Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.03.2003. Die SZ preist Ruhm und Ehre Frankreichs in Gestalt Jacques Chiracs. Die NZZ schildert, wie der elektronische Infanterist seine Feinde künftig per E-Mail erledigt. Die taz porträtiert den Romancier Gerhard Seyfried. Die FR stöhnt über die Hamburger Kulturpolitik. Die FAZ empfindet "Shock and awe" angesichts toter Zivilisten.

SZ, 07.03.2003

Sonja Asal hat ein kleines, aber bedeutendes Häuflein französischer Intellektueller entdeckt, "die sich für Amerika entscheiden": Pascal Bruckner, Andre Glucksmann und Romain Goupil haben den Aufruf "Saddam muss weg" in die Presse gesetzt. Laut Asal ziehen sie ein wirklich bizarres Resümee aus der Weltpolitik der letzten Jahre: "Wenn sich heute Milosevic für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten müsse, dann sei dies das Resultat der Interventionspolitik, und wenn der Balkan auch nicht das Paradies sei, so herrsche dort doch mehr Frieden und weniger Diktatur als zuvor. Genauso werde die Zeit nach Saddam nicht rosig sein, doch immerhin nicht mehr so schwarz wie dreißig Jahre Tyrannei, Massenexekutionen und Krieg." Hätte man doch dokumentieren können, den Aufruf!

Jacques Chirac ist auf dem Gipfel seines Ruhmes, und Alex Rühle kann nicht fassen, wen der friedliebende Teil der Welt da zu seiner Galionsfigur erkoren hat: "Sogar die Chefin der kommunistischen Partei Frankreichs, Marie-George Buffet seufzt: 'Er ist die Ehre Frankreichs.' Chirac die Ehre Frankreichs - das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Nachdem er zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, einigten sich die Franzosen schnell darauf, dass dieser tollpatschige Tropf ein 'Erreur de casting', eine Fehlbesetzung sei. Chirac schien alle Hände voll damit zu tun zu haben, auch ja kein Fettnäpfchen auszulassen und galt als 'Chamäleon Bonaparte', als Opportunist und Lügner, dessen einzige Chance, dem Staatsanwalt zu entkommen, darin bestand, Präsident zu bleiben."

Weitere Artikel: Was Oliver Kahns Affäre mit der "unaufhaltsamen Sexualisierung der Medienwelt" zu tun hat, erklärt Tobias Kniebe. "wink" nimmt Abschied von "Jürgen Wehpunkt", denn "dieses unvergleichliche, jedes vagabundierende Ressentiment gnadenlos melkende Unterhaltungstalent will nicht mehr". Daniel Brössler berichtet von internen Kämpfen im Deutschen Historischen Institut Warschau, die sich vor allem um den polnischen Historiker Bogdan Musial entzündet haben.

Von Julia Encke erfahren wir, was es mit dem Begriff "chicken defense" auf sich hat: die US-Armee hält in Kuweit Hühner als Gasmelder bereit. Alexander Kissler weist darauf hin, dass der "derzeit wichtigste Akteur auf der weltpolitischen Bühne" - damit meint er den Papst - auch in seinen weltlichen Gedichten "der Logik des Krieges widerspricht".

Lothar Müller gratuliert dem Widerstandskämpfer, Journalisten und Schriftsteller Milo Dor (mehr hier) zum achtzigsten Geburtstag. Ole Döring befasst sich mit den Schwierigkeiten, in China eine Bioethik zu entwickeln und durchzusetzen. Jens Malte Fischer schreibt einen Nachruf auf die italienische Mezzosopranistin Fedora Barbieri. "jökö" wirft einen Blick in die verzweifelt glückliche Zukunft des Berliner Sinfonie-Orchesters. "tost" meldet, dass gegen Maxim Billers "Esra" eine einstweilige Verfügung verhängt wurde.

Besprochen werden die Uraufführung von Marie NDiaye' "Papa doit manger" an der Comedie Francaise, eine Schau von Manolo Blahniks Schuhen im Design Museum London, eine Ausstellung des dänischen Künstlers Olafur Eliassons im Münchner Lenbachhaus. Und Bücher, darunter Gerhard Henschels Briefroman "Die Liebenden", Ian Stewards Fortsetzungsgeschichte "Flacherland", ein neuer Kanon der "Europäischen Musikgeschichte" sowie ein Thriller über die Pocken (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 07.03.2003

Der Soziologe Stefan Kaufmann annonciert die Rückkehr des Infanteristen als Electronic Soldier. Das wird in etwa so aussehen: "Die Kernelemente von 'Land Warrior' befinden sich im Rucksack - die zentrale Recheneinheit, der Sender, die Batterie und das GPS -, während im Helm Kameras und Display sitzen. Orientierung auf dem Gefechtsfeld, die einst der Befehl der Offiziere, das Verhalten der Kameraden oder des Gegners gaben, bietet jetzt ein Monocular-Display. Das Display ermöglicht, Karten zu lesen, Befehle und Lageberichte entgegenzunehmen und per E-Mail permanent in Verbindung mit Vorgesetzten oder innerhalb der Gruppe zu bleiben." Wenn es dann noch möglich wird, den Feind per E-Mail auszuschalten, glauben wir an humane Kriegsführung!

