Vom Nachttisch geräumt

Die Vernichtung der denkenden Frauen

Von Arno Widmann
13.05.2019. Nur Namen, keine Werke mehr: Gilles Ménages "Geschichte der Philosophinnen".
Als ich vor einem halben Jahrhundert Philosophie studierte, hatte ich es während meines Studiums ausschließlich mit den Texten von Männern zu tun. Von Platon bis Adorno nur Kerle. Das sei schon immer so gewesen, bekamen die wenigen gesagt, die diesen Blick auf die Weltphilosophiegeschichte hinterfragten. Wir kannten und liebten Hannah Arendt, die bei Heidegger und Jaspers studiert hatte. Aber hatte die nicht in ihrem Gespräch mit Günter Gaus - einer der Hits auf Youtube - erklärt: "Ich gehöre nicht in den Kreis der Philosophen. Mein Beruf - wenn man davon überhaupt noch sprechen kann - ist politische Theorie. Ich fühle mich keineswegs als Philosophin. Ich glaube auch nicht, dass ich in den Kreis der Philosophen aufgenommen worden bin, wie Sie freundlicherweise meinen."

Man könnte diese Äußerung als ein gravierendes Selbstmissverständnis verstehen. Oder aber darin einen radikal verengten Begriff von Philosophie erkennen, aus dem die politische Theorie, ja womöglich die Reflexion übers Leben insgesamt, ausgeklammert wurde. Aber man missversteht die Äußerung von Hannah Arendt, wenn man nicht auch den ironischen oder vielleicht besser sarkastischen Akzent darin hört. Inzwischen leben wir in einer Welt, in der philosophische Reflexion ohne die von Frauen nicht mehr möglich ist: Luce Irigaray, Julia Kristeva, Donna Haraway, Martha Nussbaum, Seyla Benhabib, Judith Butler usw.

Nicolas Régnier, Jeune fille au miroir, um 1626.  Musée des Beaux-Arts de Lyon


Aber vergessen wir nicht den Blick zurück. Es gibt nicht nur eine sehr, sehr lange Liste von Philosophinnen in der Vergangenheit. Es gibt auch Epochen der Philosophiegeschichtsschreibung, die sich dessen bewusst war. Aufklärung darüber verschafft in kürzester Zeit ein Buch aus dem Jahre 1690. In der Philosophischen Bibliothek des Verlages Meiner ist die "Geschichte der Philosophinnen" von Gilles Ménage in einer lateinisch-deutschen Parallelausgabe erschienen. Herausgeber und Übersetzer ist der Medizin- und Philosophiehistoriker Christian Kaiser, der dem Leser hilft, den Text mit 438 Anmerkungen zu erschließen. Sandra Plastina Ricklin, die 2011 auf Italienisch ein Buch über Philosophinnen zwischen Renaissance und Aufklärung veröffentlichte ("Filosofe della Modernità", Carocci), versah das Buch mit einer Einleitung.

Der Abbé Gilles Ménage (1613-1692) verkehrte im Salon der Madeleine de Scudéry. Die spätere Romanautorin Madame de La Fayette war seine Schülerin. Das sind genau die Frauen, die Molière als "gelehrte Frauen" verspottete. Ihre Nachfolgerinnen richteten die Salons ein, in denen die Aufklärer nicht nur ein- und ausgingen, sondern die eine aufgeklärte Öffentlichkeit überhaupt erst möglich machten. Geschichtsschreibung ist immer auch Spurenverwischung. Die Sieger wollen wenigstens im Nachhinein nichts als Sieger gewesen sein. Wenn sie Gegner überwanden, so taten sie es allein. Sie brauchten keine Helfer, geschweige denn Helferinnen. "Wer baute das siebentorige Theben?", frug Brecht. Das ist nicht nur eine Klassen-, das ist auch eine Genderfrage.

