbar. Die weggefallenen Arbeitsplätze des Uranbergbaus sind auch 30 Jahre später noch als biografische und gesellschaftliche Zäsur erkennbar. Zugleich führt der Film zwei unterschiedliche Umgangsweisen mit Tradition vor Augen: als privates Ritual wie beim Stollenbacken und als öffentliche, kollektive Identitätsstiftung. Indem der Film beide Umgangsweisen mit den vorweihnachtlichen Traditionen des Erzgebirges beobachtet, zeigt er auch, wie unterschiedlich jeweils Gemeinschaft hergestellt wird, im Falle der privaten Rituale durch Einschluss, im Falle der kollektiven Identität durch Ausschluss. Laura Reichwald macht durch präzise Beobachtung aus "Stollen" eine filmische Studie, wie Traditionen im Alltag Gesellschaft hervorbringen.

Fabian Tietke

Stollen - Deutschland 2021 - Regie: Laura Reichwald - Laufzeit: 85 Minuten. Die Premiere von "Stollen" findet am 11.11. in den Leipziger Passagenkinos statt. Am 25.11. folgt ein regulärer Kinostart.