Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.03.2002. In der SZ begrüßt Michel Serres den Computer als wichtigstes Ereignis seit der Erfindung der Schrift und des Buchdrucks. Die taz macht uns mit dem neuen Genre des Bastard-Pops bekannt, während sich die NZZ mit Sampling-Techniken am avantgardistischen Rand der Popmusik befasst. Die FR verkündet das Todesurteil für den deutschen Föderalismus. In der FAZ meditiert Silvia Bovenschen über die Abschaffung der Frau in der Kindszeugung.

SZ, 28.03.2002

In einem langen Essay denkt der Philosoph Michel Serres (mehr hier und hier) über die Auswirkungen der Computertechnologie auf die menschliche Evolution nach. Der Computer markiert für ihn die dritte große Umwälzung in der Geschichte der Menschheit - nach der Erfindung der Schrift und der Erfindung des Buchdrucks: "Ich habe lange gebraucht, bis ich verstand, was Rabelais mit seinem bekannten Ausspruch meinte, über den ich als Schüler einen Aufsatz schreiben musste und der besagt, dass ein gebildeter Kopf besser sei als ein voller. Bevor man Bücher in seine Bibliothek stellen konnte, mussten Montaignes gelehrte Vorfahren die Ilias und Plutarch, die Aeneis und Tacitus auswendig lernen, wenn sie darüber nachdenken wollten. Wenn der Autor der Essais sie zitieren will, braucht er sich nur noch daran zu erinnern, auf welchem Regal sie stehen, und schon kann er darin nachsehen. Welch eine Ökonomie!" Unbedingt lesen!

Gustav Seibt albträumt, was wird, wenn auf den Trümmern der Kirch-Holding ein unternehmerisches Engagement des italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi wahr werden sollte: "Dann wird Italienisch zur Pflichtsprache für deutsche Politiker!" und spricht angesichts des Kirch-Desasters eine deutliche Warnung aus: "Es gibt im publizistischen Geschäft eine heilige Pflicht zum seriösen Wirtschaften. Was soll geschehen, wenn etwa bisher unabhängige deutsche Qualitätszeitungen sich durch gedankenloses Expandieren in immer neue Zeitgeistprodukte der Pleite nähern? Warum sollte Berlusconis Verlag Mondadori nicht auch Hunger nach fremdsprachigen Printmedien entwickeln?" Wen meint er bloß?

Der pakistanische Schriftsteller Tariq Ali beargwöhnt die plötzliche Loyalität vieler ehemaliger Kritiker des amerikanischen Dominanzstrebens mit den USA nach dem 11. September: "Damit sind nicht Scharfmacher wie die Schriftsteller Salman Rushdie oder Martin Amis gemeint .... Sie können ihre Meinung auch wieder ändern..... Besorgniserregender ist ... die Gruppe der Leute, die sich einst engagiert für die linke Sache eingesetzt haben. Für manche von ihnen war es ein kurzer Marsch: aus der Marginalität direkt in die Vorzimmer des State Department. Diese Leute treten jetzt mit einer besonders forschen Selbstsicherheit auf. Nachdem sie ihre polemischen Talente bei den Linken geschult haben, kehren sie sie jetzt gegen ihre alten Freunde. Sie laufen Gefahr, zu 'nützlichen Idioten' des Imperiums zu werden." 

Weitere Artikel: Karfreitag in Zeiten der Korruption - von Herbert Riehl-Heyse erfahren wir, was man für 30 Silberlinge kaufen kann. Alex Rühle berichtet vom "Gipfeltreffen der italienischen Krimiliteratur" beim Pariser Salon du Livre. Alexander Menden schreibt über Querelen in der Royal Shakespeare Company, und Wolfgang Kemp hat über Jean-Leon Geromes Karfreitags-Bild "Consummatum est. Jerusalem" von 1868 nachgedacht.