Joachim Güntner greift die deutsche Folterdebatte der letzten Tage auf: "Vom diskutierten zum gebrochenen Tabu ist es nicht weit, und so wächst bei manchem Beobachter das Unbehagen in dem Maße, wie die Erörterung ans Grundsätzliche rührt."

Weitere Artikel: ii. stellt das "Fotobot"-Projekt vor: Während anderthalb Jahren konnten sich Schweizer-Passanten während der Expo des letzten Jahres forografieren lassen. Auf einer Website wird der Bestand präsentiert. Besprochen werden eine Ausstellung über Felsenmalereien des Latmosgebirges in Freiburg im Breisgau, eine Choreografie von Saburo Teshigawara im Pariser Palais Garnier und die Ausstellung über Philippe Starck im Centre Pompidou.

Auf der Filmseite schickt Susi Kolati eine Momentaufnahme vom ungarischen Kinos. Besprochen werden Steven Soderberghs Film "Solaris" und und Khaled Ghorbals Film "Fatma". Gemeldet wird außerdem, dass Wim Wenders für seine Firma Road Movies, die die Rechte an seinen Filmen hält, Insolvenz angemeldet hat und dass er als Geschäftsführer der Firma daraufhin entlassen wurde.

Marc Zitzmann liest das auch außerhalb viel beachtete Buch über Skandale und Affären der Pariser Zeitung Le Monde von Pierre Pean, kritisiert dessen "ideologisch gefärbte Interpretationen" und resümiert dennoch: "Etliche der präzisen, mit Quellenangaben versehenen Anschuldigungen werfen Fragen auf." "Ras." schreibt zugleich einen kritischen Kommentar zum Wettlauf der Medien um dieses Buch. Heute bringt Le Monde eine dreiseitige Erwiderung auf die Anschuldigungen. Mehr zum Buch auch hier.

TAZ, 07.03.2003

Detlef Kuhlbrodt war zu Besuch bei Gerhard Seyfried, einst Kartograph des Kreuzberger Alltags, der nun einen historischen Roman über den niedergeschlagenen Aufstand der Hereros geschrieben hat. Die beiden plaudern über die tollen Zeiten, irgendwann kommen die beiden auch mal auf den Roman zu sprechen. Aber: "Am längsten reden wir beim Weggehen. Über den Hut und den Umhang des Anarchisten, übers Rauchen und die Assassinen und diese ganzen Dinge. Zwei weitere Romane aus der deutschen Kolonialgeschichte sind geplant, sagt Seyfried, wobei noch unklar ist, obs in China oder der Südsee weitergeht. "Übrigens: Wusstest du, dass es in Windhoek eine Kreuzbergstraße gibt?"

Tobias Rapp erkennt in Jaheim und Syleena Johnson die neuen Hoffnungsträger des Souls. Harald Fricke meint, dass in Zeiten transatlantischer Störungen die Deutsch-Amerikanische Freundschaft (DAF) mit ihrem Revival-Album fürchterlich alt aussieht.

Besprochen werden die Retrospektive zu Hans-Peter Feldmann im Kölner Museum Ludwig und Maxim Billers neuer Roman "Esra", gegen den inzwischen eine einstweilige Verfügung erwirkt worden ist. Und noch Tom.

FR, 07.03.2003

Hamburgs Kulturszene stöhnt in seltener Einigkeit unter Kultursenatorin Dana Horakova, meint Frank Keil und stöhnt mit: "Der angekündigte Weggang von GMD Ingo Metzmacher, die Querelen um die Kammerspiele, die ungeschickten Angriffe auf Schauspielhauschef Tom Stromberg, die ungeklärte Nachfolge des Deichtorhallendirektors wie auch ihre abstruse Idee, aus Musikhalle und einem Aquarium ein Aquadome zu fertigen, dazu noch ihr zickiger Tonfall, das sind nur die Spitzen der Eisberge, die sich auf Höhe der Landungsbrücken festgesetzt haben. In verblüffender Schlichtheit präsentiert Horakova darunter den Kulturbegriff des Kleinbürgers, wonach Kunst niemals allzu kompliziert sein darf und vor allem mit Rückgriff auf die derzeit herrschende Verteilungsdebatte die Künstler in die Pflicht zu nehmen sind, den ihnen zugeteilten Geldern mit nützlichen Werken zu entsprechen."

