Im Kino

Indirektes Selbstporträt

Die Filmkolumne. Von Katrin Doerksen, Patrick Holzapfel
16.05.2017. Bertrand Bonellos Terrorismus-Thriller "Nocturama" erzählt mit dem Suspense eines Hitchcock und verführerischen Äußerlichkeiten von unserer Zeit. Mike Mills taucht mit seinen autobiografisch inspirierten "Jahrhundertfrauen" das Jahr 1979 in goldenes Licht.


Eigentlich muss man mit sich selbst vereinbaren, bevor man sich auf Bertrand Bonellos "Nocturama" einlässt: Diese Bilder kenne ich nirgendwo her, ich habe nichts gesehen von Paris. Man muss akzeptieren, dass es so etwas wie einen Film gibt und Bonello hier in erster Linie einen solchen gemacht hat. Wenn man das tut, kann "Nocturama" in den Bewegungen eines ambivalenten, jugendlichen Aufbegehrens ein hypnotisches Feuer entfachen.

Die Handlung ist schnell erzählt: Eine Gruppe Jugendlicher unterschiedlichster Herkunft plant und vollzieht mehrere Attentate in der französischen Hauptstadt. Anschließend sammeln sich die jungen Frauen und Männer in einem Kaufhaus, wo sie die Nacht verbringen möchten. Allerdings spürt man - von den dröhnenden Hubschraubergeräuschen zu Beginn des Films über das Bild eines kriechenden Reptils bis in die Stille der Nacht im Kaufhaus - eine ständige Bedrohung, die dem Zuschauer frei nach Hitchcock klar macht, was passieren wird, aber offen lässt, wann das Unheil über die Figuren hereinbrechen wird.

Für Bonello ist "Nocturama" ein zweifacher Sprung. Zum einen hinein in die Gegenwart, die er in seinen famosen letzten Filmen "Saint Laurent" und "Haus der Sünde" durch historische Kostüme hindurch verhandelte, und zum anderen in ein Genrekino, zu dem er sich schon immer hingezogen fühlte. Man denkt unweigerlich an John Carpenter, was nicht nur daran liegt, dass Bonello ähnlich treibende, retrofuturistische Musik zu seinen Filmen komponiert. Als Genreregisseur scheint der Franzose zu fragen: Wie wenig braucht man für einen Thriller? Seine Antwort liegt nicht in der Narration, sondern in einem durch Rhythmus und Bewegung evozierten Gefühl, das einen förmlich an die Leinwand klebt.



Jeder Schritt, jeder Blick trägt in sich die Erwartung an das, was als nächstes passiert. Die eingeblendete Uhrzeit ist ein Thriller-Klischee, aber hier ist sie nur da, um uns zu sagen: Etwas Unaufhaltsames wird passieren. Egal ob die Protagonisten rennen oder warten, man spürt, dass etwas vor sich geht. Das hat sowohl mit der Faszination des Filmemachers für klassischen Suspense zu tun, als auch mit der puren Freude an der Durchführung eines Plans, wie man das aus Heist-Filmen kennt. Bonello schafft eine unheimliche Präsenz, die viel mit seinen harten Schnitten in Bild und Ton, die teilweise auch durch die Zeit springen, zu tun hat. In der daraus resultierenden Verunsicherung findet der Film eine Form, die mit dem Verhalten und womöglich auch der Psychologie der Figuren in Verbindung tritt.

Die Attentäter befinden sich auf einer Reise durch die Nacht. Beide Teile des Films spielen in der Dunkelheit, auch wenn der Anschlag am Tag durchgeführt wird. Die Blicke der Protagonisten gehen ins Leere, sie suchen etwas, sind müde, orientierungslos. Man denkt an Allan Clarkes "Elephant". Die Kamera folgt den Wegen, hin und her, mal bestimmt, mal ängstlich. Die Fahrten folgen zwar dem Tempo der Figuren, aber zeigen nie, warum diese gehen. Man ist gezwungen, einer unaufhaltbaren Dynamik zu folgen, deren Antrieb hinter verführerischer Äußerlichkeit versteckt bleibt. Bonello filmt sie alle tanzend, beinahe in Trance, es ist die Verlorenheit, die Gleichgültigkeit, die zur Tat führt. So scheint die Erklärung, die eine Passantin (Adèle Haenel in einem Gastauftritt) lapidar gibt, die einzig mögliche: "Das musste einfach passieren." Es liegt eine Anspannung und Verletzlichkeit in den bemerkenswerten Gesichtern und Körpern, die Bonello für sein Vorhaben gefunden hat. In ihnen offenbart sich eine drückende Ambivalenz, die es schwer macht, sie als Täter oder Opfer wahrzunehmen. Sie verhalten sich ein wenig so, als würden sie aus dem Gefängnis ausbrechen, um sich in einem Gefängnis zu verstecken.

