Bücher der Saison

Sachbücher

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
05.11.2018. Die gelungene Novemberrevolution, Dinosaurier für Erwachsene, Brecht und Reventlow, der Irrweg der Physik. Aber eigentlich dreht sich alles um Marilyn Monroe, auch David Lynch.
Geschichte

Die Jubiläen fallen in diesem Jahr besonders sinnreich. Eine ganze Reihe von Büchern widmet sich dem Ende des Ersten Weltkriegs, dem Versailler Vertrag, der Novemberrevolution und der beginnenden Weimarer Republik mit dem bekannten Schlamassel an ihrem Ende. Die Fragen liegen auf der Hand: Gibt es Parallelen zu heute? Musste es so kommen, wie es kam? Klug, wie sie sind, betonen die Autoren natürlich die "Ergebnisoffenheit" der Geschichte - und doch lässt sich das aktuelle Interesse nicht abweisen. Bei den Rezensent kam am besten Robert Gerwarths Studie "Die größte aller Revolutionen - November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit" weg, die schon deshalb überrascht, weil sie die Revolution als gelungen ansieht und damit allen Klischees widerspricht. Alexander Gallus schätzt in der FAZ Gerwarths Darstellung als lesbare Orientierung mit lebendigen Stimmungsbildern, etwa durch die O-Töne von Döblin bis Kollwitz, und die Gewichtung der deutschen Lage im internationalen Zusammenhang. Auch Franziska Augstein lobt in der SZ Gerwarths erzählerisches Geschick und sein gutes Händchen für Anekdoten und "saftige Zitate".

Ganz wichtig ist die Ergebnisoffenheit auch Gerwarths Kollege Jörn Leonhard in seinem neuen Buch "Der überforderte Frieden - Versailles und die Welt 1918-1923" "Vor allem wollte ich die Offenheit des historischen Moments verteidigen", sagt er im Gespräch mit Jens Bisky von der SZ, "dass man die Möglichkeit der vielen Entwicklungen ernst nehmen muss, die vergangenen Zukünfte. Wer allein von 1933 und 1939 her zurück auf 1918/19 sieht, verengt diese Offenheit zur Zwischenkriegszeit, verstellt den Blick auf die vielen nicht eingetretenen Wirklichkeiten. Sie gehören aber zum Möglichkeitshorizont der Zeitgenossen." Seine große Monografie ist leider bisher nur in der FAZ besprochen. Bei der Deutschen Welle kann man ein weiteres Interview mit Leonhard nachlesen.

Weitere Bücher zum Thema sind Eckart Conzes "Die große Illusion - Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt" ("Im Fall des Versailler Vertrages etwa waren nicht allein die Deutschen - die Besiegten - zutiefst enttäuscht. Auch die Sieger haderten", lernt Niels Beintker vom Bayerischen Rundfunk aus diesem Buch), Marcus Payks "Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg" und Gerd Krumeichs "Die unbewältigte Niederlage - Das Trauma des Ersten Weltkriegs und die Weimarer Republik" (Hedwig Richter hebt in ihrer Kritik in der SZ besonders hervor, wie sehr die Menschen "die Zeit um 1900 als Aufbruch in eine helle Zukunft empfunden" hatten, welche Katastrophe der Krieg und sein Ende im Kontrast darstellten).

Eine der aufregendsten historischen Neuerscheinungen der Saison und mit dem Jubiläum von 1918 in lockeren Zusammenhang stehend, ist Yuri Slezkines "Das Haus der Regierung - Eine Saga der Russischen Revolution" "Ende der Zwanzigerjahre entstanden in Moskau 500 komfortable Wohnungen für die Elite der Sowjetunion, das Imperium wohnte unter einem Dach, dem 'Haus der Regierung'", annonciert der Klappentext. Slezkine erzählt die Geschichten der Bewohner in ihrer ganzen überwältigenden Düsternis. In der Zeit rezensiert der große Gerd Koenen, selbst Autor einiger Bücher über die russische Revolution. Atemberaubend lese sich Slezkines Erzählung. Wie Fabian Wolff in der Welt zögert Koenen allerdings bei Slezkines Folgerungen: Wolff findet Slezkines These, derzufolge der Bolschewismus ein religiös-apokalyptischer Endzeitfanatismus gewesen sei, am Ende recht banal.