Weitere Artikel: Vor dem Finale von "Deutschland sucht den Superstar" nimmt Ursula März die Kultur des Amateurs und ihre Prototypen in den Blick. K. Erik Franzen begrüßt mit verhaltener Freude Vaclav Klaus als neuen tschechischen Präsidenten. Dirk Stroschein blickt auf stolze 150 Jahre Steinway and Sons zurück. Verena Mayer erzählt die kurze und traurige Geschichte von Jens-Uwe P., der in Berlin einen Taxifahrer überfiel. Und Times Mager trotzt dem Bahnstreik.

Besprochen werden Wayne Wangs moderne Aschenputtel-Version "Manhatten Love Story", eine Ausstellung von Oscar Niemeyer im Deutschen Architektur Museum in Frankfurt und Bücher: Gore Vidals Essays zum 11. September "Bocksgesang" sowie eine kritische Studie zu Hannah Arendts Bild von Rahel Varnhagen (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 07.03.2003

Der amerikanische Japanologe William LaFleur macht uns mit der Taktik des "Shock and Awe" vertraut, mit dem die Amerikaner angeblich den Irak-Krieg gewinnen wollen: "Man will die Iraker durch einen großen amerikanischen Feuerangriff lähmen, so dass sie innerhalb weniger Tage kapitulieren. Sprengungen, Licht und Lärm in einem Ausmaß, das Menschen noch nie produziert haben, werden den größten Teil der Arbeit leisten." Regierungsberater nennen Hiroshima als Beispiel, was bei LaFleur ungute Vorahnungen auslöst: "Wie in Hiroshima wird ein großer Teil dessen, was wir sehen, aus den Körpern toter Zivilisten bestehen." Die Internetadresse Shock and Awe ist bereits aktiv. Wer sie betreibt, ist nicht ganz klar. Aber dort kann man das Buch des Regierungsberaters Harlan K. Ullman lesen, von dem die Doktrin offensichtlich stammt.

Weitere Artikel in einem heute sehr politischen Feuilleton. Paul Ingendaay kann eine gewisse Bewunderung für den spanischen Ministerpräsidenten Aznar nicht verbergen, der gegen 85 Prozent seiner Bevölkerung an der Seite Amerikas steht - er zitiert auch einen Artikel aus El Pais des Richters, der Pinochet festhielt, Baltasar Garzon, der Aznars Politik "kindisch" nennt (El Pais hat den Artikel leider gesperrt). Abgedruckt wird ein Brief Golo Manns von 1985, der behauptet, dass Deutschland und Frankreich aus der Geschichte gelernt hätten, während die Amerikaner "immer wieder großen Blödsinn" machen. Reinhard Wandtner zitiert zwei Studien (von Scott Atran in Science und von Alan Krueger und Jitka Maleckowa für das National Bureau aof Economic Research in Cambridge/Massachusetts), die nachweisen, dass Selbstmordattentäter "keineswegs immer arm und ungebildet" sind. Heinrich Wefing wirft einen Blick auf die amerikanische Rechtspraxis - der Supreme Court hat eine Klage zweier Männer abgelehnt, die ihre Strafen von 25 beziehungsweise 50 Jahren für wiederholten Ladendiebstahl als unangemessen empfanden.

Ferner gratuliert Eva Menasse dem Schriftsteller Milo Dor zum Achtzigsten. Arnold Bartetzky fragt, wo Leipzig Max Klingers Beethoven-Statue, einen wahren Trumm des Geniekults, endgültig aufstellen sollen. Gina Thomas fragt, was nach dem Tod von John Edwards, des Freunds und Erben von Francis Bacon aus dessen Nachlass werden soll. Martin Kämpchen berichtet über fortwährendes Engagement der Schriftstellerin Arundhati Roy für für die "Stammesangehörigen" (Adivasi) ihrer Heimatprovinz Kerala.

Auf der letzten Seite erzählt Matthias Oppermann eine Geschichte der französischen Interessenpolitik nach dem Krieg und kommt zu der Einschätzung: "Eine großzügige Vetopraxis und damit eine Blockade des Sicherheitsrates kann nicht im Sinne Frankreichs sein, denn für die 'Grande Nation' ist der Rat das entscheidende Gremium, um seine scheinbare Großmachtposition zu demonstrieren." Martine Lenzen-Schulte porträtiert den französischen Augenarzt Yves Pouliquen, der in die Academie francaise aufgenommen wurde. Und Volker Weidermann war dabei, als Maxim Biller in Berlin nicht aus seinem Roman "Esra" las, weil zwei Personen, die sich darin dargestellt sahen, eine einstweilige Verfügung gegen das Buch erwirkten. Auf der Medienseite porträtiert Michael Hanfeld die Nachrichtenmoderatorin Gundula Gause. Und Heike Hupertz stellt das Videospiel "Conflict - Desert Storm" vor, mit dem man auf der Couch den Irak-Krieg nachspielen kann.

Besprechungen gelten einer Ausstellung über den Karikaturisten Bruno Paul in München, einem Auftritt der seit dreißig Jahren bestehenden Intellektuellenband "The Residents", dem Kurt-Weill-Fest in Dessau und Sandrine Veyssets Film "Martha... Martha".