Besprochen werden: Lasse Hallströms Proulx-Verfilmung "Schiffsmeldungen", Shinji Aoyamas Film "Eureka" ("ein Universum aus Schönheit und Schrecken, verstörendem Zauber, diskreter Zärtlichkeit, kompositorischer Strenge"), Pedro Almodovars neuer Film "Hable con ella" ("eine romantische Parabel auf Freundschaft, Einsamkeit und Tod"), das Grazer Filmfest "Diagonale" ("Es gibt wenig Festivals, die so anregen, über die Phänomenologie von Film nachzudenken"), zwei Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst: "Stories" im Münchener Haus der Kunst und "Ökonomien der Zeit" im Kölner Museum Ludwig, Robert Wilsons Doktor Caligari am Deutschen Theater in Berlin ("possierlich und pläsierlich") und Claudio Abbados letzte Salzburger Osterfestspiele als Künstlerischer Leiter.

TAZ, 28.03.2002

Tilman Baumgärtel macht den gemeinen Feuilletonleser mit einem neuen Subgenre der elektronischen Musik bekannt, das sich "Bastard Pop" oder "Bootlegs" nennt: "Oft ist auch von 'Do-it-yourself-Remixen' die Rede. Doch wie immer man es nennen mag: 'Booties' sind Songs, die aus Songs bestehen. Meist sind diese Tracks aus zwei, maximal drei anderen Songs zusammengesetzt - und je größer die Fallhöhe zwischen den verschiedenen Bestandteilen, umso besser. Dann trifft sich 'Bring the noise' von der Agit-Rap-Formation Public Enemy mit Dexys Midnight Runners 'Come on Eileen' zu einem postmodernen Soundclash. 'Die besten Bootlegs sind wie Autounfälle', schreibt der englische Musikkritiker Pete Baran. 'Meist abscheulich, aber auch von einer seltsamen Faszination.'"

Brigitte Werneburg berichtet von einer Pressekonferenz, auf der kleine, innovative Kunsteinrichtungen Berlins gegen ihr Weggespartwerden Position bezogen. Beispielsweise das Podewil, "eine der innovativsten deutschen Produktionsstätten im Bereich von Musik, Tanz, Theater, Performance sowie Medienkunst", dem die Schließung droht. Stattdessen soll der Museumspädagogische Dienst das Gebäude beziehen: "Denn Berlin ist eine sozialistische Stadt und liebt als solche die Apparate und die Pädagogik; keinesfalls aber künstlerische Testgänge in unerprobtem Gebiet, gar einfallsreiche Korrektive zur Repräsentationskultur, die der Stadt wert und teuer ist. Den 'neuen Bitterfelder Weg in den Boulevard' nannte Christoph Tannert, künstlerischer Leiter des Künstlerhauses Bethanien, die Flierlschen Sparansätze."

Besprochen werden: Robert Wilsons Doktor Caligari am Deutschen Theater in Berlin und Wang Xiaoshuais Spielfilm "Beijing Bicycle" und die Rückkehr des Runzelwesens E.T.. Auf den Internetseiten der taz berichtet Thomas Mrazek, dass das Literaturarchiv Gutenberg.de keinen Platz mehr bei AOL hat und deshalb - hoffentlich nur vorübergehend - nicht mehr im Netz steht.

Schließlich Tom.

NZZ, 28.03.2002

Stefan Weidner porträtiert die palästinensische Schriftstellerin Sahar Khalifa (mehr hier), deren jüngstes Buch "Das Erbe" - unter anderem ein Plädoyer für die Frauenrechte - im Unionsverlag erschien: "Sie verbindet ihr vehementes Plädoyer für den Widerstand gegen die israelische Besatzung mit einem ebenso hartnäckigen Kampf für eine Reform der eigenen Gesellschaft. Fundamentalistisches Gedankengut ist ihr fern, aber die Osloer Verträge lehnt sie als gescheitert ab."