Wirtschaft

Ein überraschender Erfolg bei der Kritik ist Marcus Böicks dicker Band über "Die Treuhand - Idee - Praxis - Erfahrung 1990-1994" Auf fast 800 Seiten erzählt der Historiker die Geschichte der Institution, die die DDR abwickelte. Und er geht dabei nicht von der Bilanz aus, sondern von der Institution und den Personen, die sie repräsentieren, schreibt Karl-Rudolf Korte in der FAZ. Laut Dietmar Süß in der SZ zeichnet Böick ein erstaunlich heterogenes, buntes Bild von der Institution, die in seiner Erzählung weniger dämonisch erscheint, als man sie in Erinnerung hat. Böicks Genauigkeit, seine "exzellente" Recherche und seine Distanz zum Thema beeindrucken Süß, auch wenn der Leser durchaus einen langen Atem haben muss, wie er einräumt. Böick selbst sagt im Interview mit dem MDR: "Die Treuhandanstalt ist bis heute eine Art negativer Mythos oder Symbol für all das, was nach 1990 falsch gelaufen ist." Wer den Gegensatz zwischen Ost und West in Deutschland heute verstehen will, wird ohne Studium der Treuhand kaum auskommen können, so Böick.

Cover: EntwertungHingewiesen sei auch noch einmal auf Luc Boltanskis bereits im Sommer erschienene große Studie "Bereicherung" in der er zusammen mit Arnaud Esquerre den postindustriellen Kulturkapitalismus inspiziert, der nicht Neues porduziere, sondern Vorhandenes im Wert steigere, indem er es mit Narrativen anreichert. Stichwort: Storytelling. Gut dazu passt Jason W. Moores und Raj Patels Buch "Entwertung" das mit Blick auf Natur, Arbeit und Nahrung die "Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen" erzählt.


Naturwissenschaften

Mit "Aufstieg und Fall der Dinosaurier - Eine neue Geschichte der Urzeitgiganten" hat Steve Brusatte endlich ein Buch über Dinosaurier nur für Erwachsene (mit anderen Worten: das ideale Geschenk für ein ernsthaft interessiertes Kind ab zehn) geschrieben, freut sich Volkart Wildermuth bei Dlf Kultur: Spannend wird es vor allem dann, wenn Brusatte ins Detail geht "und beschreibt, warum etwa der Brontosaurus so riesig wurde. 'Alles beginnt mit dem Hals', heißt es. Der war so lang und flexibel, dass die Riesen gemütlich alles in der Umgebung abweiden konnten, vom Gras bis hin zu den Baumwipfeln." Auch Lars Weisbrod hat sich in der Zeit hinreißen lassen: Den neusten Forschungsstand im Hinterkopf kläre Brusatte zum Beispiel darüber auf, dass nicht nur das Aussterben, sondern auch die Entstehung der Saurier einer Naturkatastrophe zu verdanken sei oder, dass die meisten Saurier, auch Tyrannosaurus Rex, gefiedert waren.

In diesem Video zeigt der junge Forscher einige seiner Lieblingsdinos:



Dazu passt Bernhard Kegels "Ausgestorben, um zu bleiben - Dinosaurier und ihre Nachfahren" laut Thorsten Gräbe in der FAZ mehr eine Geschichte der Entdeckung der Dinosaurier, der Streitigkeiten, die sie im 19. Jahrhundert auslösten, und ihres Wegs in die Popkultur.

Der Kreis ist rund, aber die Zahl Pi ist krumm. Immer schon sehnte sich die Wissenschaft nach Sinn in den Naturphänomenen. Allein deshalb sollten die Theorien über die Welt, mit der wir hier seit 14 Milliarden Jahren konfrontiert sind, möglichst elegant sein. Ein Irrweg, der die heutige Physik in die Stagnation führte, meint die Physikerin Sabine Hossenfelder, die die Sache in "Das hässliche Universum" zum Glück recht journalistisch anzugehen scheint. Die Rezensenten sind zwiespältig, haben das Buch allerdings mit Interesse gelesen.