So erzählt "Nocturama" von einer merkwürdigen Ohnmacht in Bezug zu politischen Aktionen, den Schwierigkeiten an etwas anderes zu glauben, als an die Überzeugung selbst. Es ist ein in sich gespiegeltes Aufbegehren, das in der Hingabe an die Konsumwelt des Kaufhauses seine logische Konsequenz findet. Man sprengt kapitalistische Gebäude in Nike-Klamotten. Was man finden kann, ist Imitation: So werden die Schaufensterfiguren zu erregend und unheimlich lebendigen Figuren und einer der Terroristen gibt seine Perfomance von "My Way" als Lip-Sync-Version zum Besten. Es ist eine Welt der Bilder, Symbole und Marken. Immer wieder kadriert Bonello die Jugendlichen durch Fenster und Rahmen, er erzählt über Bildschirme und versucht, ähnlich wie Olivier Assayas in "Personal Shopper", aus neuen Medien erneuerte Erzählweisen zu gewinnen. Manchmal wirkt das etwas bemüht, wie wenn plötzlich gesendete Nachrichten verschriftlicht auf der Leinwand erscheinen, aber vieles daran geht auf, insbesondere, weil Bonello Emotionen zwischen Gleichgültigkeit und Spektakel, Wahrscheinlichkeit und Irrationalität sowie äußere und innere Bedürfnisse verbindet wie kaum ein anderer Filmemacher, und damit präzise und mitreißend von unserer Zeit spricht.

Patrik Holzapfel

Nocturama - Frankreich 2016 - Regie: Bertrand Bonello - Darsteller: Finnegan Oldfield, Vincent Rottiers, Hamza Meziani, Manal Issa, Martin Petit-Guyot - Laufzeit: 130 Minuten.

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"Jahrhundertfrauen" beginnt mit einem Blick auf das Meer, vom Himmel aus gesehen. Blaugrünes Wasser, das sich in Ufernähe bricht und in goldgelben Sand übergeht. Ein Bild, wie es auf Instagram unter Hashtags wie #dronephoto oder #droneporn hundertfach katalogisiert ist, die Kamera in Dutzenden Metern Höhe auf der Lotgeraden. Eine Einstellung, die auf eine Perspektive verweist, aus der wir die Welt momentan bevorzugt betrachten. Der Schriftzug "Santa Barbara, 1979" erscheint in cleanen, weißen Lettern auf der Leinwand. Es folgt nicht der Versuch, in diesen Ort, diese Zeit einzutauchen. Sondern eine Betrachtung von hier und heute aus, eine Betrachtung aus der Vogelperspektive.

Mit zeitlichem und räumlichem Abstand ergibt eine zuerst beliebig anmutende Abfolge von Ereignissen manchmal ein plausibles Narrativ, mit Exposition, Höhe- und Wendepunkten an den richtigen Stellen. "Jahrhundertfrauen" sind die fiktionalisierten Memoiren des Regisseurs Mike Mills, dessen letzter Film "Beginners" seinem Vater gewidmet war. Der neue ist von seiner Mutter inspiriert und gibt einem gleichzeitig das Gefühl, auch eigenen Erinnerungen nachzuhängen, unabhängig davon, wie viel man selbst noch vom Zwanzigsten Jahrhundert mitbekommen hat. Es ist ja bestens dokumentiert: Greta Gerwig mit tomatenrot gefärbten Haaren spielt eine typische Figur der Ära: Abbie, die jeden Tag alles fotografiert, was ihr widerfährt. Erst mit einer Spiegelreflexkamera, später mit Polaroid, dem früheren Versuch, Erinnerungen spontan in quadratischer Form zu archivieren. Einmal plant sie, alle Gegenstände in ihrem Besitz abzulichten, ein indirektes Selbstporträt soll entstehen. Ob sie das Projekt vollendet, bleibt unerwähnt, aber das Prinzip, Porträts aus einzelnen Fragmenten zusammenzupuzzeln, hat Mike Mills für seinen Film übernommen.



