Magazinrundschau

Laut und unverschämt

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
23.08.2022. En attendant Nadeau geht mit Pasolini und Dacia Maraini baden. In The Atlantic erzählt Bushra Seddique von den herzzerschneidenden Entscheidungen, die sie bei ihrer Flucht aus Afghanistan treffen musste. In Eurozine kann der ukrainische Autor Andrei Krasniaschik nur im Telegram-Stil von seiner Flucht erzählen. Das Comic Journals gibt sich mit dem Anime "Sazae-san" der Natsukashisa hin.

En attendant Nadeau (Frankreich), 16.08.2022

Maraini und Pasolini, Cover des erwähnten Bandes.
Hervé Joubert-Laurencin setzt die Lektüre einiger französischer und italienischer Neuerscheinungen zu Pasolini fort, der in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden wäre. Sehr bemerkenswert scheint ihm unter anderem Anne-Violaine Houckes "Duplografie" "L'Antiquité n'a jamais existé" über Fellini und Pasolini, die nachweise, dass beide sich aus einem instinktiven Antifaschismus heraus erfanden, und zwar, indem sie, gelehrt, wie beide waren, einen neuen, antiheroischen und -akademischen Bezug zur Antike in Szene setzten. Liebevoll schreibt Joubert-Laurencin auch über den kleinen Band "Caro Pier Paolo" der Autorin Dacia Maraini, die, zusammen mit ihrem Lebensgefährten Alberto Moravia, eng mit Pasolini befreundet war. Sie beschreibt in kurzen Briefen an den längst toten Pasolini unter anderem den sehr kurzen Moment "einer Welle, die ihre beiden Körper beim Schwimmen im Meer gegeneinander schleudert, und Pier Paolos instinktives Zurückzucken vor dem weiblichen Körper, das sie analysiert und in die allgemeinste Angst einordnet, die den Dichter ergreifen konnte, 'heftig und absolut und dich wie ein Schwert durchbohrend'. Lange Zeit verbrachten sie im tiefen Afrika, in das sie zum Jahresende immer wieder reisten. Vor allem jene Reise, bei der sich Maria Callas, die neue Freundin Pier Paolos, dem abenteuerlustigen Dreigepann anschloss. Sehr präzise und nach meiner Meinung unbekannt ist die Episode über die schrecklich in den Dichter verliebte Diva, die so frustriert war, dass sie ihn nicht überzeugen konnte, sie zu heiraten und mit ihr ein neues Leben zu beginnen." Hier Teil 1 und Teil 2 von Joubert-Laurencins Artikel, der ja vielleicht auch deutsche Verleger inspirieren könnte.

The Atlantic (USA), 01.09.2022

Die junge Journalistin Bushra Seddique gehörte zu den wenigen, die vor einem Jahr Afghanistan verlassen konnten, als Regierung, Armee und westliche Truppen das Land Hals über Kopf den Taliban in die Hände fallen ließen. Von den dramatische Geschehnissen erzählt sie mit großer Eloquenz. So geht's los: "Die Nachricht kam kurz vor 17 Uhr. Es war der 26. August 2021. Elf Tage zuvor hatten die Taliban die afghanische Regierung gestürzt. Meine Freundin - eine deutsche Autorin - hatte versucht, meiner Familie dabei zu helfen, das Land zu verlassen. Jetzt sagte sie, sie habe mich und meine jüngeren Schwestern auf die Liste für einen Flug nach Frankfurt bekommen, eine Evakuierung in letzter Minute, ausgehandelt von der deutschen Regierung und einer NGO. 'Was ist mit meiner Mutter?', fragte ich. Einen Momemt lang antwortete sie nicht. 'Ich konnte sie nicht in den Flug bekommen, schrieb sie. Bitte, bedrängte ich sie: 'Meine Brüder sind schon weg und mein Vater lebt mit seiner zweiten Frau. Sie hat nur noch uns, niemanden sonst, um Himmels willen tu etwas.' Aber sie konnte nichts tun. 'Das sind die Namen, die sie mir angeboten haben, schrieb sie. 'Ich weiß, es ist eine schreckliche Entscheidung.' Wir hätten zwanzig Minuten, um zu entscheiden, ob wir gehen oder bleiben wollen."
Archiv: The Atlantic
Stichwörter: Aghanistan