Eine neue Generation von Sampling-Künstlern am avantgardistischen Rand der Popmusik stellt Holger In't Veld vor. Der Pianist Matthew Herbert gehört dazu, der das "fehlende Arbeitsethos" der meisten Samplingkünstler beklagt: "'Heute kann jeder Achtjährige Miles Davis samplen, einen schwachsinnigen Beat darunter legen und behaupten, das sei Jazz', schimpft er. In seiner Kritik ist der Bastler, der seine fragilen Sound-Texturen in erster Linie aus Alltagsgeräuschen - aus einem Biss in einen Apfel, aus dem Klappern von Besteck - generiert, mit den avancierteren unter den Heimproduzenten einig. Sampling-Künstler wie der Hip-Hop-affine Kalifornier DJ Shadow oder der Pariser Afrobeat-Dekonstruktivist Doctor L entwickeln ihr Collagen zwar aus vorgefundenem Material, verwenden dabei aber so viele Einzelteile und schneiden diese so klein, dass es einerseits unmöglich wird, die Teile bis zu den Originalen zurückzuverfolgen."

Besprochen werden neben einer Ballettpremiere in München, Becketts "Glücklichen Tagen" in Wien und Robert Wilsons "Caligari" in Berlin vor allem Bücher, darunter der Roman "Mutterland" des Serben David Albahari. (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

FR, 28.03.2002

Martina Meister bewertet den Ausstieg der Länder aus der Finanzierung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz als Todesurteil für den Kulturföderalismus."Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Länder sich ausgerechnet unter dem Vorwand, ihre Kulturhoheit zu stärken, aus der gemeinsamen Verantwortung zurückziehen, die nun mal die Kehrseite eben dieser Kulturhoheit und damit der föderalistischen Medaille ist. Sie haben dem Kulturzentralismus den Kampf angesagt. In Wirklichkeit aber rollen sie ihm den roten Teppich aus. Einerseits sprechen sie dem Bund kulturpolitische Kompetenz nur zu, solange sie sich nach Außen (auswärtige Kulturpolitik) oder gen Vergangenheit (Gedenkstätten) richtet. Andererseits nutzen sie jede Gelegenheit, gesamtstaatliche Verantwortung in der Kulturpolitik abzustoßen."

Weitere Artikel: Fritz von Klinggräff berichtet von der Tagung der Goethe-Gesellschaft in Weimar und Florian Malzacher erklärt, weshalb das Wegsparen des Berliner Podewil ein Desaster wäre. Besprochen werden: Britney Spears' Kinodebüt "Not a Girl", Horst Sczerbas Liebesfilm "Herz", die Ausstellung des brasilianischen Künstlers Helio Oiticica "Quasi-Cinemas" im Kölnischen Kunstverein und Bücher, darunter Angela Mores Studie über die psychoanalytische Theorie Janine Chasseguet-Smirgels (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 28.03.2002

Silvia Bovenschen (mehr hier) macht sich Gedanken über die Abschaffung der Frau in der sexuellen Reproduktion - sie sieht die künstliche Gebärmutter kommen und verleugnet nicht die Zwiespältigkeit ihrer Reaktion. Einerseits erinnert sie Anhänger der Natürlichkeit daran, was das im 19. Jahrhundert noch bedeutete: "Frauen, die Geburten in zweistelliger Zahl durchstanden; Kinder, von denen kaum die Hälfte die ersten Jahre überlebte; schnell alternde, verbrauchte Mütter; der frühe, erbärmliche Tod im Kindbett." Andererseits stellen sich ihr ganz andere Fragen, etwa die, "was von einer Frau zu halten sei, die sich zukünftig deshalb für ein Kind entscheidet, weil der externe Austragungsmodus ihrer Figur nicht schadet. Oder (eine wichtige Frage), in welcher leibseelischen Verfassung sich die Säuglinge befinden werden, wenn man sie, frei von allen pränatalen Mutterleiberfahrungen herangewachsen, aus dem außentemperierten Fruchtwasserbecken schöpfen wird."