Archäologie, Religion und überhaupt: Wo wir herkommen

Um noch einmal klarzumachen, mit welcher Sensation wir es zu tun haben, reicht der Klappentext zu "Die Himmelsscheibe von Nebra" von Harald Meller und Kai Michel: "Die Himmelsscheibe von Nebra stammt aus keiner Hochkultur des Altertums, sie wurde im Herzen Europas gefunden. Welches verlorene Wissen birgt die rätselhafte Scheibe aus Bronze und Gold? Wer waren die Menschen, die sie vor 3.600 Jahren erschaffen haben? Raubgräber entdeckten die Himmelsscheibe von Nebra auf der Spitze des Mittelbergs in Sachsen-Anhalt, der Archäologe Harald Meller rettete sie für die Öffentlichkeit." Darin stecken also zwei Krimis: Erstens - was war das für eine Hochkultur, die sich ausgerechnet nach Sachsen-Anhalt verirrte? Zweitens der Raubgräberkrimi. Und beides wissen die Autoren laut Harald Eggebrecht in der SZ mitreißend zu erzählen: "Spannend, flüssig und randvoll mit Wissen" findet Eggebrecht das Buch. Das homerische Potenzial der Geschichte vermögen die Autoren laut Rezensent herauszukitzeln, indem sie Erkenntnisse aus Archäologie, Astronomie, Anthropologie, Medizin, Geologie, Physik und Chemie heranziehen und so ein Panorama der Bronzezeit entfalten."

Mit der Himmelsscheibe im Gepäck kann sich der bildungshungrige Leser gleich von Neil MacGregor in "Leben mit den Göttern" die Geschichte der Religionen erzählen lassen: Es handelt sich um weit mehr als den Katalog zur gleichnamigen Londoner Ausstellung "Living with Gods", die im British Museum von November bis April zu sehen war, versichert der in der SZ rezensierende Theologe Johann Hinrich Claussen, der sich auch gleich freut, dass der Autor keine allzu laizistische Position zu seinem Gegenstand einnimmt. Religiöse Gewalt, heilige Kriege und die Verfolgung Andersgläubiger gehören dennoch zu den Attributen dieser Menschheitserfindung und finden Erwähnung. Ebenfalls bei Beck erschienen ist Cyprian Broodbanks monumentaler Band "Die Geburt der mediterranen Welt - Von den Anfängen bis zum klassischen Zeitalter" der sich für SZ-Kritiker Johan Schloemann mehr wie eine große Geschichte der Seefahrt im Mittelmeer liest, eine große Fahrt, gut erzählt, manchmal etwas kommerziell gedacht, so der Rezensent.


Literatur-/Sprachwissenschaften

Ungewöhnlich ausführlich hat sich Oliver Pfohlmann im Deutschlandfunk mit Kerstin Deckers Biografie über Franziska von Reventlow auseinandergesetzt, wohl nicht, weil es sich um ein solch epochales Werk handelt, sondern weil ihn die Protagonistin so fasziniert: Wie versunken diese Epoche mit ihren Stefan Georges, Ludwig Klages und Karl Wolfskehls ist und wie radikal modern sich Reventlow - und sicher manche ihrer Freunde und Partner - vom noch wilhelminischen Hintergrund absetzten. Pfohlmann kreidet der Biografie der auf starke Fin-de-Siècle-Frauen spezialisierten Autorin manches an: dass sie zu literarisch schreibt, zu sehr die Aktualität sucht. Aber das Panorama, das der Kritiker entfaltet, muss ja auf ihrer Vorarbeit beruhen. Und einen ganz wichtigen Hinweis gibt er noch: Reventlow hatte ein aufregendes Leben, aber das heißt nicht, dass man ihre Literatur vernachlässigen sollte, wie es die meisten ihrer Biografen leider tun. Unbedingt, so Pfohlmann, sollte man nach dieser Biografie darum ihre Erzählung "Der Geldkomplex" lesen, die im kleinen Launenweber-Verlag in schöner Ausstattung vorliegt.

Schon im Bücherbrief vorgestellt haben wir Stephen Parkers Brecht-Biografie die die Kritiker in der taz und FR mit Einschränkungen begrüßten. Arno Widmann macht im Perlentaucher einen gewichtigen Einwand: Wer vor dem Hintergrund der heutigen Diskussionen über Internet und Medien nicht Brechts Radiotheorie in seine Zeit einordnet und etwas daraus macht, hat etwas vom Sinn einer Biografie verfehlt.