Eurozine (Österreich), 22.08.2022

Der ukrainische Schriftsteller Andrei Krasniaschik ist im März mit seiner Familie aus dem umkämpften Charkiw ins westukrainische Poltawa geflohen, wie er in momenthaften Splittern festhält: "Die Vertriebenen aus dem Donbass von 2014: Laut und unverschämt. Jetzt bin ich einer von ihnen, laut und unverschämt. Außer dass ich still bin. - Andere erkennen uns. Sie ermutigen uns. Sie fühlen mit und trösten uns. Doch in Wahrheit sind wir davongelaufen. Vor dem Krieg. - Ein Freiwilliger aus Lwiw verteilt Medikamente: 'Nicht den Kopf hängen lassen. Alles wird gut.' Er ist auf dem Weg nach Charkiw. In den Krieg." Über das Fragmentarische seiner Eindrücke wundert er sich nicht: "Ich weiß, woher dieser Stil kommt. Es ist der Stil der Nachrichtenkanäle auf Telegram. Das ist alles, was ich seit Beginn des Krieges gelesen habe. Fakten und Zustände. Wir werden später analysieren und reflektieren, nach dem Sieg. Jetzt analysieren und planen andere. Wir können das alles nur empfinden und durchstehen."
Archiv: Eurozine

Elet es Irodalom (Ungarn), 19.08.2022

Der 83-jährige Kameramann und Regisseur Elemér Ragályi erzählt im Interview mit Claudia Hegedűs, warum er das Filmemachen aufgegeben hat und heute schreibt: "Das Entstehen meines Buchs hat viel damit zu tun, dass mir die Arbeit als Kameramann physisch sehr beschwerlich wurde. Dennoch hätte ich unabhängig davon weitergemacht, wenn die ungarische Kultur und die ungarische Filmproduktion in nicht so eine schwarzes Loch gefallen wäre, das mich fast selbstverständlich exkludierte. Summa summarum nach dem Dreh von "1945" (ein Film von Ferenc Török aus dem Jahre 2017 - Anm. d. Red. ) hörte ich auf, Filme zu machen. Es ist aber nicht so einfach, nach sechzig Jahren die künstlerische Arbeit einzustellen ... Über die Freude der Mitteilung hinaus, war es für mich besonders wichtig, wenn auch im Nachhinein, dass ich meinen Platz in der Welt irgendwie selbst definieren konnte."

The Comics Journal (USA), 18.08.2022

Was den USA die Simpsons, ist Japan der Manga "Sazae-san" und noch mehr dessen Verfilmung in Form einer Serie, die unglaublicherweise seit 1969 ununterbrochen neue Folgen hervorbringt und ungebrochen erfolgreich ist, erklärt uns Natsume Fusanosuke (und ein bisschen auch dessen Übersetzer Jon Holt und Teppei Fukuda in einer vorangestellten Notiz). Doch während die Simpsons mit ihrem grellen Humor den USA einen satirischen Zerrspiegel vorhalten, zelebriert "Sazae-san" die Gewöhnlichkeit des Alltag von drei unter einem Dach lebenden Generationen einer japanischen Familie und deren kleine Herausforderungen. Das triggert Nostalgie - allerdings die spezifisch japanische Form, "Natsukashisa", die im Gegensatz zur bitter-melancholischen Sehnsucht der Nostalgie im Westen eher eine warme, anheimelnde Erinnerung beschreibt. Sieben Menschen umfasst diese Familie - für heutige Verhältnisse eine Großfamilie, seinerzeit aber Standard, erklärt Fusanosuke: "Als 'Saeza-san' serialisiert wurde, stellte der Künstler das Leben so dar, wie es seinerzeit Moral und üblichen Gepflogenheiten entsprach. Aber da dieser Anime seit den Siebzigern läuft, hat sich seine 'Gegenwart' still und heimlich zu 'Natsukashisa' gewandelt: das schwarze Telefon mit der Wählscheibe, das die Familie nutzt; das Zimmer mit den Tatami-Matten; die Gartenveranda; dass Namihei stets einen Kimono trägt. Die Liste ist endlos. ... Diese 'Natsukashisa' genannte Sache ist die Neigung jeder Generation, sich jener Gefühle zu erinnern, die sie gegenüber der Gesellschaft zu der Zeit empfunden hat, als sie diese durchlebt hat. Und dennoch können Leute dieses 'Natsukashisa' selbst dann noch auskosten, wenn sie diese Zeit nie erlebt haben. Darin besteht der Reiz, der diese und ähnliche Arbeiten so ungeheuer unterhaltsam macht und es ihnen gestattet, jede Generationkohorte zu transzendieren. Gewiss, es gibt da diese Art eines stabilen, idealisierten Bildes von Japans Vergangenheit. Auch deshalb können diese Arbeiten für Leser und Zuschauer immer anheimelnd sein: Man hat das unverbrüchliche Gefühl, dass man stets dorthin zurückkehren kann. Betrachtet man es auf diese Weise, dann durchlief 'Saeza-san', so wie es sich von Manga zu Anime wandelte, auch einen Wandel von einer Arbeit, die sich noch ganz nach 'zeitgenössischer Gesellschaft' anfühlte, hin zu einer Anime-Form, deren Publikum sich zärtlich an 'irgendeine vage Vergangenheit' erinnert." Hier eine Folge aus dem laufenden Jahrgang - sie wirkt in ihrem Stil wirklich verblüffend so, als seien die Sechziger nie vergangen:

Stichwörter: Japan, Anime, Manga, Comic, Kimono