Der Politologe Wilhelm Hennis hat eine klare Meinung zum Bundesrats-Eklat der letzten Woche: "Als der amtierende Bundesratspräsident am vergangenen Freitag bei der Abstimmung zum Zuwanderungsgesetz die Stimmen Brandenburgs als 'einheitlich' abgegebene Jastimmen wertete, hat er den ersten ganz öffentlich und vorsätzlich begangenen Verfassungsbruch der deutschen Öffentlichkeit beschert." Allerdings findet Hennis die Regel der einheitlichen Abstimmung der Bundesländer obsolet: "Der sogenannte 'Exekutiv-Föderalismus' - will heißen die Repräsentation der sechzehn Bundesländer durch ihre jeweiligen Koalitionsregierungen - ist der Sumpfboden, auf dem so ziemlich alle Missstände unseres verbrauchten politischen Systems gedeihen können."

Joseph Hanimann begleitet die Autoren des Internationalen Schriftstellerparlaments auf ihrer Reise durch Palästina. Man zeigt sich mehr als entsetzt über die Zustände: "Am Tag davor hatte der Nobelpreisträger Saramago in Ramallah mit seiner Behauptung, die Situation Palästinas komme der von Auschwitz nahe, Bestürzung ausgelöst. Dabei stand er noch am Anfang der Reise und hatte noch kaum etwas gesehen, nicht einmal die zerlöcherten Häuser der Vorstadt von Ramallah, durch welche die Einsatztruppen von Tsahal sich mit Nahgeschütz von Wand zu Wand ins Quartier eingefressen haben wie ein Wurm in die Frucht." Hoffen wir, dass die Gruppe nicht in einem Hotel von Netanja logierte.

Weitere Artikel: Wolfgang Schneider resümiert ein Kolloquium der Goethe-Gesellschaft über ihre Rolle in der Nazizeit. Dieter Bartetzko berichtet über kümmerliche Überreste des "Bürgerbarocks", die in der geschundenen Stadt Frankfurt gefunden wurden. Dirk Schümer schildert in seiner Venedig-Kolumne einen Streit, ob die Stadt eine Napoleonsfigur wieder erwerben soll, die 1811 bis 14 vor dem Dogenpalast stand. Verena Lueken meldet, dass sich die Besucherzahlen der New Yorker Museen und Musicaltheater wieder normalisiert haben. Stephan Sahm liest wissenschaftliche Zeitschriften, die sich mit dem ethischen Thema des selbstbestimmten Sterbens auseinandersetzen (und dabei zuvörderst das England Journal of Medicine). Martin Lhotzky hat einer Wiener Tagung über "Ephemeres Erinnern" (das heißt die Proustsche Madeleine-Erfahrung) zugehört.

Auf der Medienseite fragt Dietmar Polaczek nach den Interessen Silvio Berlusconis am Kirch-Imperium, und Gina Thomas stellt sich die gleichen Fragen bezüglich Rupert Murdochs. Jann Ohlendorf macht überdies auf eine kleine Stiftung aufmerksam, die Kirch vor Jahren gründete und die womöglich nun zum Auffangen der bescheidenen Überreste seines Reichs dienen könnte.

Auf der Kinoseite befasst sich Eva Menasse anlässlich der Grazer "Diagonale" mit der Lage des österreichischen Kinos. Und Stefanie Peter weist auf den erfolgreichen polnischen Film "Hallo, Tereska" von Robert Glinski hin, der das traurige Leben in einer Plattenbausiedlung schildert und seit Monaten in den polnischen Kinos läuft. Auf der letzten Seite macht sich der Musikwissenschaftler Rainer Bayreuther pünktlich zu Ostern Gedanken über pietistische Passionsdichtungen. Gisa Funck stellt den populären SPD-Mann Reinhard Jankowiak vor, der im Ruhrgebiet die Interessen des "kleinen Manns" verficht. Und Claus-Peter Müller schreibt über ein geplantes Gebrüder-Grimm-Museum in Kassel.

Besprechungen gelten Robert Wilsons "Doktor Caligari"-Spektakel am Deutschen Theater Berlin, einer Ausstellung über den Barockmaler Lubin Baugin (Bilder) in Orleans, einer Ausstellung über deutsche Schriftsteller im Schweizer Exil in der Deutschen Bibliothek in Frankfurt, Horst Sczerbas Kinodebüt "Herz" und einer Ausstellung englischer Bildsatiren aus der Zeit um 1800 im Schloss von Bad Arolsen.