Conversation de dames en l'absence de leurs maris : le dîner,huile sur toile d'après Abraham Bosse. © RMN-Grand Palais (musée de la Renaissance, château d'Écouen) / Stéphane Maréchalle


Gilles Ménage dichtete und schrieb gelehrte Abhandlungen in Französisch, Italienisch und Latein. Seine Abhandlung über die Geschichte der Philosophinnen verfasste er auf Latein. Er begann sie als eine Ergänzung zum berühmten Werk des Diogenes Laertios "Über Leben und Lehren berühmter Philosophen" aus dem 3. nachchristlichen Jahrhundert. Der gelehrte Ménage durchforstete die gesamte antike Literatur nach Äußerungen über gelehrte Frauen und stellte alles - auch noch das kleinste Fitzelchen -, das er über die 65 erwähnten antiken Philosophinnen erfahren konnte, zusammen. "Sosipatra stammte aus Asien und war eine gelehrte, reiche und schöne Frau von edler Herkunft. Sie heiratete Eustathios, den Präfekten von Kappadokien; nach dessen Tod wurde sie ihrem Landsmann Philometor geliebt. Dieses und mehr berichtet Eunapios, von dem man erfährt, dass sie eine Philosophin war, und der auch überliefert, dass sie ihre Kinder in den philosophischen Fächern unterrichtete."

Nur von sehr wenigen Frauen sind auch nur die Titel ihrer Schriften überliefert. Ménage listet auf und rubriziert. Er verteilt sie auf die üblichen Philosophenschulen. Es gibt also Kynikerinnen, Peripatetikerinnen, Epikureerinnen usw. Die Frau des Epikur Themiste hat also einen kurzen Auftritt, weil Kirchenvater Laktanz erklärte, "sie sei die einzige Frau gewesen, die philosophiert habe". Ménage zitiert auch Cicero, der sich darüber ärgerte, dass "die kleine Dirne Leontion wagte, gegen Theophrast zu schreiben".

Den Artikel über die Stoikerinnen beginnt Ménage so: "Ich habe in den Büchern der Alten keine Frau ausfindig gemacht, die der Schule der Stoa verpflichtet gewesen wäre. Das läge wohl auch daran, dass "die Leidenschaftslosigkeit, zu der sich die Stoiker verpflichteten, bei Frauen selten zu finden" sei. Bei den Pythagoräern lag die Sache ganz anders. Schon der athenische Grammatiker Philochoros, der um 300 v.u.Z. lebte, soll ein ganzes Buch über Pythagoreerinnen geschrieben haben. Theano, nach manchen antiken Autoren die Gattin des Pythagoras, soll nicht nur viele Bücher geschrieben, sondern nach dem Tod ihres Gatten auch dessen Schule geleitet haben. Überliefert sind aber nur ein paar Bemerkungen von ihr, die ihre Tugend, nicht ihre Denkkraft belegen. Einem, der die Schönheit ihres Unterarmes lobte, soll sie geantwortet haben, diese Schönheit sei aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.

Es ist eine dann doch eher deprimierende Lektüre. Aus drei Gründen: Erstens: Ménages Fleiss hat nichts zu Tage gefördert, das einen elektrisieren könnte. Zweitens: Die Philosophie verbannte die Frauen schon sehr früh. Drittens: Ménages philologische Archäologie blieb folgenlos. Sein Buch ist ein Beleg dafür, wie schwierig es ist, mit der androzentrischen Geschichte zu brechen. Von den gelehrten Frauen, die er aufzählt, haben sich in den meisten Fällen nur die Namen erhalten, manchmal noch ein paar Anekdoten. Die Werke der Frauen wurden aus den Bibliotheken gelöscht. Das ist die alles andere überragende Botschaft des Buches von Gilles Ménage.

Gilles Ménage: Geschichte der Philosophinnen, Lateinisch - Deutsch, übersetzt und mit Anmerkungen hrsg. Von Christian Kaiser, mit einer Einleitung von Sandra Plastina Ricklin, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2019, 163 Seiten, 32,90 Euro
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