Kino, Musik


Wer diese "Traumwelten" liest, sollte dabei Kopfhörer aufsetzen und eine Dark-Ambient-Playlist hören:



"Lass es uns dunkler" machen, soll der Filmregisseur David Lynch zum Kameramann von "Eraserhead" gesagt haben. Es gibt noch mehr schöne Sätze von Lynch, die Alasdair Lees im Independent zitiert, zum Beispiel: "Everything is about Marilyn Monroe." Vielleicht ist es in heutigen Zeiten interessanter denn je, dass jemand wie Lynch schon so früh begann, die amerikanische Oberfläche von der Rückseite zu betrachten. Niemand hat ein Gespür wie er für seltsame Accessoires, die nur anfangs wie eine Banalität aussehen und doch auf einen Abgrund verweisen: Trumps Frisur, der Kleidungsstil seiner Ehefrau Melanie mit seinen geheimen Botschaften hätten von Lynch erfunden sein können. "Traumwelten" ist eine Kompilation, halb Autobiografie, halb von der Koautorin zusammengetragenes Material, eine Art Biografie mit Kommentaren des Protagonisten. Sehr nettes Buch, meint Dietmar Dath in der FAZ. Die Protokolle von Gesprächen mit Wegbegleitern des Regisseurs, ergänzt vom Meister selbst ergeben in ihrer Vieldeutigkeit laut Dath ein anschauliches Bild. Lynchs Rätsel werden hier nicht offenbart, versichert Philpp Stadelmaier in der SZ - ein gelöstes Rätsel ist ja auch keins mehr. Eine kompetente Kritik erschien auch auf thisisdarkness.com, einem auf Dark Ambient spezialisierten Blog, dem wir auch die Playlist entnehmen. Hier wird auch auf Musik aus Lynchs Filmen verlinkt. Erstaunlich für ein Blog über Dark Ambient allerdings der Satz: "By all accounts, Lynch is a ray of sunshine and a pleasure to be around." Xan Brooks, der Kritiker des Guardian, hat anlässlich seiner Rezension auch mit Lynch selbst gesprochen und eine Maxime seiner Ästhetik mitgenommen: "'Man macht den Fisch nicht, man fängt ihn', erklärt er geduldig. 'Danach bereitet man ihn zu, gut oder schlecht, aber mehr ist da nicht.'"

Es gibt noch ein Lynch-Buch, das dieses Jahr erschienen ist, ein Fotobuch mit dem Titel "Nudes" das Michael Barnett bei thisisdarkness.com bespricht. Auch in diesen Akten, die kaum etwas enthüllen, so Barnett, "ist nichts, wie es scheint". Es handelt sich um den prächtig aufgemachten Katalog einer Ausstellung mit Lynch-Fotografien in der Fondation Cartier.


Kunst / Foto / Architektur

Kunst- und Fotobände werden in deutschen Feuilletons eher stiefmütterlich behandelt. Die Auswahl erscheint zuweilen willkürlich, einen wirklichen Überblick über das Genre liefern die Zeitungen nicht. Viel besprochen wurde die Alex Pager-Monografie "Silver Lake Drive" mit bestechend realistisch inszenierten, über die auch Arno Widmann im Nachttisch schrieb: "Ich bin fasziniert von dem, was alle fasziniert an ihren Aufnahmen: das Überklare, das Überdefinierte. Durch das der Realismus umschlägt in den Albtraum." Mehr auch im Bücherbrief von August. Der Perlentaucher versucht in seiner Kolumne "Fotolot" zumindest fragmentarisch über das so schöne Genre der Fotobücher zu informieren, das in Zeiten der Digitalisierung poaradoxer Weise blüht. Zwei große Fotografinnen, die die Reportagefotografie transzendieren wurden hier gewürdigt: Peter Truschner empfahl die Monografie "As Time Folds" von Vanessa Winship, Thierry Chervel schrieb über einige Bücher von Susan Meiselas.

Zwei Architekturbücher fanden die Aufmerksamkeit der Kritiker: Hannes Hintermeier in der FAZ und Peter Richter in der SZ feiern den Band "Die geheime Welt der Bauwerke" der in London lebenden indischen Bauingenieurin Roma Agrawal. Gut lesbar stellt die Autorin anhand von Modellen und Zeichnungen die Prinzipien der Bauphysik und der Konstruktion dar und zeigt anhand internationaler Bauwerke, was ihre verborgene Kunst vermag, so Hintermeier. Der Taschen-Band "California Crazy" dokumentiert die heute schon fast verschwundene verrückte kalifornische Fantasie-Architektur: riesige Eiswaffeln, in denen einst Eis verkauft wurde oder überdimensionale Damenbeine, mit denen Nylonstrumpfhosen beworben wurden.