Im Kino

Der Kern aller Unfreiheit

Die Filmkolumne. Von Thekla Dannenberg
13.12.2022. Im vierten Teil seiner Reihe "Women Make Film" zeigt das Berliner Arsenal Kino zwei Filme der iranischen Filmemacherin Marva Nabili. "Versiegelte Erde", entstanden 1976 im vorrevolutionären Iran, ist ein stiller Film über eine junge Frau, die ihr Recht auf die Sinnlichkeit der Welt einfordert. "Nightsongs" entstand 1982 im amerikanischen Exil in New York und begleitet eine chinesische Einwandererfamilie in Chinatown.


Wenn heute die Iranerinnen "Frauen, Leben, Freiheit" rufen, haben sie wie selbstverständlich die Sympathien der Welt auf ihrer Seite. Als die Regisseurin Marva Nabili vor fünfzig Jahren die stille Rebellion einer iranischen Frau zum Gegenstand ihres ersten Films machte, waren die Freiheit und das Leben iranischer Frauen ein absolutes Außenseiterthema. Nabilis Film "Versiegelte Erde" von 1976 lief auf der Berlinale im Forumsprogramm, ohne viel Beachtung zu finden. Doch das iranische Kino der siebziger Jahre, das vor der Islamischen Revolution des Ajatollah Khomeini und dem späteren Aufstieg großer Filmemacher wie Abbas Kiarostami und Jafar Panahi auf einen sozialkritischen, regionalen Realismus setzte, wusste offenbar, dass die Unterdrückung der Frau den Kern aller Unfreiheit darstellte. Das Kino Arsenal zeigt in seiner bemerkenswerten Reihe "Women Make Film" zwei Filme dieser fast vergessenen Filmemacherin, eine der wenigen Frauen in Irans vorrevolutionärem Kino.

"Versiegelte Erde" erzählt von einer jungen Frau auf dem Land, die von ihrer Familie zur Heirat gedrängt wird, die sich jedoch einem Anwärter nach dem anderen verweigert. Über ihre Motive, Vorstellungen und Wünsche erfahren wir nichts. Die Eltern versuchen es mit gutem Zureden, mit Drohungen und Klagen, mit dem Imam und mit dem Dorfvorsteher, die kleine Schwester mit Spitzzüngigkeit. Doch Rooy-Bekhair möchte einfach nicht.

Wir beobachten die Achtzehnjährige, die mit ihrer Familie in einem einfachen Lehmhaus lebt, bei alltäglichen Arbeiten, wie sie den Hof fegt, die Hühner füttert, den Reis siebt. Noch ist die Moderne nicht ins Dorf vorgedrungen, aber sie steht vor den Toren: Die Agribusiness Company bietet den Bewohnern neue Wohnungen an, wenn sie ihre Felder aufgeben. Der Dorfvorsteher, ein Mann der Moderne, kommt auf seinem Motorrad, um die Männern des Dorfes zum Aufgeben zu überreden. Aber woher sollten sie das Geld nehmen, um eine Wohnung zu kaufen? Und warum sollten sie künftig für Milch, Käse und Fleisch im Coop bezahlen, wenn sie jetzt ihre eigenen Kühe haben?

Auch Rooy-Bekhair verweigert sich der Stadt und ihrer Ökonomie. Dorthin schickt sie stets die kleine Schwester, die in eine Schule der neuen Siedlung geht und von der Teheraner Lehrerin mit neumodischen Ideen angesteckt wurde.



In der schönsten Szene des Films sehen wir Rooy-Bekhair am Fluss, wohin sie immer wieder zurückkehrt, um mit sich allein den Vögeln zu lauschen und all die Tücher und Bänder abzulegen, mit denen sie sich Morgen für Morgen umwickelt. Sie möchte das Gras auf ihrer Haut und den Regen in ihrem Haar spüren. Ihr nackter Rücken ist kein Zeichen der Entblößung, sondern der Befreiung. Sie fordert ihr Recht auf die Sinnlichkeit der Welt ein.

Dieser Szene steht der beklemmendste Part des Films gegenüber: Als sich die Rooy-Bekhairs Verzweiflung Bahn bricht, weiß die verstörte Familie ihr nicht anders zu helfen, als ihr die bösen Geister vom Imam austreiben zu lassen. In einer stummen Prozession wird die junge Frau vom gesamten Dorf zu dem Ritual begleitet, das weder gewaltvoll noch lieblos erscheint, im Gegenteil, die Gesten des Imams wirken zart, freundlich und bedacht. Doch die Irrationalität, das völlige Unverständnis für die junge Frau, machen das Geschehen unglaublich traurig.