Die Stimme von Lucas Jade Zumann drängt auf die Tonspur, er ist (die meiste Zeit über) Erzähler und der menschliche MacGuffin in einem Coming-of-Age-Film, der sich weniger für den Heranwachsenden interessiert, als für die Erziehenden, die ihn umkreisen. Zumann spielt den fünfzehnjährigen Jamie, seine Stimme aus dem Off weiß aber auch von der Zeit vor seiner Geburt zu erzählen und kennt die Zukunft. "Ich werde versuchen, meinem Sohn zu erklären, wie seine Großmutter war, aber es wird unmöglich sein," sagt sie am Ende. "Jahrhundertfrauen" setzt sich aus losen Kapiteln zusammen, den Frauen gewidmet, die mit Jamie unter einem Dach leben. Seine alleinstehende Mutter Dorothea (Annette Bening), verunsichert durch einen dämlichen Zwischenfall, wie er unter gelangweilten Jugendlichen nun einmal vorkommt, bittet ihre Untermieter um Mithilfe bei der Erziehung: Abbie und Jamies Sandkastenfreundin Julie (Elle Fanning), die nachts durch's Fenster steigt und mit ihm rein platonisch in einem Bett schläft. Dazu noch den grummeligen Hippie-Mechaniker William (Billy Crudup).

Den Einfluss besonders der beiden jungen Frauen auf Jamie, wie sie ihn mitnehmen zu Punk-Konzerten und Planned Parenthood, ihm feministische Literatur zu lesen geben und mit ihm die Nächte durch diskutieren, beschreibt Mike Mills eher in einer Aneinanderreihung von Anekdoten, als dass er das alles einer stringenten Dramaturgie unterwirft. Von der Zeit zu erzählen, bedeutet automatisch immer auch von den Figuren zu erzählen. Sie lesen "Our Bodies, Ourselves", "Sisterhood is Powerful" und "Future Shock". Julie muss sich auf die Ergebnisse eines noch sehr rudimentären Schwangerschaftstests verlassen. Abbie erholt sich als eine von vielen Patientinnen von einer Gebärmutterhalskrebserkrankung, vererbte Folgeerscheinung eines Medikaments gegen Fehlgeburten. In den Schmierereien an Dorotheas Autotür ("art fags") manifestiert sich der Kleinkrieg zwischen Black Flag- und Talking Head-Fans. Das Hinübergleiten von einer Perspektive, einer Begebenheit in die Nächste fühlt sich manchmal fast ein wenig zu geschmeidig an: Jamie bekommt Literatur in die Hand - Jamie wird zum Feministen. Jamie gibt vor den Jungs sein Wissen über die Klitoris zum Besten - Jamie kriegt auf die Fresse. Das Problem eines distanzierten Rückblicks, der bei aller Freude über das sich ergebende Narrativ unterschlägt, wie verworren und komplex eine Situation sich zum Zeitpunkt ihres Durchlebens anfühlen kann.

Dass sich trotz dieses losen Nebeneinanders von größeren und kleineren Ereignissen das Gefühl einstellt, etwas spitze sich zu, liegt vor allem am Zeitgeist der Endsiebziger, der sich gewissermaßen als sechster Mitbewohner in den Vordergrund drängt. Im Fernsehen hält Jimmy Carter live seine Rede zur Vertrauenskrise, das zwischengeschnittene Material aus dem zivilisationskritischen Kinopoem "Koyaanisqatsi" tut sein Übriges. Es geht noch keiner ins Internet, niemand sieht HIV kommen, die Millenniumshysterie scheint unendlich weit weg - wenn Jamies Stimme im Rückblick darüber räsoniert, fühlt sich 1979 - in "Jahrhundertfrauen" zumeist ein von goldenem Licht gesegnetes Jahr - wie ein allerletztes naiv-schläfriges Räkeln in der Nachmittagssonne an.

Katrin Doerksen

Jahrhundertfrauen - USA 2016 - OT: 20th Century Women - Regie: Mike Mills - Darsteller: Annette Bening, Elle Fanning, Greta Gerwig, Billy Crudup, Lucas Jade Zumann - Laufzeit: 119 Minuten.