Marva Nabili erzählt diese Geschichte aus allergrößter Distanz. In langen Einstellungen, mit einer statischen Kamera und stets auf Abstand zu den nicht-professionellen Darstellerinnen und Darstellern. Niemanden sehen wir in Großaufnahme, nie nähert sich die Kamera einem Gesicht. Die Dialoge sind auf ein Minimum beschränkt. "Versiegelte Erde" ist ein stiller Film. Er entspringt ganz dem anti-illusionistischen Kino der siebziger Jahre, das - an Brecht geschult - nicht Individuen, sondern die Verhältnisse darstellen wollte und dessen stilistische Unfertigkeit ein Statement war (der Film ist heimlich gedreht worden, in 16mm, es flimmert wie im frühen Stummfilm). Weder Psychologie noch Dramaturgie erschließen eine Handlung. Doch das Aggressive oder Polemische des politischen Kinos ist Marva Nabili fremd. Ihre Kamera ist kein Machtinstrument. Der Film berührt durch die Schönheit seiner intimen Bilder. Sie sind komponiert wie persische Miniaturmalereien, in denen der Mensch wenig Raum einnimmt, damit sich die Fantasie um so freier entfalten kann. Alles wird umhüllt von der Harmonie der Farben und der Wärme des Lichts.



Ihren zweiten Film "Nightsongs" hat Nabili 1982 gedreht, bereits im amerikanischen Exil, in das sie nach der Iranischen Revolution gezwungen war. Hier arbeitet sie bereits mit den filmischen und finanziellen Mitteln des amerikanischen Independent-Films. In "Nightsongs" verarbeitet Nabili eine zweifache Entfremdung, die des Exils und der Ausbeutung. Sie zeichnet das einfühlsame Porträt einer chinesischen Einwandererfamilie, die bescheiden in einer beengten Wohnung in New Yorks Chinatown lebt: Der Vater arbeitet als Koch in einem Restaurant auf Long Island, nur sonntags kommt er die Familie für ein paar Stunden besuchen, bevor er beim Mahjong-Spiel sein Geld verplempert. Die Mutter arbeitet als Näherin in einem jener berüchtigten Sweatshops, in denen Einwanderinnen zu Hungerlöhnen schuften mussten und auch die Gewerkschaften den ausbeuterischen Verhältnissen nur Weihnachtsfeiern und Seminare entgegensetzen können: "Was muss Frau Han tun, um ihr Geld zu bekommen?"

Der Sohn wird in der Schule wegen seiner unperfekten Aussprache gemobbt, bis er unter die fatale Protektion einer Gang gerät. Mit ihm ziehen wir durch die rauen Straßen Chinatowns, über deren geduckten Baracken hinweg in der Ferne das Empire State Building thront. Wie selbstverständlich nimmt die Familie noch eine junge Cousine auf, die mit den anderen chinesischen Boatpeople aus Vietnam geflohen ist, eine gebildete Frau aus vornehmer Familie, völlig ungeeignet für die Arbeit in der Nähfabrik. Sie bringt chinesische Poesie mit, die sich aus dem Off über den Film legt. Ihre Stille und ihre Zartheit geben dem Film eine einnehmende Intimität.

Die 1941 geborene Nabili hat nur diese beiden Filme gedreht, es sind Solitäre eines Filmschaffens, das seine Themen von vornherein gefunden hatte, wenn auch noch nicht seine eigene Filmsprache. Die entmutigend geringe Resonanz, auf die sie stieß, ist vielleicht nicht unbedingt ihrem feministischen Ansatz geschuldet, sondern ihrem internationalistischen: Die chinesische Community, die sich falsch dargestellt fühlte, hatte auf "Nightsongs" mit Empörung reagiert.

Thekla Dannenberg

Khake sar beh mohr (Die versiegelte Erde) - Iran 1976 - Regie: Marva Nabili - 90 Minuten.

Nightsongs - USA 1982 - Regie: Marva Nabili - Darsteller: u.a. Mabel Kwong, David Lee, Victor Wong - Laufzeit: 113 Minuten.

"Nightsongs" läuft noch einmal am 18.12. Im vierten Teil der Reihe "Women Make Film" zeigt das Kino Arsenal außerdem Arbeiten von Sumitra Peries, Astrid Henning-Jensen und Julia Solntsewa.